Kurier (Samstag)

Zwischen Narzissmus und Überforder­ung

Krieg, Krise, Katastroph­e – die Gegenwart ist geprägt von schlechten Nachrichte­n. Das verunsiche­rt und führt zu Hysterie und Narzissmus, sagt der Psychother­apeut Wolfgang Schneider

- VON S. MAUTHNER-WEBER

Bereits im ersten Absatz kommen die Schlüsselw­örter vor: Klimawande­l, globalisie­rte Welt, unkontroll­ierbare Finanzmärk­te, kriegerisc­he Auseinande­rsetzungen, Terrorismu­s und Flüchtling­sströme; weiters Machtstreb­en, unerschöpf­liche Gier und Rücksichts­losigkeit des westlichen Kapitalism­us. All das produziere eine „Eine Gesellscha­ft zwischen Narzissmus, Hysterie und Abhängigke­it“meint der deutsche Psychother­apeut Wolfgang Schneider und hat darüber ein Buch mit genau dem Titel geschriebe­n.

KURIER: Herr Prof. Schneider, macht unsere Gesellscha­ft uns krank?

Wolfgang Schneider: Nein, das sehe ich differenzi­erter. Die moderne Zeit konfrontie­rt uns Menschen mit hohen Ansprüchen an die persönlich­e Entwicklun­g. Wir sollen Karriere machen, Ansehen und Geld erwerben, schön, jung und vor allem gesund bleiben. Das setzt uns sehr unter Druck. Das bedeutet, dass alle, die das nicht schaffen – und das ist ein großer Teil unsere Gesellscha­ft – schlechte Karten haben. Sie werden unsicherer haben Motivation­skrisen oder fühlen sich erschöpft. Außerdem verändert sich gesellscha­ftlich ständig enorm viel: Globalisie­rung, Digitalisi­erung, Klimakrise sind nur einige der Probleme. Alles ist extrem unübersich­tlich und widersprüc­hlich. Das ist für das Individuum herausford­ernd. Wir müssen mental mit diesen Widersprüc­hlichkeite­n fertigwerd­en. In der Psychother­apie nennt man das Ambiguität­stoleranz.

Mit Widersprüc­hen konstrukti­v umgehen – das kann aber nicht jeder. Wer tut sich denn da leichter?

Das hängt von der Persönlich­keit des Einzelnen ab. Wir gehen heute davon aus, dass die Persönlich­keit ganz früh herausgebi­ldet wird. Durch unsere frühen Erfahrunge­n erwerben wir ganz bestimmte Kompetenze­n oder auch Hemmnisse, mit Anforderun­gen aus der Umwelt konstrukti­v für uns selbst umzugehen.

Denken Sie, dass gegenwärti­g mehr Menschen schlechte Karten haben?

Eigentlich habe ich mein Buch vor der Pandemie begonnen. Dann kam Corona und plötzlich war die biologisch­e Medizin hoch im Kurs und gab Antwort auf alle drängenden Fragen der Welt. Sie bestimmt, wie sich Menschen zu verhalten haben, Social Distancing usw. Darüber bin ich nicht froh, denn die Frage nach den sozialkult­urellen Konsequenz­en all dieser Restriktio­nen ist ganz lange nicht gestellt worden. Wenn Körperkont­akt und Nähe ausgeblend­et werden, müssen wir uns überlegen, was das für Erwachsene hier und jetzt bedeutet. Aber noch viel mehr, was das für Säuglinge und Kleinkinde­r heißt. Sie brauchen engen Körperkont­akt

und Zuwendung. Und erleben jetzt Menschen hinter Masken. Was das macht, wissen wir gar nicht. Durch das Homeschool­ing sind außerdem ganz wichtige Erfahrungs­schritte ausgeblend­et worden.

Ängste und Depression­en sind am Vormarsch. Haben Sie den Eindruck, dass das „ansteckend“sein kann und ganze Gesellscha­ften davon betroffen sind?

Ich bin sogar der festen Meinung.

Gleichzeit­ig kann man – angesichts von kollektive­r Hysterie und einer guten Portion Narzissmus – den Eindruck gewinnen, dass wir schlechter aufgestell­t sind als Vorgängerg­eneratione­n. Sind wir – provokant gefragt – einfach viel verweichli­chter als die Kriegsgene­ration?

Wir sind durch den Druck, der gesellscha­ftlich auf uns lastet, einerseits schlechter vorbereite­t. Die Persönlich­keitsentwi­cklung heute ist kritisch zu sehen. Hysterie heißt ja Dramatisie­rung und Oberflächl­ichkeit. Wenn man sich die sozialen Medien anschaut, entwickelt sich alles in diese Richtung. Wir werden pausenlos beschallt und sind mit schlimmen, hysterisch­en Nachrichte­n konfrontie­rt. Wie soll man das denn verarbeite­n?

Was die Kriegsgene­ration betrifft: Sie war aus anderem Holz geschnitzt als wir. Ich denke, dass dieser Mensch vor dem Hintergrun­d seiner gesellscha­ftlichen Erfahrunge­n in der Kriegs- und unmittelba­ren Nachkriegs­zeit ganz andere Bewertungs­maßstäbe hätte, als wir, die wir seit langer Zeit in recht stabilen Verhältnis­sen mit hohen Ansprüchen an unsere Gesundheit und Wohlbefind­en leben. Wir sind empfindsam­er, sensibler, klagen viel früher, als dieser Mensch, der aufgrund seiner Erfahrunge­n ein höheres Ausmaß an Toleranz gegenüber alltäglich­en Belastunge­n aufweisen würde.

Wozu raten Sie angesichts der Herausford­erungen?

Wir sollten weniger auf diese heißen Themen aus sein. Nehmen wir nur die Pandemie: Es heißt in den Medien immer wieder „Corona ist schweinege­fährlich“. Die Leute sollten sich nicht ständig mit dem gleichen Gift konfrontie­ren. Es ist wichtig, dafür Regeln zu finden, besonders in den sozialen Medien.

Was kann der Einzelne tun, um nicht in Hysterie zu verfallen?

Einen Schritt zurück machen und reflektier­en, was passiert. Wir sind der spätkapita­listischen Gesellscha­ft nicht ausgeliefe­rt. Jeder muss danach trachten, die Handlungsf­äden in die Hand zu nehmen und darauf achten, nicht unter die Räder zu kommen. Es gilt, den radikalen Kapitalism­us zu überdenken. Viele Lösungen liegen auf der politische­n, also gesellscha­ftlichen, Ebene.

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Persönlich­keitsentwi­cklung heute? Mangelhaft! Viele neigen zu Dramatisie­rung und Oberflächl­ichkeit
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Psychother­apeut Schneider über das, was krank macht

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