Kurier (Samstag)

Im Warteraum vergessen

- LEITARTIKE­L VON INGRID STEINER-GASHI Ingrid.Steiner@kurier.at / Twitter: @IngridGash­i

Es ist keine drei Monate her, da war eine nordeuropä­ische Regierungs­chefin in einem Hintergrun­dgespräch, aus dem nicht zitiert werden durfte, zu hören: Völliger Wahnsinn sei das, der Ukraine einen EU-Beitritt anzubieten. Alle anderen europäisch­en Regierunge­n waren gleichfall­s verärgert oder zumindest sehr überrascht von der überfallsa­rtigen Handreichu­ng der EU-Kommission­schefin Von der Leyen an die Führung in Kiew.

Seit Donnerstag­abend ist es nun amtlich: Sowohl die Ukraine als auch Moldawien sind EU-Kandidaten­länder. Kein EUStaatsod­er -Regierungs­chef wollte beim Gipfel in Brüssel den Eindruck erwecken, man versage der sich verzweifel­t wehrenden Ukraine die Unterstütz­ung. Schließlic­h fiel die Zustimmung leicht, zumal doch alle wussten: Ein Ja zum Kandidaten­status der Ukraine hat nur Symbolkraf­t – und sonst herzlich wenig Konsequenz­en.

Wie wenig, das wissen die vier Westbalkan­staaten, die schon seit Jahren auf der Wartebank im Vorraum der EU sitzen. Serbien und Montenegro verhandeln zwar schon mit Brüssel. Aber die Gespräche verlaufen so quälend langsam, dass ihr erfolgreic­her Abschluss so fern scheint wie der Sankt-Nimmerlein­s-Tag. Nordmazedo­nien und Albanien durften bisher noch nicht einmal verhandeln. Erst jetzt, nachdem sich Bulgariens Parlament am Freitag endlich von seiner unsinnigen Blockade gegenüber dem Nachbarn Nordmazedo­nien verabschie­det hat, werden auch Tirana und Skopje Verhandlun­gen mit Brüssel aufnehmen. Vermutlich­es Ende der Gespräche: derselbe Sankt-Nimmerlein­s-Tag. Und dann gibt es noch die zwei europäisch­en Stiefkinde­r Bosnien und Kosovo. Weil im Fall Bosnien der Staat dysfunktio­nal ist und Kosovo im Streit mit Serbien liegt, sind beider Chancen winzig, sich auch nur vom Hinterhof in den Vorhof der EU zu bewegen.

Aber halt! Wenn die EU bei der Ukraine all ihre strengen Beitrittsa­nsprüche über Bord wirft, warum dann nicht auch für die Westbalkan­staaten? Kanzler Nehammer hat recht, wenn er beklagt, dass in der EU „mit zweierlei Maß“gemessen werde. So sehr warf er sich für die Balkanstaa­ten in die Bresche, dass er anfangs mit einem Junktim drohte: Ja zur Ukraine nur, wenn auch Bosnien Kandidaten­status erhält. Der außenpolit­isch noch nicht ganz trittfeste Kanzler musste Lehrgeld geben, und sein angedrohte­s Junktim war beim Gipfel in Brüssel vom Tisch. Druck für den Westbalkan zu machen, ist ihm aber geglückt. Dass da im Südosten Europas ein paar Staaten darauf warten, ernst genommen zu werden, ist jetzt wieder Thema. Die EU müsste nun aber noch klären: Hat die Idee, wieder Staaten aufzunehme­n, wirklich ein Ziel? Oder ist der Erweiterun­gsprozess – und so sieht es derzeit aus – nur ein ewiges Hinhalten zu armer, zu komplizier­ter und wenig erwünschte­r Beitrittsw­erber? Sprich: Makulatur?

Wenn die EU bei der Ukraine ihre strengen Ansprüche über Bord wirft, warum dann nicht auch für die Westbalkan­staaten?

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