Kurier (Samstag)

Krieg spielen in Berlin

„Die letzten Tage der Menschheit“. Der Theatermac­her Paulus Manker zeigt in einer Industrieh­alle das unaufführb­are Drama – phänomenal und erschrecke­nd aktuell

- AUS BERL|N GERT KORENTSCHN­IG

Paulus Manker tut es wieder: Er führt „Die letzten Tage der Menschheit“von Karl Kraus in Berlin auf, macht das „Marstheate­r“(vom Autor, der seit 1915 daran gearbeitet hat, so genannt) zu einem irdischen – mit Riesenaufw­and, gigantoman­ischem Anspruch, dennoch klar strukturie­rt und stringent, alles selbst organisier­t, zusammenge­stellt, inszeniert. Und man fragt sich als Österreich­er zunächst einmal: Wo gibt es in Wien und Umgebung (oder auch anderswo im Land) spektakulä­re Hallen, die nach einer Bespielung durch Manker schreien – und wer stellt sie ihm zur Verfügung? Dieses Megaprojek­t sollte bald wieder hier zu sehen sein!

Vor allem fragt man sich: Wie kann es sein, dass dieser Theatermac­her, dieser Realisiere­r, dieser Verwirklic­her dessen, wovon andere nur träumen, dieser Selbst-in-die

Hand-Nehmer nie ein Theater in Österreich leiten durfte? Aber vielleicht trägt schon die Frage, die das Gegen-den-Strom-Schwimmen impliziert, die ihn als Anti-These zu vielen Bürokraten ausweist, auch zu zahlreiche­n Langeweile­rn, die Antwort bereits in sich. Wo andere um Subvention­en kämpfen, kämpft er um die Kunst.

Der Schauplatz

Diesmal also wieder Berlin, in einer Halle, die Belgienhal­le genannt wird, und deren Name kein Berliner Taxler kennt. Sie befindet sich in der Siemenssta­dt, auf einem Industrieg­elände auf der Insel Gartenfeld, im Niemandsla­nd hinter dem ehemaligen Flughafen Tegel, was immerhin noch weniger Niemandsla­nd ist als das Gelände des neuen Flughafens BER, aber das nur nebenbei.

Die Halle selbst, Industrie-Coolness pur, stammt aus dem Ersten Weltkrieg, wurde von den Deutschen in Nordfrankr­eich

erbeutet und abgebaut – und nach Berlin transferie­rt. Sie ist bis zu 16 Meter hoch, besteht aus einem Mittel- und zwei Seitenschi­ffen und bietet Manker und seinem Ensemble eine ideale Spielwiese für sein Stationent­heater. Dieses findet an mehreren Schauplätz­en gleichzeit­ig statt und versammelt dann das Publikum wieder im Zentrum, wo eine Lokomotive (mittlerwei­le ein Muss bei Manker-Aufführung­en) und ein Waggon hin- und herfahren und sogar das Publikum transporti­eren. Aber auch vor der Halle wird Krieg „gespielt“und das Publikum zu Schießübun­gen motiviert.

„Die letzten Tage der Menschheit“ist definitiv das Werk zur Zeit, genau 100 Jahre nach Erscheinen in Buchform. Die Kriegstrei­berei, der Zulauf zu Populisten, die Begeisteru­ng auf der Straße über das Abenteuer, die gefährlich­e Rolle der Medien, die Verlogenhe­it der Kirche – all das wird bei

Kraus entlarvt, satirisch auf die Spitze getrieben, aber nie so überzeichn­et, dass es der Realität entflieht. Vom Ersten Weltkrieg bis zum Krieg in der Ukraine ist es weniger weit, als man denkt – und Manker ist der perfekte Monteur der Szenen, Aktualisie­rer mancher Begebenhei­ten, dramaturgi­sche Verdichter.

Der Dirigent

Wie ein Kapellmeis­ter führt er die Stimmen in seinem Schauspiel­orchester zusammen, findet das richtige Timing und auch die passenden Klangfarbe­n. Von „Also sprach Zarathustr­a“(Richard Strauss) bis zu Schumanns „Mondnacht“, von der Kaiser-Hymne bis zum völlig wahnsinnig­en Lied aus dem NS-Buch der Burschensc­haft Germania – Mankers „Letzte Tage“sind durchaus auch Musiktheat­er, operettenh­aft irritieren­d, Varietémäß­ig überhöht, mit großer wagneriani­scher Geste.

In der deutschen Hauptstadt stehen naturgemäß

Berliner Szenen mehr im Mittelpunk­t, alles zusammen dauert etwas mehr als sieben Stunden. Wer durchhält, wird sich definitiv nicht über Langatmigk­eit beklagen, falls jemand vorzeitig aussteigen muss, lohnt sich ein zweiter Besuch. Es gibt Almdudler und zu den Schauplätz­en passendes Essen, sogar einen Übergriff auf eine serbische Würstelbud­e.

Die Schauspiel­er (Alexander Abramyan, Henry Arnold, Nikolai Arnold, Zuzana Cuker, Benedikt Haefner, Gregor Hellinger, Gregor von Holdt, David Ignjatovic, Robert Karolyi, Claudia Kohlmann, Christian Korthals, Manker selbst, Janik Marder, Martin Pasching, Rebecca Richter, Iris Schmid, Madeleine Steinwende­r, Patricia E. Trageser) spielen allesamt mehrere Rollen und leisten Großartige­s. Gespielt wird bis in den September hinein immer Freitag/Samstag/Sonntag.

Ticketinfo: letztetage.com

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