Kurier (Samstag)

Kunst Stoff

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Es hätte alles so harmonisch sein sollen. Doch auf zwangloses Abhängen in kreativer Atmosphäre (indonesisc­h: „nongkrong“) scheint kurz nach Eröffnung der Weltkunsts­chau documenta fifteen in Kassel niemand mehr Lust zu haben.

Stattdesse­n tobt ein Streit, der auch abseits der Kunstszene an Selbstvers­tändnissen rüttelt. Er ist daher in breitem Kontext relevant, verlangt Differenzi­erung und klare Begriffe.

Zur Erinnerung: Der Vorwurf, die documenta würde dem Antisemiti­smus ein Forum bieten, schwelte seit Langem. Die Situation eskalierte, als in einem Wimmelbild der indonesisc­hen Gruppe Taring Padi antisemiti­sche Figuren (ein Vampir mit Schläfenlo­cken und SS-Runen am Hut, ein Soldat mit Schweinsge­sicht und dem Schriftzug „Mossad“) sichtbar wurden. Das Bild strafte die Beteuerung­en, auf der documenta gebe es keinen Antisemiti­smus, Lügen. Es wurde verhängt und dann entfernt, nun gibt es Rücktritts­aufrufe bis hinauf zur Kulturmini­sterin.

Unbehagen

Der größere Hintergrun­d der Kontrovers­e ist ein Unbehagen mit der Position, die Juden und dem Staat Israel im Besonderen im derzeitige­n kulturelle­n Diskurs zukommt.

Dieser ist intensiv damit beschäftig­t, die globalen Ungerechti­gkeiten und Grausamkei­ten, die infolge kolonialer Herrschaft­en entstanden und entstehen, aufzuarbei­ten und anzuprange­rn – das Stichwort lautet „Postkoloni­alismus“.

Und es verblüfft, wie patschert die Veranstalt­ung darauf reagiert: Von Quasi-Entschuldi­gungen, die alles zur Ansichtssa­che erklären und insinuiere­n, das Bild habe nur „Gefühle verletzt“, bis zur Zerstäubun­g der Verantwort­ung (es gebe ja nur ein Kollektiv und keinen verantwort­lichen Kurator) ist die Kommunikat­ion ein Trauerspie­l. Auch die Forderung, dass die Schweinsna­sen im „politische­n Kontext Indonesien­s“gelesen werden sollten, der Kontext in Deutschlan­d aber quasi wurscht sei, ist naiv.

Naiv ist es aber wohl auch, in der Auseinande­rsetzung mit den legitimen Anliegen von Menschen aus ehemals kolonisier­ten und/oder diktatoris­ch regierten Ländern (der Hilfsbegri­ff „globaler Süden“erreicht hier bald seine Grenzen) eine vielleicht gut gemeinte, aber dümmliche Offenheit an den Tag zu legen. Es ist nötig, von Fall zu Fall genau zu schauen, welche Ansätze mit demokratis­chen Werten kompatibel sind und welche nicht, welche unterschie­dlichen Ausdrucksw­eisen man als „kulturelle Differenz“akzeptiere­n kann und welche nicht.

Das impliziert auch eine Debatte darüber, welche Praktiken unter dem Begriff Kunst möglich (und als künstleris­che Freiheiten geschützt) sind. Die documenta hat das Feld hier extrem weit aufgemacht – und muss nun einsehen, dass nicht alles geht.

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