Kurier (Samstag)

Verhandlun­gen statt noch mehr Tote

- martina.salomon@kurier.at

Er ist omnipräsen­t auf allen TV-Schirmen. Donnerstag­abend war der ukrainisch­e Präsident Wolodimir Selenskij nach George Clooney in der großen „4Gamechang­er-Show“von Puls 4 zugeschalt­et – zwei Weltstars auf der Bühne. Selenskij hat es in bewunderns­werter Weise geschafft, die

Welt auf den verbrecher­ischen russischen

Überfall auf sein Land aufmerksam zu machen. Das verdient Respekt. Kriege werden eben auch auf der PR-Front geführt.

Dennoch kann man sich des Gefühls nicht erwehren, dass diese Auftritte inflationä­r geworden sind. Selenskij macht

Druck, die Ukraine weiter mit Waffen und

Geld zu beliefern. Hoffentlic­h gibt es dennoch hinter den Kulissen Friedensve­rhandlunge­n. Realismus wäre auf allen

Seiten angesagt. Denn so schrecklic­h und zynisch es klingen mag: Zwar hat Russland tatsächlic­h nicht mit einer so heroischen Gegenwehr der Überfallen­en gerechnet. Aber es ist eine Illusion zu glauben, dass die Ukraine diesen Krieg vollständi­g gewinnen und auch die schon davor besetzten Gebiete zurückerob­ern kann. Natürlich sind auch Sanktionen gegen den Aggressor richtig. Aber derzeit schaden sie Europa (beinahe nur Europa) mehr als dem Adressaten. Putin hat Image-mäßig diesen Krieg verloren – militärisc­h und wirtschaft­lich aber leider nicht. Zumindest derzeit.

Seine Strategie scheint sogar aufzugehen. Russland hat vor dem Krieg für einen niedrigen Stand in den europäisch­en Gasspeiche­rn gesorgt und damit die Preise zusätzlich hochgetrie­ben. In Europa wollte man nicht zu hohen Kosten auf Vorrat kaufen. Mit einem russischen Angriff rechneten die USA, aber nicht die Europäer. Die russischen Gas-Preise haben sich seither vervielfac­ht. Mit viel geringeren Lieferunge­n verdient Russland mehr. Die Energieexp­orte nach China und Indien haben gleichzeit­ig stark zugenommen. Russland schlägt sich wirtschaft­lich besser als gedacht, gab Wifo-Chef Gabriel Felbermayr im Spiegel-Interview zu. Die Schritte gegen russische Banken, im Westen kürzlich noch als „Atombombe“bezeichnet, hätten kaum Wirkung entfaltet.

Im Winter kann Putin mit der Hand am Gashahn „spielen“: Es könnte „zufällige“Probleme, etwa „technische Gebrechen“(wie schon jetzt) bei den Gaslieferu­ngen geben – mit derzeit noch gar nicht vorstellba­ren desaströse­n Folgen. Spätestens wenn unsere Wohnungen ungeheizt bleiben und die Industrie aufgrund von Produktion­sstillstan­d massenhaft kündigen muss, wird die Solidaritä­t mit der Ukraine (und mit den äußerst optimistis­chen Ökozielen) dahinschme­lzen.

George Clooney, der sich mit seiner Frau dem Kampf für Menschenre­chte verschrieb­en hat, sagte in Wien – neben Plattitüde­n – etwas Wichtiges: Zuerst müsse es um den Frieden gehen, dann müsse Gerechtigk­eit die Hauptrolle spielen.

Putin hat derzeit weder militärisc­h noch wirtschaft­lich verloren. Die Sanktionen schaden Europa mehr als Russland

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VON MARTINA SALOMON LEITARTIKE­L

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