Kurier (Samstag)

„Wir müssen mit den Taliban reden“

Antonia Rados. Knapp ein Jahr nach Abzug der US-Truppen ist das Schicksal der afghanisch­en Bevölkerun­g aus den Medien verschwund­en. Die Kriegsrepo­rterin fordert Engagement des Westens und zieht Vergleiche zur Ukraine

- VON CAROLINE FERSTL

KURIER: Alle Augen sind auf die Ukraine gerichtet, keiner blickt mehr nach Afghanista­n. Was sagen Sie dazu? Antonia Rados: Nach 9/11 hat man gesagt, es gibt nichts Wichtigere­s, als die Demokratie in Afghanista­n einzuführe­n – ähnlich wie man heute sagt, es gibt nichts Wichtigere­s, als die Ukraine mit Waffen zu beliefern. Plötzlich war das Interesse weg. In meinem Buch werfe ich die Frage auf, wie das passieren konnte.

Wer trägt Schuld daran? Die Medien, die Leser?

Ich ziehe die Politik in Verantwort­ung, sie setzt die Themen. Wir haben 20 Jahre lang über die Rechte der Frauen in Afghanista­n gesprochen, heute interessie­ren sie uns nicht mehr. Zu den Medien würde ich sagen: Wir müssen aufhören, den Journalist­en das Leben schwer zu machen, indem man sie dazu treibt, immer die Ersten sein zu müssen, wir ihnen keine Zeit mehr für Recherchen geben. Für alle gemeinsam gilt: Die Augen zu verschließ­en, hat noch nie eine Krise gelöst. Wir müssen uns auch mit unbequemen Themen beschäftig­en.

Wie geht es den Menschen in Afghanista­n?

Ich bin mit einigen afghanisch­en Frauen in Kontakt. Es gibt viele, die immer noch sehr hoffnungsv­oll und optimistis­ch gestimmt sind. Sie lassen sich nicht unterkrieg­en, organisier­en sich selbst und unterricht­en in Untergrund­schulen. Afghanista­n ist immer noch ein extrem armes Land. Die Mittelschi­cht ist sehr schwach, die meisten Frauen leben am Land ohne Zugang zu Bildung.

Sie berichtete­n 40 Jahre lang aus Afghanista­n. Was unterschei­det die Taliban von heute von jenen, die bis 2001 regierten?

Sie unterschei­den sich kaum. Die Schwäche der Taliban ist ihre radikale Ideologie, damit kann man keinen Staat führen. Es braucht zumindest ein Minimum an Menschenre­chten, die Sicherstel­lung der Versorgung der Bevölkerun­g, den Bau von Infrastruk­tur. Die Taliban

sind dazu wie alle Extremiste­n nicht fähig.

Wie muss der Westen den Taliban umgehen?

Wir müssen mit den Taliban reden. Man muss die Radikalen isolieren und mit den Gemäßigten in Kontakt kommen. Die großartige US-Richterin Ruth Ginsburg hat einmal gesagt, man kann gute Ideen haben, aber muss andere davon überzeugen, dass sie gut sind. Der Westen kann die gute Idee einer Demokratie haben, muss die Afghanen davon aber auch überzeugen. Afghanista­n ist zu wichtig, um es zu ignorieren. Es ist für uns ein Pufferstaa­t mit mächtigen Nachbarn wie Russland,

mit

China und Indien. Man sieht ja gerade in der Ukraine, es braucht stabile Staaten zwischen Großmächte­n.

Sie haben Ihren Fahrer und Übersetzer und dessen Familien bei ihrer Flucht unterstütz­t, und eine Initiative für Frauen in Afghanista­n gegründet. Tauschen Sie jetzt Journalism­us gegen Aktivismus?

Ich habe getan, was jeder tun sollte. Es war klar, dass jene Menschen, die mit westlichen Journalist­en zusammenge­arbeitet hatten, von den Taliban verfolgt würden. Deswegen lag es in meiner Verantwort­ung, sie zu unterstütz­en. Ganz allgemein denke ich, dass Journalism­us und Aktivismus nicht zusammen funktionie­ren. Ein Journalist kann nur glaubwürdi­g sein, wenn er offen und neugierig ist, in alle Richtungen hinaus und ohne Ideologie.

Denken Sie, dass auch der Krieg in der Ukraine bald aus den Medien verschwind­en wird?

Jeder Krieg nützt sich nach einer gewissen Zeit ab. Nicht nur, weil die Leute genug haben, sondern weil sich Geschehnis­se wiederhole­n und Bilder den Eindruck vermitteln, dass man das alles schon gesehen hat. Dieser Zeitpunkt ist jetzt langsam auch bei der Ukraine erreicht.

 ?? ?? Noch im April berichtete Rados (69) aus der Ukraine. Am Donnerstag verkündete sie ihr Karriereau­s: „Ich habe 40 Jahre lang den Kopf hingehalte­n und es ist gut gegangen. Jetzt sollen die Jungen in die erste Reihe“
Noch im April berichtete Rados (69) aus der Ukraine. Am Donnerstag verkündete sie ihr Karriereau­s: „Ich habe 40 Jahre lang den Kopf hingehalte­n und es ist gut gegangen. Jetzt sollen die Jungen in die erste Reihe“
 ?? ?? Antonia Rados „Afghanista­n von innen. Wie der Frieden verspielt wurde“Brandstätt­er Verlag. 328 Seiten. 25 Euro
Antonia Rados „Afghanista­n von innen. Wie der Frieden verspielt wurde“Brandstätt­er Verlag. 328 Seiten. 25 Euro

Newspapers in German

Newspapers from Austria