„Wir müssen mit den Taliban reden“
Antonia Rados. Knapp ein Jahr nach Abzug der US-Truppen ist das Schicksal der afghanischen Bevölkerung aus den Medien verschwunden. Die Kriegsreporterin fordert Engagement des Westens und zieht Vergleiche zur Ukraine
KURIER: Alle Augen sind auf die Ukraine gerichtet, keiner blickt mehr nach Afghanistan. Was sagen Sie dazu? Antonia Rados: Nach 9/11 hat man gesagt, es gibt nichts Wichtigeres, als die Demokratie in Afghanistan einzuführen – ähnlich wie man heute sagt, es gibt nichts Wichtigeres, als die Ukraine mit Waffen zu beliefern. Plötzlich war das Interesse weg. In meinem Buch werfe ich die Frage auf, wie das passieren konnte.
Wer trägt Schuld daran? Die Medien, die Leser?
Ich ziehe die Politik in Verantwortung, sie setzt die Themen. Wir haben 20 Jahre lang über die Rechte der Frauen in Afghanistan gesprochen, heute interessieren sie uns nicht mehr. Zu den Medien würde ich sagen: Wir müssen aufhören, den Journalisten das Leben schwer zu machen, indem man sie dazu treibt, immer die Ersten sein zu müssen, wir ihnen keine Zeit mehr für Recherchen geben. Für alle gemeinsam gilt: Die Augen zu verschließen, hat noch nie eine Krise gelöst. Wir müssen uns auch mit unbequemen Themen beschäftigen.
Wie geht es den Menschen in Afghanistan?
Ich bin mit einigen afghanischen Frauen in Kontakt. Es gibt viele, die immer noch sehr hoffnungsvoll und optimistisch gestimmt sind. Sie lassen sich nicht unterkriegen, organisieren sich selbst und unterrichten in Untergrundschulen. Afghanistan ist immer noch ein extrem armes Land. Die Mittelschicht ist sehr schwach, die meisten Frauen leben am Land ohne Zugang zu Bildung.
Sie berichteten 40 Jahre lang aus Afghanistan. Was unterscheidet die Taliban von heute von jenen, die bis 2001 regierten?
Sie unterscheiden sich kaum. Die Schwäche der Taliban ist ihre radikale Ideologie, damit kann man keinen Staat führen. Es braucht zumindest ein Minimum an Menschenrechten, die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung, den Bau von Infrastruktur. Die Taliban
sind dazu wie alle Extremisten nicht fähig.
Wie muss der Westen den Taliban umgehen?
Wir müssen mit den Taliban reden. Man muss die Radikalen isolieren und mit den Gemäßigten in Kontakt kommen. Die großartige US-Richterin Ruth Ginsburg hat einmal gesagt, man kann gute Ideen haben, aber muss andere davon überzeugen, dass sie gut sind. Der Westen kann die gute Idee einer Demokratie haben, muss die Afghanen davon aber auch überzeugen. Afghanistan ist zu wichtig, um es zu ignorieren. Es ist für uns ein Pufferstaat mit mächtigen Nachbarn wie Russland,
mit
China und Indien. Man sieht ja gerade in der Ukraine, es braucht stabile Staaten zwischen Großmächten.
Sie haben Ihren Fahrer und Übersetzer und dessen Familien bei ihrer Flucht unterstützt, und eine Initiative für Frauen in Afghanistan gegründet. Tauschen Sie jetzt Journalismus gegen Aktivismus?
Ich habe getan, was jeder tun sollte. Es war klar, dass jene Menschen, die mit westlichen Journalisten zusammengearbeitet hatten, von den Taliban verfolgt würden. Deswegen lag es in meiner Verantwortung, sie zu unterstützen. Ganz allgemein denke ich, dass Journalismus und Aktivismus nicht zusammen funktionieren. Ein Journalist kann nur glaubwürdig sein, wenn er offen und neugierig ist, in alle Richtungen hinaus und ohne Ideologie.
Denken Sie, dass auch der Krieg in der Ukraine bald aus den Medien verschwinden wird?
Jeder Krieg nützt sich nach einer gewissen Zeit ab. Nicht nur, weil die Leute genug haben, sondern weil sich Geschehnisse wiederholen und Bilder den Eindruck vermitteln, dass man das alles schon gesehen hat. Dieser Zeitpunkt ist jetzt langsam auch bei der Ukraine erreicht.