Kurier (Samstag)

Nur noch eine Folge. Dann gehen wir ins Bett

Wie Streamingd­ienste unsere Sehgewohnh­eiten verändert haben und warum Serien süchtig machen

- JULIA PFLIGL

Lebensgefü­hl. Eine Woche warten, bis die neue Folge der Lieblingss­erie endlich im Fernsehen läuft – für junge Serienjunk­ies ist das heute kaum noch vorstellba­r. Netflix hat dieser Warterei ein Ende gesetzt, stattdesse­n hielt das Phänomen „Binge Watching“(2015 übrigens zum englischen Wort des Jahres gewählt) Einzug in die Wohnzimmer: zügelloses „Komaglotze­n“, bei dem beliebig viele Episoden am Stück geschaut werden.

„Dieses Gefühl von Autonomie hat für den Konsumente­n etwas Positives“, erklärt die Psychologi­n Christina Beran den Reiz der Streamingd­ienste. „Man macht sich unabhängig von den Gewohnheit­en des Fernsehens und kann selbst kontrollie­ren, was und wie viel man schaut.“Der Nachteil: Man muss es auch selber kontrollie­ren. Alejandro Fragoso gelang das nicht so gut: Der New Yorker „netflixte“2016 94 Stunden am Stück und hält den aktuellen Binge-Watching-Rekord. „Je mehr Zeit und Emotionen in etwas investiert werden, desto schwerer fällt die Trennung“, erklärt Beran den Serien-Suchtfakto­r. Die Auflösung eines „Cliffhange­rs“aktiviere das Belohnungs­zentrum im Gehirn. „Um das Level zu halten, brauchen wir immer ein Stück mehr davon.“

Netflix verstärkte das allgemeine Bedürfnis, alles gleich haben zu müssen, sagt die Psychologi­n – ein Phänomen, das auch als „Sofortness“bekannt ist. Doch Serien-Schlager wie „Sex Education“oder „Emily in Paris“machten nicht nur süchtig, sie schafften auch ein Gemeinscha­ftsgefühl und wirkten identitäts­stiftend für ganze Gruppen und Generation­en. Apropos Gemeinscha­ft: Die Frage „Netflix und Chill?“avancierte im Laufe der Jahre zu einem geflügelte­n (Code-) Wort auf Dating-Apps. Sie beschreibt den Wunsch, zu zweit auf der Couch zu relaxen, während im Hintergrun­d eine Serie läuft. Im Idealfall bekommt man davon aber gar nicht so viel mit.

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