„Winnetou kennt bei uns kein Mensch“
Warum in Kanada zwar keiner Marl May kennt, er indirekt aber den Interessen autochthoner Nordamerikaner helfen kann. Autor Michel Jean im Interview
Man sagte ihnen, ihre Eltern seien Wilde. Man verbot ihnen ihre Sprache. Sie wurden ihren Familien entrissen, von ihrer Kultur abgeschnitten und einer Gehirnwäsche unterzogen. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurden junge Autochthone von der kanadischen Regierung in sogenannte Lehranstalten geschickt, mit dem Ziel, sie zu assimilieren.
Die letzte dieser Internatsschulen wurde 1996 in Saskatchewan geschlossen. 2021 wurden Überreste von Leichen Tausender indigener Kinder in Massengräbern in der Nähe ehemaliger Umerziehungsinternate gefunden. Wer die Misshandlungen überlebte, war für den Rest des Lebens gezeichnet. Heute leben Tausende von ihnen obdachlos auf den Straßen kanadischer Großstädte. In Saskatchewan sind 15 Prozent der Bevölkerung Autochthone – sie machen fünfzig Prozent der Gefängnisinsassen aus.
Der frankokanadische Autor und Journalist Michel Jean ist selbst Innu (nordamerikanischer Ureinin wohner) und widmet sich seinen Romanen diesem finstersten Kapitel Kanadas. Dass der Papst im Juli angereist ist, um sich im Namen der katholischen Kirche zu entschuldigen, fand großen Anklang bei den Autochthonen, sagt Michel Jean im Gespräch mit dem KURIER.
„Es ist gut, dass er gekommen ist. Aber das kann nicht alles sein. Es ist eine erste Etappe. Bei uns Autochthonen sagt man, es wird sieben Generationen dauern, um das zu verarbeiten. Das wesentliche Wort, um das es hier geht, ist das Wort Wahrheit. Bevor wir verzeihen und uns versöhnen, müssen wir uns darauf einigen, was die Wahrheit ist. Das ist noch nicht erledigt.“
Die Geschichte der Indigenen sei nach wie vor wenig präsent. „Die Bücher sprechen von der Geschichte Kanadas, die mit der Ankunft von Jacques Cartier 1535 beginnt. Von Autochthonen ist nie die Rede. Sie lernen nichts über ihre eigene Geschichte. Wie sind aber nicht in erster Linie Kanadier und Québecois (Frankokanadier), sondern Autochthone, die seit zehntausend Jahren im heutigen Kanada zu Hause sind. Das ist ein Grund, warum ich schreibe. Ich will, dass unsere Geschichte in Büchern steht.“Autochthone, Innus ebenso wie Inuit (früher sagte man Eskimos) hätten in der nordamerikanischen Öffentlichkeit kaum positive Präsenz. „Man spricht nur von uns, wenn es um Alkoholismus und hohe Selbstmordraten geht.“Michel Jeans Bücher sind Bestseller in Kanada. „Kukum“, das 2020 den prestigeträchtigen Prix littéraire France-Québec erhielt, berichtet vom Leben seiner Urgroßmutter in der Innu-Gemeinde, es wurde im Frühjahr auf Deutsch veröffentlicht. „Die Innu sind froh, dass endlich jemand ihre Geschichte erzählt. Ich kann sie auf eine gewisse Weise stolz machen.“
Am liebsten Cowboy sein
Auch abseits seiner Bücher setzt Jean Michel Zeichen. „Wenn ich eine Fernsehsendung beginne, dann sage ich immer auch den Innu-Gruß Kuei! Das ist eine kleine Geste, aber sie heißt viel. Es ist das einzige Wort, das Innu den ganzen Tag über im Fernsehen in ihrer Sprache hören. Man muss das verstehen: Wir Innu sind dermaßen nirgendwo, dass so etwas sehr wichtig ist.“
Die Klischees vom tapferen Indianer, die man bei uns dank Winnetou kennt, sind in Nordamerika unbekannt. „Winnetou kennt bei uns kein Mensch, von ihm habe ich nur in Deutschland gehört. Ich finde das nicht schlimm, das wurde eben zu einer bestimmten Zeit geschrieben. Heute würde man jemanden wie den Autor dieser Winnetou-Sache einen Indian-Lover nennen. Man darf die Maßstäbe von heute nicht an das anlegen, was vor hundert Jahren geschrieben wurde. Ehrlich gesagt hat das auch zur Folge, dass es im deutschen Sprachraum großes Interesse für unsere Anliegen gibt, das ist wichtig für uns. Wenn sich Leute von außerhalb für uns interessieren, hilft uns das, unsere Anliegen der kanadischen Regierung gegenüber durchzusetzen. Ohne euer Interesse wären wir allein.“
Bei aller Freude für das Interesse: Im Kinderfasching haben Indianerfedern nichts verloren. Jean sagt: „Unsere Traditionen sind kein Karnevalskostüm. Außerdem geht es immer auch noch um die Frage des Kolonialismus.“In Kanada habe sich ohnehin nie ein Kind als Indianer verkleiden wollen. „Alle wollten immer nur Cowboys sein.“
Michel Jean:
„Maikan“Wieser. 220 Seiten. 22 Euro
9,4* 9,3