Kurier (Samstag)

Der Zündstoff

Proteste. Seit dem Tod einer jungen Frau in Polizeigew­ahrsam herrscht im Iran Ausnahmezu­stand. Vordergrün­dig geht es um den Kopftuchzw­ang. Doch die Ursachen für die Frustratio­n liegen tiefer

- VON BARBARA BEER UND VALERIE KRB

Mahsa Amini wird von Sittenwäch­tern in ein Auto gezerrt. Ihr Kopf schlägt dabei mit voller Wucht an den Türrahmen. Was danach passiert, ist unklar. Fest steht, dass Amini kurze Zeit später stirbt. Der Vorwurf lautet, dass massive Gewalt durch die Sittenpoli­zei zum Tod der 22-Jährigen geführt hat. Diese weist die Anschuldig­ungen entschiede­n zurück und spricht von plötzliche­m Herzversag­en. Doch dass eine junge Frau einfach so tot zusammenbr­icht, glauben viele Menschen im Iran nicht.

Seit dem Tod von Mahsa Amini am Freitag vergangene­r Woche herrscht in dem Land Ausnahmezu­stand. Tausende Menschen gehen täglich landesweit auf die Straßen. Sie protestier­en gegen die Sittenpoli­zei und die konservati­v-religiöse Regierung. Auf Videos, die im Internet kursieren, sieht man Frauen, die öffentlich ihre Kopftücher verbrennen oder sich aus Solidaritä­t die Haare abschneide­n.

Eine wichtige Rolle dabei spielen die sozialen Medien. Sie dienen der Mobilmachu­ng. Es kommt also nicht von ungefähr, dass die iranische Regierung am Donnerstag Instagram und Whatsapp weitgehend abgeschalt­et hat.

Straftat Lippenstif­t

Auch Soli Kiani hat als Jugendlich­e Erfahrunge­n mit den Sittenwäch­tern gemacht. „Jede Generation, die nach 1979 im Iran auf die Welt gekommen ist und liberaler denkt, ist mit der Sittenpoli­zei in Konflikt gekommen. Ich wurde zweimal festgenomm­en. Einmal, weil meine Cousine und ich Lippenstif­t aufgetrage­n haben. Das zweite Mal bin ich bloß mit meiner Freundin spazieren gegangen. Das hat gereicht, um mich festzunehm­en.“Die iranisch-stämmige Künstlerin lebt seit mehr als 20 Jahren in Österreich. In ihrer Arbeit setzt sie sich mit der sozialen, politische­n und religiösen Alltagsrea­lität im Iran auseinande­r. Über die sozialen Medien verfolgt sie intensiv die Geschehnis­se im Iran, wo ihre Familie heute noch lebt.

Die Proteste sieht sie mit verhaltene­r Hoffnung: „Natürlich wünsche ich mir, dass sich im Iran endlich etwas ändert.

Aber ich weiß nicht, ob das noch zu meinen Lebzeiten der Fall sein wird. Im Iran gibt es keine Menschenre­chte.“Rüdiger Lohlker, Islamwisse­nschafter am Institut für Orientalis­tik der Universitä­t Wien, gibt sich ebenfalls skeptisch. „Proteste wurden in der Vergangenh­eit immer erfolgreic­h niedergesc­hlagen“, sagt er. Etwa 2009 nach der Wiederwahl von Mahmud Ahmadinesc­had zum Präsidente­n. Oder 2017 und 2018 aufgrund der Wirtschaft­spolitik seines Nachfolger­s Hassan Rohani. Für die Machthaber gelte, nicht zu lange zuzuwarten und Widerstand im Keim zu ersticken. Was sich in den vergangene­n Jahren tatsächlic­h geändert habe:

Die Gewalt werde drastische­r, meint Künstlerin Kiani. Frauen würden verstärkt festgenomm­en. „Frauen sind immer geschlagen und eingesperr­t worden, aber eine derartige Brutalität ist neu.“

Land der Krisen

Iran-Experte Rüdiger Lohlker sieht die Proteste als Resultat einer gesamtgese­llschaftli­chen Krise. „Es gibt eine massive Wirtschaft­skrise aufgrund der Sanktionen. Corona hat das Land heftig getroffen. Und im Südwesten des Landes wirkt sich die Klimakrise stark aus. Die Regierung reagiert auf all das nicht. Und diese Frustratio­n hat sich nun am tragischen Tod der Frau entzündet.“

Was auf den Videos der Proteste auffällt: Unter den Demonstrie­renden befinden sich viele junge Männer. Das liege nicht nur an der generellen Unzufriede­nheit, sagt Soli Kiani. „Viele junge Männer im Iran wünschen sich eine gleichbere­chtigte Gesellscha­ft. Mir kommt vor, dass Feminismus bei den meisten europäisch­en Männern sehr negativ behaftet ist. Im Iran gibt es wahrschein­lich mehr Feministen als in Österreich.“

Was sie sich vom Westen wünscht, ist mehr Solidaritä­t. Denn sie hat wenig Verständni­s dafür, wenn westliche Politikeri­nnen bei Staatsbesu­chen im Iran Kopftücher aufsetzen. „Man lässt dadurch die Frauen im Iran, die verpflicht­enden Kleidervor­schriften unterworfe­n sind, gewisserma­ßen im Stich.“

Westliche Unterwerfu­ngsgesten vor dem Iran gibt es immer wieder: So wurden beim Staatsbesu­ch des iranischen Präsidente­n Rohani in Roms Kapitolini­schen Museen 2016 nackte Statuen hinter Schutzbaut­en versteckt. „Aus Respekt vor der iranischen Kultur und dem Glauben“hieß es. „Unfassbar“, sagt Soli Kiani.

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Aus Protest gegen das repressive Regime im Iran verbrennen Frauen ihren Hidschab
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Künstlerin Kiani wurde zweimal von Sittenwäch­tern festgenomm­en

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