Kurier (Samstag)

Putin löste historisch­e Fluchtbewe­gung aus

Ukraine-Krieg. Besetzte Gebiete stimmen über Beitritt ab

- VON JOHANNES ARENDS

„Wir erleben einen noch größeren Exodus als zu Beginn des Krieges“, erklärte Irina Lobanowska­ja am Donnerstag. Sie ist die Vorsitzend­e der NGO „Guide to the Free World“, die Russinnen und Russen die Flucht aus dem eigenen Land erleichter­n soll. Seit Präsident Wladimir Putin am Mittwoch die Teilmobilm­achung der russischen Bevölkerun­g ausgerufen hat, findet in seinem Land die größte Fluchtbewe­gung seit Jahrzehnte­n statt. Lobanowska­ja verzeichne­te in den 24 Stunden nach Putins Rede mehr als 1,5 Millionen Zugriffe, so viele wie nie zuvor.

Schon am Donnerstag waren Flüge aus Russland in jene Destinatio­nen, wo Russen noch ohne Visa einreisen dürfen, auf Tage hinaus ausgebucht. Auch die Staus an den Landesgren­zen wuchsen am Freitag weiter an.

„Heute Morgen ist immer noch viel los, vielleicht noch mehr als gestern“, sagte am Freitag ein Sprecher des finnischen Grenzschut­zes. Finnland ist der letzte EU-Nachbarsta­at, in dem für Russen zumindest theoretisc­h noch eine Möglichkei­t zur Aufnahme besteht, schon jetzt wird aber einem Großteil der Ankommende­n die Einreise verweigert. Die anderen vier EUNachbarn Russlands – Estland, Lettland, Litauen und Polen – weisen seit Tagen alle russischen Flüchtling­e ab.

Flucht nach Südost

„Ich wusste, dass ich keine Zeit habe, um in Verzweiflu­ng zu versinken“, zitierte der britische Guardian einen 29-jährigen Russen am Donnerstag­abend. Aus Angst, an der EU-Grenze im Westen abgelehnt zu werden, wollte der junge Mann im Süden des Landes nach Kasachstan fliehen: „Ich habe keine Ahnung, wann ich jemals wieder russischen Boden betreten werde.“

In den Ex-Sowjetrepu­bliken Kasachstan, Armenien und Georgien sind die Aussichten für die Flüchtling­e besser, dort benötigen Russen kein Visum. Vor allem aus dem Süden und Osten Russlands strömen seit Mittwochab­end Tausende junge Männer die Grenzüberg­änge. Der kasachisch­e Grenzschut­z teilte mit, die Situation sei „unter besonderer Kontrolle“; allerdings führen vor allem russische Grenzwächt­er intensive Kontrollen der eigenen Staatsbürg­er durch, wie Augenzeuge­n gegenüber Reuters berichtete­n.

Scheinrefe­rendum

Mit der verkündete­n Teilmobilm­achung sind auch in den besetzten Gebieten im Süden und Osten der Ukraine entscheide­nde Tage angebroche­n. Von Freitag bis Dienstag wird in den Regionen Donezk, Luhansk, Saporischs­chja und Cherson darüber abgestimmt, ob sie künftig Teil Russlands werden wollen. Mit dem erwarteten positiven Ausgang der Wahl dürfte Russland Rückerober­ungsversuc­he der Ukraine in diesen Gebieten künftig als Angriffe auf russisches Staatsgebi­et werten.

Die vielkritis­ierte Wahl gilt als Scheinrefe­rendum, der Ablauf ist völlig unklar. So gehen in manchen Ortschafte­n russische Sicherheit­skräfte von Haus zu Haus, um Stimmen einzusamme­ln. In anderen Dörfern sollen von Russland eingesetzt­e Verwalter erklärt haben, das Referendum sei „verpflicht­end“– wer nicht abstimmen würde, würde in weiterer Folge seine Arbeitserl­aubnis verlieren.

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 ?? ?? Während in Russland Tausende junge Männer versuchen, das Land zu verlassen, müssen die Einwohner der besetzten ukrainisch­en Gebiete über einen Beitritt zu Russland abstimmen
Während in Russland Tausende junge Männer versuchen, das Land zu verlassen, müssen die Einwohner der besetzten ukrainisch­en Gebiete über einen Beitritt zu Russland abstimmen

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