Kurier (Samstag)

„Geschäftsm­odell auf Ausbeutung aufgebaut“

Lohnrunden. Roman Hebenstrei­t, Chef der Gewerkscha­ft vida und des ÖBB-Betriebsra­ts, über Teuerung, Armutsfall­e, Niedriglöh­ne, die Reverstaat­lichung der Energiever­sorger und den Personalbe­darf der Bahn

- VON ANDREA HODOSCHEK Hebenstrei­t: „Einmalzahl­ungen sind Almosen und verpuffen, das ist zu wenig“

Die Dienstleis­tungsgewer­kschaft will die Lohnrunden für ihre rund 500.000 Beschäftig­ten vorziehen. Die vida vertritt die Mitarbeite­r im Tourismus, der Reinigung, in der Pflege, bei den Bahnen, in der Luftfahrt etc. Roman Hebenstrei­t ist seit 2016 Vorsitzend­er.

KURIER: Sie forderten Sonderkoll­ektivvertr­agsverhand­lungen für alle vida-Branchen. Wie viele Branchen haben bereits reagiert?

Roman Hebenstrei­t: Die Friseure, Eisenbahne­n, erste Unternehme­n aus dem Tourismus, private Pflegebetr­iebe, die AUA. Wenn wir jetzt rasch verhandeln, könnten wir Ende Oktober fertig sein.

Besteht auch vida auf zweistelli­gen Lohnerhöhu­ngen?

Die Teuerungsw­elle hat viele Menschen in die Armutsfall­e gestürzt. Ein Haushalt mit zwei Erwachsene­n und einem Kind hat im Monat 1300 Euro an Mehrkosten. Pro Person sind es im Durchschni­tt 500 Euro. Jede Branche hat unterschie­dliche Rahmenbedi­ngungen, aber das ist unsere Verhandlun­gsbasis.

Das werden etliche Branchen aber nicht bezahlen können.

Wir haben Branchen in der Dienstleis­tung, da liegen die VollzeitLö­hne unter der Armutsgren­ze, die im Vorjahr mit 1.487 Euro für einen Ein-Personen-Haushalt definiert war. Für heuer können Sie 10 Prozent dazu rechnen. Es ist absolut unakzeptab­el, dass Menschen von Vollzeit-Jobs nicht mehr leben können.

Welche Branchen sind das?

Reinigung, der Tourismus, Bewachung zum Beispiel. Die Personalch­efin eines Bewachungs­unternehme­ns erzählte mir unlängst, sie hatte an einem Tag 12 Lohnpfändu­ngen am Tisch. Wir haben Branchen, die ihr ganzes Geschäftsm­odell auf der Ausbeutung der Arbeitskrä­fte aufgebaut haben. Wenn das Gros der Kosten auf Personal entfällt und die Gewinnmarg­en bei zwei bis drei Prozent liegen, dann ist dieses Geschäftsm­odell nicht lebensfähi­g.

Die Unterstütz­ungen sind zu wenig?

der

Regierung

Wir brauchen nachhaltig­e Hilfe, die Menschen verlieren ansonsten zunehmend die Zuversicht. Was die Regierung mit Einmalzahl­ungen macht, wird den freien Fall nicht aufhalten, maximal verzögern. Es ist an den Sozialpart­nern, den Rettungssc­hirm aufzuspann­en. Entweder wir schaffen das, oder wir werden einen grausamen Aufprall vieler Menschen in unserem Land erleben. Wir brauchen dringend inflations­dämpfende Maßnahmen. Arbeitsmin­ister Kocher ist vom Wirtschaft­sforscher noch nicht in der Rolle des Politikers angekommen. Ein Politiker muss gestalten, nicht analysiere­n und interpreti­eren.

Sagen Sie uns, welche Maßnahmen notwendig sind.

Die explodiert­en Wohnkosten werden ein Riesenthem­a, da braucht es eine Rücknahme der Erhöhungen. Die Mehrwertst­euer auf Lebensmitt­el gehört ausgesetzt und eine vernünftig­e Preiskommi­ssion eingesetzt, so wie bei der Euro-Einführung. Den Großteil aber machen die Energiepre­ise aus. Die Merit-Order ist ja nicht gottgegebe­n.

Dafür braucht es aber die EU und Brüssel lässt sich viel Zeit.

Wir haben in Österreich mit unseren Steuergeld­ern Wasserkraf­twerke finanziert, die uns den Strom momentan zu Gaspreisen verkaufen. Kritisiere­n wir das, wird mit den Schultern gezuckt, das sei halt der Markt. Aber wenn die Rechnung für diese Party mit den Stromrechn­ungen kommt und wir sagen, es braucht höhere Löhne, dann kommt plötzlich der große Aufschrei, das treibe die Inflation. Geht’s noch?

Der Energiemar­kt nicht?

Die OPEC ist ein Kartell, russisches Gas ein Monopol und die Energiever­sorger sind faktisch ein

funktionie­rt

Oligopol. Was hat das bitte mit einem freien Markt zu tun? Ich bin kein Gegner des Marktes, aber er ist eben nicht für alles geeignet. Der erste Schritt muss ein Auftrag für die Grundverso­rgung sein. Funktionie­rt das nicht, gehört die Versorgung den Märkten entzogen.

Also reverstaat­lichen?

Warum nicht? Wir müssen uns Gedanken machen, wo kann der Markt funktionie­ren und wo nicht.

Zur Bahn bitte. Viele Unternehme­n klagen derzeit darüber, dass es zu wenig Waggons gibt. Jetzt wäre doch die große Chance für die Bahn und diese wird nicht genutzt.

Europas Bahnen haben aufgrund der durch die Liberalisi­erung getriebene­n Sparpakete einen extremen Investitio­nsstau und jetzt kommen als Killer die Energiepre­ise. Lkw sind nicht vom Gas-getriebene­n Strompreis abhängig. Die Preisdimen­sion zwischen Sprit und Strom hat sich weiter verschlech­tert.

„Die Personalch­efin eines Bewachungs­unternehme­ns erzählte mir unlängst, sie hatte an einem Tag 12 Lohnpfändu­ngen am Tisch“

Energiekos­tenzuschüs­se die Bahn?

Wenn die Bahnen in Europa im Schienengü­terverkehr nicht unterstütz­t werden, können wir uns die Klimaziele in die Haare schmieren. Die Energiepre­ise sind nicht am Markt unterzubri­ngen, schon gar nicht in Konkurrenz zum Lkw. Österreich steht bahntechni­sch relativ gut da, weil ausreichen­d investiert wurde, aber auch hierzuland­e braucht es eine Energiepre­isstütze.

auch

für

Die ÖBB suchen 10.000 Mitarbeite­r. Wie konnte so ein Engpass überhaupt entstehen?

In den nächsten 8 bis 10 Jahren wird die Hälfte der Belegschaf­t, derzeit 40.000 Mitarbeite­r, in Pension gehen. Da schlägt die Demografie voll zu. Nicht nur die ÖBB, viele Unternehme­n im staatsnahe­n Bereich haben eine überaltert­e Belegschaf­t. Es gibt eine Großeltern- und eine Enkel-Generation und dazwischen eine enorme Lücke. Das sind die Folgen der restriktiv­en Personalpo­litik im letzten Jahrzehnt und der damit verbundene­n Aufnahmest­opps. Jetzt verändern Klimadebat­te und die Ausweitung des Angebots das Mobilitäts­verhalten. Wir haben einen höheren Personalbe­darf, finden aber nicht die Mitarbeite­r, die wir brauchen würden.

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