Krieg aus der Perspektive des Weglaufens
Desertion. In Russland gibt es einen regelrechten Exodus junger Männer, seit Präsident Putin die Teil-Mobilmachung bekannt gegeben hat. Kein Novum: Fahnenflucht hat es immer gegeben
Mitte des 18. Jahrhunderts – im Siebenjährigen Krieg – ging man vergleichsweise locker mit dem Problem um: „Es kam immer wieder vor, dass Leute desertierten“, berichtet der Militärhistoriker Manfried Rauchensteiner. „Die Seiten wurden aber weniger gewechselt, um dem Kriegsdienst zu entgehen, sondern weil die Gegenseite besser zahlte.“Was jetzt nach Augenzwinkern klingt, war in Wahrheit zu vielen Zeiten lebensgefährlich. „Das Problem der Fahnenflucht hat es immer gegeben“, weiß Rauchensteiner. Mit den Weltkriegen gewannen Desertionen dann an Bedeutung. „Die österreich-ungarischen Fahnenf lucht-Zahlen waren in den Kriegsjahren 1914 und 1915 an der russischen Grenze exemplarisch hoch. An der italienischen Front kam Fahnenflucht dagegen praktisch nicht vor. Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges haben die Diktaturen die
Desertion dann
Tod bestraft“.
Auch den Zehntausenden jungen russischen Männern, die aktuell der Heimat den Rücken gekehrt haben, drohen heftige Strafen. Und das hat in Russland eine lange Tradition: Der Historiker Dieter Bacher zitiert Befehl Nr. 270 vom 16. August 1941: „Auf Desertion steht die Todesstrafe. Wenn jemand seinen militärischen Posten verlässt, ist das eine Sache für das Standgericht. Im Laufe des Krieges wurde es dann noch härter für die Soldaten.“Auch wer sich gefangen nehmen ließ und zur Zwangsarbeit verpflichtet wurde, fiel unter Befehl 270. Der Wissenschafter vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung weiter: „Der russische Historiker Pavel Poljan nannte die Betroffenen ,Opfer zweier Diktaturen‘. Zuerst gerieten sie in dem einen System, dem der Nazis, in Kriegsgefangenschaft. In sofort mit dem der Heimat galten sie dann als Verräter, wurden lange von der Staatssicherheit drangsaliert oder kamen sogar in den Gulag.“
Militärhistoriker Rauchensteiner ergänzt: „Nach 1945 sind die russischen Kriegsgefangenen, die in die Heimat zurückkehrten, a priori als Deserteure behandelt worden. Auch wenn sie in einer aussichtslosen Situation in einer Art Massengefangennahme gar nicht anders konnten. Die offizielle Argumentation: Als Angehöriger der Roten Armee hast du zu kämpfen. Notfalls bis du tot bist.“
Aufarbeitung
In der offiziellen Kreml-Geschichtsschreibung komme das Thema nicht vor. „Die Aufarbeitung hat zwar vor gut 20 Jahren stattgefunden, aber gerade die jüngere Generation dürfte wenig davon wissen“, mutmaßt Bacher.
Auch beim Gegner, den Briten und Franzosen, gab es Fahnenflucht
– allerdings nur Einzelfälle. In den USA wurde im Zweiten Weltkrieg nur ein einziger Soldat wegen Desertion hingerichtet.
Die Motive für das Weglaufen sindseltenmonokausal.Historiker, die Gerichtsakten auswerteten, kommen zum Schluss, dass politische Opposition viel weniger oft ausschlaggebend ist, als man annehmen würde. Meist ist es Angst, oder wie der Wehrmachtsdeserteur Ludwig Baumann meinte: „Die Wahrheit ist: Ich wollte nicht töten. Und ich wollte leben.“
Im Laufe der Geschichte hatten Kriegsherren tatsächlich oft Einsehen mit jungen Burschen ohne Kriegserfahrung. „Die meisten hatten einfach Hosenflattern. In der Regel wurden sie nicht so exemplarisch bestraft. Wenn jemand aber immer wieder desertierte, war das natürlich etwas anderes“, erzählt Rauchensteiner und ist auf einen Fall gestoßen, „da ist jemand achtmal desertiert. Als er
GESCHICHTE
ZUM ANSCHAUEN
Samstag
abermals aufgegriffen Jeden wurde, hat im KURIER
man ihn tatsächlich aufgehängt.“
Seit im September mit der TeilMobilmachung der Krieg in der breiten russischen Öffentlichkeit angekommen ist, geht dort die Angst um. „Diese Form von Flucht hat es zu Beginn der Weltkriege nicht gegeben. Das sind völlig andere Verhältnisse“, kommentiert Rauchensteiner und fragt sich, „wie es den jungen Leuten ergehen wird, sollten sie versuchen, unter dem derzeitigen Regime wieder zurückzukehren“. Sie hätten, ob der schweren Strafen, nur zwei Möglichkeiten: „Sie bleiben im Ausland oder warten auf einen Umbruch in Russland, durch den sie pardoniert sind.“Und Historiker Bacher antwortet auf die Frage, ob diese Fluchtbewegung Einfluss auf die militärische Schlagkraft habe: „Ich kann es mir nicht vorstellen.“
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