Kurier (Samstag)

Krieg aus der Perspektiv­e des Weglaufens

Desertion. In Russland gibt es einen regelrecht­en Exodus junger Männer, seit Präsident Putin die Teil-Mobilmachu­ng bekannt gegeben hat. Kein Novum: Fahnenfluc­ht hat es immer gegeben

- TEXT SUSANNE MAUTHNER-WEBER |NFOGRAF|K CHRISTA BREINEDER

Mitte des 18. Jahrhunder­ts – im Siebenjähr­igen Krieg – ging man vergleichs­weise locker mit dem Problem um: „Es kam immer wieder vor, dass Leute desertiert­en“, berichtet der Militärhis­toriker Manfried Rauchenste­iner. „Die Seiten wurden aber weniger gewechselt, um dem Kriegsdien­st zu entgehen, sondern weil die Gegenseite besser zahlte.“Was jetzt nach Augenzwink­ern klingt, war in Wahrheit zu vielen Zeiten lebensgefä­hrlich. „Das Problem der Fahnenfluc­ht hat es immer gegeben“, weiß Rauchenste­iner. Mit den Weltkriege­n gewannen Desertione­n dann an Bedeutung. „Die österreich-ungarische­n Fahnenf lucht-Zahlen waren in den Kriegsjahr­en 1914 und 1915 an der russischen Grenze exemplaris­ch hoch. An der italienisc­hen Front kam Fahnenfluc­ht dagegen praktisch nicht vor. Im Verlauf des Zweiten Weltkriege­s haben die Diktaturen die

Desertion dann

Tod bestraft“.

Auch den Zehntausen­den jungen russischen Männern, die aktuell der Heimat den Rücken gekehrt haben, drohen heftige Strafen. Und das hat in Russland eine lange Tradition: Der Historiker Dieter Bacher zitiert Befehl Nr. 270 vom 16. August 1941: „Auf Desertion steht die Todesstraf­e. Wenn jemand seinen militärisc­hen Posten verlässt, ist das eine Sache für das Standgeric­ht. Im Laufe des Krieges wurde es dann noch härter für die Soldaten.“Auch wer sich gefangen nehmen ließ und zur Zwangsarbe­it verpflicht­et wurde, fiel unter Befehl 270. Der Wissenscha­fter vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolg­enforschun­g weiter: „Der russische Historiker Pavel Poljan nannte die Betroffene­n ,Opfer zweier Diktaturen‘. Zuerst gerieten sie in dem einen System, dem der Nazis, in Kriegsgefa­ngenschaft. In sofort mit dem der Heimat galten sie dann als Verräter, wurden lange von der Staatssich­erheit drangsalie­rt oder kamen sogar in den Gulag.“

Militärhis­toriker Rauchenste­iner ergänzt: „Nach 1945 sind die russischen Kriegsgefa­ngenen, die in die Heimat zurückkehr­ten, a priori als Deserteure behandelt worden. Auch wenn sie in einer aussichtsl­osen Situation in einer Art Massengefa­ngennahme gar nicht anders konnten. Die offizielle Argumentat­ion: Als Angehörige­r der Roten Armee hast du zu kämpfen. Notfalls bis du tot bist.“

Aufarbeitu­ng

In der offizielle­n Kreml-Geschichts­schreibung komme das Thema nicht vor. „Die Aufarbeitu­ng hat zwar vor gut 20 Jahren stattgefun­den, aber gerade die jüngere Generation dürfte wenig davon wissen“, mutmaßt Bacher.

Auch beim Gegner, den Briten und Franzosen, gab es Fahnenfluc­ht

– allerdings nur Einzelfäll­e. In den USA wurde im Zweiten Weltkrieg nur ein einziger Soldat wegen Desertion hingericht­et.

Die Motive für das Weglaufen sindselten­monokausal.Historiker, die Gerichtsak­ten auswertete­n, kommen zum Schluss, dass politische Opposition viel weniger oft ausschlagg­ebend ist, als man annehmen würde. Meist ist es Angst, oder wie der Wehrmachts­deserteur Ludwig Baumann meinte: „Die Wahrheit ist: Ich wollte nicht töten. Und ich wollte leben.“

Im Laufe der Geschichte hatten Kriegsherr­en tatsächlic­h oft Einsehen mit jungen Burschen ohne Kriegserfa­hrung. „Die meisten hatten einfach Hosenflatt­ern. In der Regel wurden sie nicht so exemplaris­ch bestraft. Wenn jemand aber immer wieder desertiert­e, war das natürlich etwas anderes“, erzählt Rauchenste­iner und ist auf einen Fall gestoßen, „da ist jemand achtmal desertiert. Als er

GESCHICHTE

ZUM ANSCHAUEN

Samstag

abermals aufgegriff­en Jeden wurde, hat im KURIER

man ihn tatsächlic­h aufgehängt.“

Seit im September mit der TeilMobilm­achung der Krieg in der breiten russischen Öffentlich­keit angekommen ist, geht dort die Angst um. „Diese Form von Flucht hat es zu Beginn der Weltkriege nicht gegeben. Das sind völlig andere Verhältnis­se“, kommentier­t Rauchenste­iner und fragt sich, „wie es den jungen Leuten ergehen wird, sollten sie versuchen, unter dem derzeitige­n Regime wieder zurückzuke­hren“. Sie hätten, ob der schweren Strafen, nur zwei Möglichkei­ten: „Sie bleiben im Ausland oder warten auf einen Umbruch in Russland, durch den sie pardoniert sind.“Und Historiker Bacher antwortet auf die Frage, ob diese Fluchtbewe­gung Einfluss auf die militärisc­he Schlagkraf­t habe: „Ich kann es mir nicht vorstellen.“

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