Von Kannibalen und Sandalen
Kritik. Wagners „Siegfried“an der Lindenoper in Berlin – famos dirigiert, exzellent gesungen und von Dmitri Tcherniakov rätselhaft und auch ironisch inszeniert
Ehe Teil 3 der Neuproduktion von Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“an der Berliner Staatsoper mit dem „Siegfried“-Vorspiel beginnen konnte, gab es noch kleinere Nachwehen zu den ersten beiden Teilen. Tierschützer hatten protestiert, dass in „Rheingold“und „Walküre“lebende Kaninchen als Komparsen mitmachen mussten. Intendant Matthias Schulz konnte entgegnen: Alles tierärztlich geprüft, die Kaninchen haben während der Aufführungen auch genug zum Fressen (nicht unwichtig bei so langen Opern), und sie sind mindestens zu zweit in den Käfigen. Man hat ja was zu diskutieren bei so einer Produktion.
Dann aber doch „Siegfried“– und wieder gab es Jubel für Christian Thielemann, den Urlaubsrückkehrer
und Einspringer für Daniel Barenboim am Pult der Staatskapelle Berlin. Es klingt neuerlich atemberaubend schön, er zelebriert jedes Detail, in den ersten beiden Aufzügen nimmt er das Orchester enorm zurück. Dieser „Siegfried“ist musikalisch nicht im Geringsten kraftmeierisch, sondern im besten Sinn bescheiden. Thielemann ist ein fabelhafter Erzähler, der mit den enorm wortdeutlichen Sängern die Tetralogie besonders transparent gestaltet. Man versteht jedes Wort, auch jede musikalische Phrase ist fabelhaft hörbar.
Gegen die Raser
Manchmal jedoch, vor allem im dritten Aufzug, steht Thielemann derart auf der Bremse, dass der orchestrale Selbstzweck die Einheit mit der Bühne gefährdet. Da atmet er musikalisch nicht mit den Sängern, sondern überlässt sie ihrem Schicksal. So ist das beim „Ring“, wenn man keinem trauen kann.
Die Sänger agieren allesamt famos. Andreas Schager ist der Siegfried dieser Tage, kraftvoll attackiert er bis zum Ende – manchmal wäre auch die Hälfte ausreichend. So singt diese schwierige Partie zur Zeit definitiv kein anderer.
Stephan Rügamer ist ein zynischer, bösartiger Mime mit nervösen Ticks, er spielt ebenso gut, wie er singt. Johannes Martin Kränzle besticht wieder als Alberich. Michael Volle krönt seine Topleistung in diesem „Ring“als beeindruckender Wanderer – schon als Wotan war er eine Idealbesetzung. Peter Rose als Fafner ist besser als im „Rheingold“, Anna Kissjudit (Erda) ebenso gut. Victoria Randem (Waldvogel) verfügt über eine schöne Höhe.
Bewundernswert, herrlich lyrisch in vielen Momenten,
stets berührend und ausdrucksstark, präzise in den Ausbrüchen und stimmlichen Höhenflügen singt Anja Kampe ihre erste „Siegfried“Brünnhilde. So gut hat man diese Partie schon lange nicht gehört. Allerdings macht ihr Thielemann mit seinen langsamen Tempi das Leben ganz schön schwer, zum Glück ist sie technisch so fabelhaft und sängerisch klug.
Gegen Russland?
Die Inszenierung von Dmitri Tcherniakov – es geht um Unterdrückung, um Überwachung, um diktatorische Regime, die vor Menschen- und Tierexperimenten nicht zurückschrecken, vielleicht hat es aktuell mit Russland zu tun, jedenfalls gibt es mehr Fragen als Antworten – setzt immer mehr auf Witz. Das ist lustig zum Anschauen, zeigt, wie gut er Figuren entwickeln kann, passt allerdings nicht immer zur Situation und grenzt manchmal inszenatorische Outrage.
Siegfried zertrümmert beim Schmieden von Nothung die Wohnung und zündet sein Spielzeug an. Wotan sieht als Wanderer aus wie der Obmann vom Gehstecken-Verein Walhall mit Socken in Sandalen. Fafner ist ein offenbar unter Drogen gesetzter, weggesperrter Kannibale, der wie Hannibal Lecter in „Das Schweigen der Lämmer“auftritt. Brünnhilde erwacht in einem Schlaflabor, in das sie Wotan erst unmittelbar vor der Erweckung gebracht hat. Und Siegfried trägt die ganze Zeit einen adidas-Trainingsanzug und bewegt sich auch wie ein Fußballer, etwa Marco Arnautovic. „Ich kauf dein Leben, Alter“– so agiert er auch gegenüber Wotan.
Am Sonntag geht es mit der „Götterdämmerung“weiter. Da kann das Publikum auf die Regie reagieren. an
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