„Jetzt sind es unsere Kinder“
Moskau soll Tausende ukrainische Kinder deportieren und sie adoptieren lassen – obwohl ihre Eltern noch leben
Marija Lwowa-Belowa ist ein gern gesehener Gast im russischen Fernsehen. Sie spricht pointiert, immer mit einem Lächeln auf den Lippen, glaubwürdig. „Das sind alles Fakes, Verschwörungen, Verleumdungen“, sagt sie in der Sendung Antifake. „Die Kinder sind hier überglücklich. Keines will zurück.“
Lwowa-Belowa, 38, blondes, langes Haar, ist Ombudsfrau für Kinderrechte in Russland. Sie postet in den sozialen Medien regelmäßig Bilder von sich und ukrainischen Kindern, die sie strahlend anschauen; sie laufen über das Rollfeld, steigen aus Bussen, werden von ihren neuen Eltern in die Arme genommen. „Jetzt sind es unsere Kinder“, steht dabei, Herzchen-Symbol inklusive. Ein Kriegsverbrechen? „Sicher nicht“, sagt Lwowa-Belowa im Fernsehen.
Tausende Kinder
Seit Kriegsbeginn gibt es Berichte darüber, dass Menschen aus den okkupierten Gebieten nach Russland deportiert werden, Kiew spricht von mehr als einer Million Verschleppten. Wohin, ist nicht immer klar. Manche verschwanden für immer oder sitzen bis heute in Camps in Russland fest; viele, die es nach Europa geschafft haben, berichten von Folter in „Aussiebelagern“.
Von 8.140 Kindern allerdings weiß die ukrainische Regierung, wo sie sind – und wo sie eigentlich nicht sein dürften: in Russland, teils als Pflegekinder, teils adoptiert und mit russischem Pass ausgestattet. Und das, obwohl ihre Eltern weder verstorben noch unauffindbar sind.
Quälende Suche
Vor allem aus Mariupol gibt es viele Geschichten von Eltern, deren Kinder auf seltsame Weise verschwanden. Die 450.000-Einwohner-Stadt war eine der ersten, die von den Russen eingekesselt wurde, Evakuierungen von Zivilisten waren nur in Richtung Russland möglich. Aus der dortigen Tuberkuloseklinik seien besonders viele verschwunden, erzählt etwa Pjotr Andrjuschenko, Berater des Mariupoler Bürgermeisters, dem Sender Nastojaschschee Wremja: „Die Eltern der kranken Kinder sind oft vor Kriegsbeginn aus der Stadt gefahren, konnten dann wegen der Kämpfe nicht mehr zurück. Die Kinder wurden währenddessen nach Donezk gebracht, wo sie versteckt wurden. Und dann landeten sie in Russland.“
Auch die Associated Press hat jetzt Dutzende Fälle dokumentiert, wo Kinder einfach in Russland verschwanden, während ihre Eltern in der Ukraine verzweifelt nach ihnen suchten. Moskau argumentiert zwar, dass es sich um Waisenkinder handle, die Eltern nicht erreichbar seien – doch selbst das kann als Kriegsverbrechen geahndet werden. Kinder mit ukrainischem Pass müssten eigentlich ukrainischen Pflegefamilien überlassen werden.
Russland macht ohnehin keinen Hehl daraus, dass man aus ukrainischen Kindern russische machen will. Bis vor Kurzem war die Adoption ausländischer Kinder dort nämlich per Gesetz untersagt, nach der russischen Invasion unterzeichnete Wladimir Putin dann ein Dekret, das dies im Schnellverfahren ermöglichte. Dazu erleichterte man die Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft an die angeblichen Waisen, und adoptionswillige Eltern konnten sich in ein Register eintragen – mit der Aussicht auf Geschenke: Wer für sein Pflegekind die russische Staatsbürgerschaft erlangt, bekommt dafür vom Staat Geld.
Viele ukrainische Eltern versuchen deshalb per Anwalt, ihre Kinder zurückzubekommen. In Kriegszeiten habe man aber kaum Handhabe, sagt der Jurist Grigorij Michnow-Wojtenko, der Eltern dabei unterstützt: „Die üblichen Wege funktionieren derzeit nicht“, sagt er im Interview mit Nastojaschschee Wremja. Problematisch sei, dass die Kinder meist keine Dokumente bei sich hätten und so der Identitätsnachweis schwierig sei. Und selbst wenn eine Rückkehr von den russischen Behörden in Aussicht gestellt werde, warten Stolpersteine: Manchen Eltern sei das Angebot gemacht worden, ihre Kinder persönlich abzuholen – aber nur in den besetzten Gebieten im Donbass, berichtet AP. Dahinter würden viele Ukrainer eine Falle vermuten.
Seit der Annexion der okkupierten Gebiete habe sich die rechtliche Lage nochmals verschärft, da Menschen aus diesen Regionen vor dem Gesetz oft nicht mehr als Ukrainer behandelt würden. Lwowa-Belowa, die russische Kinderrechtsombudsfrau, die übrigens auch auf der US-Sanktionsliste steht, tut laut eigener Aussage auch alles dafür, dass sich die ukrainischen Kinder nicht mehr als solche fühlen.
„Anfangs haben viele Kinder noch die ukrainische Hymne gesungen, sich negativ über unseren Präsidenten geäußert“, sagte sie kürzlich bei einem öffentlichen Auftritt vor Abgeordneten. „Doch danach haben wir alles dafür getan, um diese Negativität in Liebe für Russland zu verwandeln.“