Kurier (Samstag)

Nicht viel reden, lieber Lakritzbon­bons lutschen

Davide Longo über Turin mit Commissari­o Arcadipane und Ex-Commissari­o Brambard

- P.PISA

Schlichte Wut. Davide Longo aus dem Piemont will nicht, dass seine Romane so nebenbei „verdrückt“werden. Das hat schon gegolten, als er mit „Der aufrechte Mann“(2012) das Ende Italiens beschrieb ... aber die Kultur bleibt übrig: ein Lied von Cohen, ein Gedicht von Rilke.

Das gilt auch für Longos Bücher, die vorgeben, Kriminalro­mane zu sein – im Mittelpunk­t entweder der pensionier­ter Turiner Commissari­o Brambard (im Roman „Der Fall Brambard“) oder sein Freund und Nachfolger Arcadipane (im Roman „Die jungen Bestien“).

Beide verbindet: Sie reden nicht viel, sondern denken nach. Beide verbindet: Ihr Leben ist vorüber. Brambard hat Frau und Tochter verloren – von Arcadipane hat sich die Ehefrau getrennt. Das verkraften sie nicht.

In „Schlichte Wut“arbeiten sie gemeinsam an einem Fall. Longo hat sich etwas ausgedacht, da fährt die Eisenbahn drüber. Eigentlich.

Und zwar: Ein junger Mann steigt mit Horrormask­e und Kimono in die U-Bahn, fährt sechs Stationen, steigt aus und prügelt eine kolumbiani­sche Krankenpfl­egerin grundlos ins Koma.

Tempo drosseln

Ein 20-Jähriger wird verhaftet, vorbestraf­t ist er. Er haut wütend auf den Tisch: Ja, ich war der Typ mit Maske und Kimono, weil meine Freundin nicht geglaubt hat, dass ich mich traue, so in die Öffentlich­keit zu gehen. Aber diese Frau, die habe ich nie gesehen, geschweige denn habe ich ihr etwas angetan.

Es gibt Zeugen, es gibt Bilder der Überwachun­gskameras. Aber Arcadipane ... zweifelt. Warum? Er weiß es nicht. Er zweifelt und tut, was er immer macht, wenn er nervös ist: Er lutscht Lakritzbon­bons.

Manchmal 20 in der Stunde. Dazu Zigaretten. Die Mischung muss scheußlich sein.

Man darf „Schlichte Wut“nicht „verdrücken“. Man würde z. B. die Gespräche mit einer Psychother­apeutin versäumen, die es allen (uns allen) hineinsagt. Und man hätte viele neue Bilder nicht gewürdigt wie: Es redet jemand und hört sich an „wie ein Schlager aus den Sechzigern“.

Longo steigt nicht aufs Gaspedal, sondern drosselt das Tempo. Karg schreibt er, und tief schneidet er ins Leben. Nicht anders macht es Ferdinand von Schirach, doch ist der Deutsche bei Kurzgeschi­chten gut. Davide Longo hält Romane durch. Er hat Italiens Literatur wieder spannend gemacht.

 ?? ?? Davide Longo: „Schlichte Wut“Übersetzt von Barbara Kleiner. Rowohlt Verlag. 320 Seiten. 24,50 Euro
Davide Longo: „Schlichte Wut“Übersetzt von Barbara Kleiner. Rowohlt Verlag. 320 Seiten. 24,50 Euro

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