„Wir Totgesagten leben länger“
Kutscher, Hutmacher, Sattler, Buchbinder: alte Berufe, die die Jahrhunderte überdauerten. Warum andere Jobs verschwinden, aber sie eine Zukunft haben
Nichts bleibt so, wie es war. Erst recht nicht in der Arbeitswelt. Laut Experte Rüdiger Maas sollen 60 Prozent der Jobs, die die Generation Alpha einmal ausüben wird, noch gar nicht existieren. Gleichzeitig schwinden Berufsgruppen oder verändern sich gänzlich. Lichtbringer, um die Stadt zu erhellen, braucht es nicht mehr und Drahtzieher oder Sündenböcke gibt es auch nur mehr im metaphorischen Sinn. Aber es gibt noch die dritte Kategorie: Jobs, die über Jahrhunderte hinweg allen Veränderungen trotzten und noch immer Bestand haben. Wie das möglich ist und was diese Berufe so besonders macht? Der KURIER forschte nach und besuchte einen Kutscher, eine Hutmacherin, einen Sattler und eine Buchbinderin. 7.55 Uhr. Der Boden ist vereist, die Gegend karg. Die Ruhe braucht es, denn die Stadt ist turbulent genug. Nur zwölf Gehminuten von der Simmeringer Hauptstraße entfernt liegen die Stallungen des Fiakerbetriebs Paul. 30 Pferde sind hier vier Tage die Woche im Dienst, die anderen 64 sind in Göttlesbrunn auf Urlaub. Der KURIER trifft Fiaker Marco Pollandt, der gerade noch die Fahrtenbücher des Tages finalisiert. Die Buchungslage ist hoch, auch wenn die Branche viel Gegenwind bekommt. Arbeitsbedingungen der Pferde stehen oft in der Kritik. Kutscher
MIT EMPFEHLUNG werden beschimpft oder manche sogar bespuckt, hört Pollandt von Kollegen. „Das sind Momente, in denen man im Bett wachliegt und sich fragt, was das für die Zukunft heißt“, kränkt er sich.
Er und seine Kollegen sind mit Herzblut dabei. Bieten Stallführungen an, damit die Kundschaft sehen kann, dass es den Pferden gut geht. Auch der KURIER bekommt eine, davor wirft sich Pollandt noch schnell in die Uniform und setzt sich die klassische Melone auf. Ob er jemals ohne fährt? „Nein, das wäre teuer. Ohne Hut fahren kostet bis zu 360 Euro Strafe“, sagt er und wünscht anschließend seinem treuesten Kollegen Jimmy (siehe Bild) mit einer Karotte einen guten Morgen.
„Jeder hat seine Lieblinge“, erklärt er. Im Straßenverkehr muss man sich vertragen, daher fahren oft dieselben Teams los. Bedeutet: Ein Fiaker, zwei Pferde, „sonst kommt man nicht um die Kurve.“Als das traditionsreiche Taxi versteht man sich nicht. „Der eigentliche Nutzen hat sich im Laufe der Jahrhunderte verändert.“Heute geht es Passagieren darum, das historische Flair einzuatmen und die Stadt auf eine Art und Weise zu erleben, die einem zuvor verborgen war. „Der prunkvolle Stuck an Häuserfassaden ist so konzipiert, dass er nur von der Kutsche aus zu sehen ist“, erklärt Pollandt. Ob das ausreicht, Gäste auch in den nächsten Jahrhunderten anzulocken? „Davon gehe ich aus. Totgesagte leben länger“, ist sich der Fiaker sicher.
Und ein Problem, mit dem sich andere herumschlagen, hat seine Branche jedenfalls nicht: „Wir CO2-neutral seit 1683.“
Hinter einer Glastüre und einer Lawine an Hüten sitzt Eva Siebert auf einem Sessel und näht. Ihr gehört das Atelier „Hutmode Biester“in der Leopoldstadt. Sobald man die kleine Werkstatt betritt, kann man sich kaum sattsehen: Strohhüte, LeopardenprintMützen und schrille Kappen zieren die Wände.
„Wie man sehen kann, biete ich alle Arten der Kopfbedeckungen an,“sagt Siebert. Seit 13 Jahren arbeitet sie schon als Hutmacherin. Und vor drei Jahren machte sie sich selbstständig. „Ich habe mitten in der Pandemie angefangen. Aber ich habe es absurderweise positiv in Erinnerung. Es war ein sehr guter Einstieg ins Geschäft.“
Wie sie auf den Beruf gekommen ist, weiß sie nicht mehr so genau: „Es war ein bisschen aus der Verzweiflung heraus. Ich habe Sozialarbeit studiert und bin irgendwie über Hüte gestolpert. Vielleicht habe ich eine Sendung gesehen.“Siebert verliebte sich jedenfalls sofort in das Handwerk: „Hüte werden immer gebraucht. Sie erfüllen diesen wahnsinnig wichtigen Zweck. Sie sind warm und schützen vor der Sonne. Es wäre verrückt, wenn sie verschwinden würden“, erzählt sie. Das sei auch der Grund, warum der Beruf sich so lange bewährt, glaubt sie: „Für jeden und jede gibt es einen passenden Hut. Sie sind etwas Einzigartiges, das den Stil und das
BRAVO sind
Fiaker: „Der eigentliche Nutzen hat sich im Laufe der Jahrhunderte verändert“
Giovanni di Lorenzo ist Chefredakteur der Zeit, traf in seiner langen journalistischen Laufbahn viele große Persönlichkeiten – von Papst Franziskus über Angela Merkel bis hin zum deutschen Telekomchef Timotheus Höttges. Gut waren die Gespräche dann, wenn das Gegenüber nicht viel Angst hatte, etwas Falsches zu sagen, erklärt di Lorenzo, der jetztdiespannendstenUnterhaltungen der vergangenen zehn Jahre in Buchform gegossen hat. So erzählt er, dass Recep Erdoğan und Viktor Orbán sich, anders als die meisten, überhaupt nicht darum scherten, ihre Zitate vor Veröffentlichung groß autorisieren zu
wollen. Anders als Helene Fischer, deren Interview aufgrund von massiven Interventionen niemals erschien. Doch das perfekte Marketingprodukt ist für die Leser uninteressant, weiß der Autor. Deshalb zeigt er in „Vom Leben und anderen Zumutungen“den Menschen mit all seinen Widersprüchen und prägenden Vorgeschichten.
Hutmacherin: „Sie erfüllen diesen wichtigen Zweck. Es wäre verrückt, wenn sie verschwinden würden“