Das Revoltieren gegen die Nazis mit Avantgarde
Nestroyhof Hamakom: „Erbe“uraufgeführt
Kritik. Im Literaturarchiv der Nationalbibliothek schlummern viele Schätze. Nun wurde eine Preziose geborgen: ein Theaterstück in drei Akten von Dorothea Zeemann, das nur als Typoskript vorliegt. Man weiß daher nicht, wann es entstanden ist, mutmaßlich in den 1960ern.
Ingrid Lang, Leiterin des Theaters Nestroyhof Hamakom, wurde auf „Erbe“aufmerksam gemacht. Aufgrund der Ereignisse des 7. Oktobers 2023 brauchte sie nicht lange nachdenken. Denn Zeemann, 1909 in Wien geboren, thematisiert erstaunlich früh die Arisierungen in der NSZeit. Und sie zeigt, dass Antisemitismus wie nationalsozialistische Gesinnung nicht mit dem Untergang des Dritten Reichs verschwunden sind.
Zudem liefert sie eine Erklärung, warum die jungen Menschen in den 1950ern revoltieren mussten. Genau diese Avantgarde-Künstler unterstützte Zeemann: Sie erfand den Begriff „Wiener Gruppe“. Gerhard Rühm, mit 94 Jahren der letzte lebende Vertreter, wohnte der Uraufführung am Donnerstag bei.
Um einen Pappenstiel
In die Geburtstagsfeier für den siebenjährigen Otto in der Wohnung der Familie Reitknecht platzt 1945 Alfons Adler: Er hat die Shoah überleben können – und kehrt nun als US-Soldat in das Haus zurück, das sein Vater notgedrungen „für einen Pappenstiel“verkaufen musste. Wiewohl Otto sein Sohn ist, wird er als „Feind“angesehen: Hedwig, seine ehemalige Freundin, sehnt sich nach Idylle; Dieter, deren Ehemann, gibt den Amis die Schuld, dass er einen Arm verloren hat; und Patriarch Reitknecht strotzt unverbesserlich vor Judenhass.
Im zweiten Akt, exakt zehn Jahre später, kommt es in der äußerst präzisen Inszenierung von Ingrid Lang zum Showdown: Die Kontrahenten sitzen sich am ausgezogenen Esstisch gegenüber. Reitknecht, entnazifiziert und entschädigt, zahlt Adler aus. Der Boden aber bleibt der Gleiche: Ausstatterin MarieLuise Lichtenthal hat die Spielfläche mit den Büchern, die der Jude zurücklassen musste, ausgelegt.
Lukas Haas verwandelt sich als dumpfer Dieter in einen Burschenschaftler, Theresa Martini sucht als Hedwig Trost im Alkohol, Peter Strauss agiert als Reitknecht mit Eiseskälte. In diesem tristen Setting nicht zu verzweifeln, gelingt nur Hedwigs kleiner Schwester als Mannequin: Otto revoltiert. Sein Unbehagen hat sich bereits mit bedrohlichen Drumstickwirbeln angekündigt. Nun klopft er, von Klangkünstler Sixtus Preiss verkörpert, die hohle Welt im Wortsinn ab. Und Sophie Kirsch als Irmgard, Ottos Gleichgesinnte, steuert eine Performance im Stil der konkreten Poesie bei. Der 75-minütige Abend endet 1960 und als krächzender Loop mit der Tonbandmaschine und einem Adorno-Zitat: „Ich betrachte das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potenziell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie.“Die Aufführung hat Wucht.
KURIER-Wertung: