Die Kehrseite der Olympia-Medaille
Flüchtlings unterkünfte werden aufgelöst, ihre Bewohnerin andere Regionen Frankreichs geschickt: Hilfsorganisationen werfenden Behörden im Vorfeld der Olympischen Spiele„ soziale Säuberungen“vor
Viele waren es nicht, die sich an diesem schwierigen Morgen bereit dazu erklären, mit den Medien zu reden. Mohamed Sayed gehört zu den wenigen, die sich äußern wollen, während er mit seinem Hab und Gut in einem großen Koffer das besetzte Haus im Pariser Vorort Vitry-sur-Seine verlässt. Drei Jahre hat er dort gelebt, nun wurde es definitiv von der Polizei geräumt. „Ich bin nicht unbedingt gerne hier“, sagt er. „Aber wo soll ich hin?“
Der Mann aus Eritrea hat einen Flüchtlingsstatus in Frankreich und einen festen Job beim Baukonzern Eiffage. Aber eben keine Wohnung. Und nun auch die behelfsmäßige Bleibe nicht mehr, in der er und rund 400 andere Flüchtlinge untergekommen waren.
„Außer Sichtweite“
Bei dem genau 100 Tage vor Beginn der Olympischen Sommerspiele evakuierten Gebäude handelte es sich um das größte besetzte Haus Frankreichs. Die zuständige Präfektur rechtfertigte die Aktion mit der Begründung, das es befinde sich auf einer künftigen Buslinie, doch linke und grüne Parteien widersprachen.
Ihnen zufolge gab es keinerlei Abriss- oder Baugenehmigung. Paul Alauzy, Mitarbeiter bei der Hilfsorganisation „Ärzte der Welt“und Sprecher des Zusammenschlusses „Le revers de la médaille“(„Die Kehrseite der Medaille“), ist überzeugt, den wahren Grund zu kennen. „Wir erleben eine soziale Säuberung vor den Olympischen Spielen“, sagt er. „Die Idee ist, alle Menschen in Schwierigkeiten außer Sichtweite, weit weg von der Hauptstadt und den Spielen, zu bringen.“
Im Vorfeld der sportlichen Großveranstaltung, die von 26. Juli bis 11. August stattfindet, haben sich mehr als 80 Vereine aus dem sozialen Bereich zusammengetan, um auf drohende negative Folgen für die Schwächeren der Gesellschaft hinzuweisen.
Glamouröses Image
Ihnen zufolge gab es seit einem Jahr wiederholt Räumungen von Flüchtlingsunterkünften in Paris und im Großraum der Hauptstadt, in deren Folge die bisherigen Bewohner in andere französische Regionen gebracht wurden. Das Ziel: Paris für jene Wochen, in denen die ganze Welt auf die Metropole blinkt, ein möglichst glamouröses Image zu verleihen. Befreit von der Armut, die zu ihr gehört wie die Nobelviertel.
Mehr Räumungen
Während die Präfektur im Fall der Hausräumung in Vitry-sur-Seine erklärte, man behandle jede Situation individuell, beklagt Alauzy, es handle sich nur um Übergangslösungen. „Man entreißt diese Menschen ihrem Lebensmittelpunkt, und viele von ihnen werden bald ohne Dach über dem Kopf dastehen.“
Die meisten arbeiteten, die Kinder gingen in die Schule, etliche hätten laufende Anträge auf Aufenthaltserlaubnis oder eine Wohnung, die sie an einem neuen Ort wieder stellen müssten.
Während die Behörden eine Verbindung zwischen den Evakuierungsaktionen und den Olympischen Spielen zurückweisen, hat die „Beobachtungsstelle von Zwangsräumungen informeller Lebensräume“eine Zunahme festgestellt: Zwischen April 2023 und Mitte März 2024 gab es 33 Aktionen, ein Jahr vorher waren es im selben Zeitraum nur 19.
Die Vereinigungen hegen darüber hinaus den Verdacht, dass Hotelzimmer, die derzeit als Notunterkünfte für Obdachlose und Flüchtlinge dienen, freigemacht würden, um während der Spiele Feuerwehrleute, Polizisten und Gendarmen unterzubringen.
Studenten müssen raus
Auch rund 3.000 Studenten müssen ihre Zimmer in den Wohnheimen räumen, gegen 100 Euro und zwei Tickets für olympische Wettbewerbe. Die 25-jährige Lina gehört zu ihnen und sagt, sie verstehe immer noch nicht, warum ausgerechnet die „armen Studenten“umziehen müssen. „Es sind immer die Schwächsten, denen es an den Kragen geht.“
„Die Idee ist, alle Menschen in Schwierigkeiten außer Sichtweite, weit weg von den Spielen zu bringen“Paul Alauzy Ärzte ohne Heimat