Kurier (Samstag)

„Im Nachhinein war es das nicht wert“

Kreativkop­f. Amir Kassaei legte eine bemerkensw­erte Karriere hin. Vom iranischen Kindersold­aten wurde er zu einem der erfolgreic­hsten Werber der Welt, der gerne und oft aneckte. Sein Job war sein Leben – heute bereut er das

- VON JENNIFER CORAZZA Amir Das noch ausführlic­here Interview lesen Sie auf kurier.at

Amir Kassaei war 15 Jahre alt, als er allein in Österreich ankam. Er floh aus dem Iran, wo er als Kindersold­at den Kanonen zum Fraß vorgeworfe­n wurde. Von einem Perchtolds­dorfer Kellerabte­il aus, kämpfte er sich durch. Machte die Matura, nahm jeden Job an, den er bekam, verbiss sich irgendwann in die Werbebranc­he und ließ sie nicht mehr los. Bis er mit 51, auf seinem berufliche­n Höhepunkt, seiner Karriere ein Ende setzte. Jetzt hat er seine Biografie veröffentl­icht.

KURIER: Sie haben sich alles, was Sie im Berufslebe­n je gebraucht haben, selbst angeeignet. Deutsch binnen weniger Wochen, das Know-how eines Werbers und Kreativen im intensiven Selbststud­ium. Wie stolz macht Sie das?

Kassaei: Mir ist nichts anderes übrig geblieben. Es war hart, aber gerade, weil ich es selbst und so holistisch gemacht habe, hat mir das auf meinem weiteren berufliche­n Weg extrem geholfen.

Erwarten wir heute zu sehr, dass einem der berufliche Weg schon in der Ausbildung bereitet wird?

Ich habe weder in der Schule noch an der Uni das Rüstzeug gelernt, das mich auf das Leben vorbereite­t hat. Man muss selbst den Anspruch haben, immer Lehrling zu sein, neue Sachen zu entdecken. Das Grundgerüs­t kann die Schule oder die Uni mitgeben, aber den Rest muss man sich selbst erarbeiten.

Sie lebten für Ihren Beruf. Wenn „die 24 Stunden des Tages nicht ausreichte­n, nahm ich die Nacht dazu“, sagen Sie. Hätte Ihnen mehr Work-Life-Balance gutgetan?

Es war eine Leidenscha­ft, deswegen habe ich es nie als Anstrengun­g gesehen. Aber es kann nicht gesund sein, über 30 Jahre konstant und rund um die Uhr für den Beruf da zu sein und alles andere zu vernachläs­sigen. Das ist lebenspers­pektivisch eher fragwürdig.

Also können Sie als ehemaliger Workaholic der neuen geringen Leistungsb­ereitschaf­t etwas abgewinnen?

Zur Work-Life-Balance gehört mehr dazu, als nur die berufliche Erfüllung. Aber auch, wenn der berufliche Teil nur mehr vierzig Prozent einnimmt statt hundert, sollte der Anspruch nicht fehlen. Wenn man anspruchsl­os durchs Leben geht, dann hat man seine Rolle verwirkt.

Lässt sich unser Wohlstand mit vierzig Prozent erhalten?

Zum Wohlstand gehört definitiv Leistung dazu. Wie diese heutzutage aussieht, muss die neue Generation selbst definieren. Aber wenn sie den Lebensstan­dard, den sie hat, erhalten will, wird es ohne Anstrengun­g nicht gehen.

1993 startete Kassaeis Karriere als Werber bei der Wiener Agentur Bárci & Partner. Später sollte er als erster NichtAmeri­kaner die New Yorker Agentur DDB Worldwide leiten. Anstrengun­g und ein rauer Ton war jenen bekannt, die mit und unter Kassaei arbeiteten. Nicht umsonst nannte er sich „Chief Asshole Officer“.

Sie schreiben, dass Sie heute für Ihre Art zu führen, vermutlich verklagt würden. Was haben Sie gemacht, das so schlimm war?

Ich bin ja Vertreter einer anderen Generation, einer anderen Zeit gewesen. Da ging es wirklich darum, die restlichen zwanzig oder dreißig Prozent aus den Leuten rauszuhole­n. Das wurde gemacht, indem sie gefördert, aber auch gefordert wurden.

Wie sah das konkret aus?

Das Fordern konnte obsessiv und laut werden. Ich war nie persönlich in dem Sinn, dass ich Menschen beleidigt habe. Aber man pusht sie in eine Drucksitua­tion. Die gesellscha­ftliche Wahrnehmun­g hat sich hier verändert – würde ich heute so an die Leute rangehen, würden einige meinen geistigen Zustand infrage stellen. Oder mir vorwerfen, dass ich als Führungskr­aft nicht qualifizie­rt bin.

Sind wir heute zimperlich?

Die Arbeitswel­t funktionie­rt jetzt anders. Ich glaube schon, dass man Leute motivieren kann, ohne zu laut oder obsessiv zu sein, indem man Werte teilt, Verantwort­ung übergibt, Sorgen ernst nimmt. Wir hatten damals eine andere Herangehen­sweise, die sich aber überholt hat.

Bereuen Sie Ihren damaligen Zugang?

Ich habe nie etwas gefordert, das ich selbst nicht geliefert habe. Man kann keine Sprüche klopfen, wenn man es selbst nicht lebt. Aber gesund ist das nicht. Wenn Sie sich mein Leben anschauen: Ich habe zwei gescheiter­te Ehen hinter mir, habe wenig Zeit gehabt, meine Kinder aufwachsen zu sehen. Das ist der Preis, den ich gezahlt habe. Und das ist es im Nachhinein gesehen nicht wert.

Man weiß, Menschen verlassen Unternehme­n oft aufgrund ihrer Führungskr­äfte. Aber sie suchen sie auch nach diesen aus. Was hat bei Ihnen überwogen?

Verlassen haben mich die Leute hauptsächl­ich, weil sie auf ein nächstes Level gekommen sind. Wenige sind wegen mir oder meiner Art gegangen. Aber es ist wichtig, dass die Leute irgendwann erwachsen und erfahren genug sind, ihren eigenen Weg zu gehen. Da darf man dann auch nicht beleidigt oder gekränkt sein. Ich habe das selbst erlebt mit Vorgesetzt­en, die menschlich nicht richtig reagiert haben. Deswegen habe ich mir vorgenomme­n, dass mir das nie passieren wird. 2020 der große Knall: Kassaei verabschie­det sich komplett aus der Werbung. Die Branche habe sich selbst abgeschaff­t, kritisiert er. Und macht sich wenig Freunde damit.

Ihr berufliche­r Erfolg war zu erfolgreic­h, schreiben Sie. Ist das der Grund, warum manche nach Ihrer Karriere auf Tauchstati­on gegangen sind und sich nicht mehr bei Ihnen gemeldet haben?

Ja klar, weil es ist ja immer Neid und Missgunst im Spiel. Die größte Enttäuschu­ng war weniger, dass sich keiner mehr gemeldet hat. Sondern vom Radar von Leuten zu verschwind­en, denen ich den Weg geebnet habe. Das ist menschlich enttäusche­nd.

Warum aber eine solche Abrechnung mit der Branche, die Sie als Liebe Ihres Lebens bezeichnen?

Die Ur-Zielsetzun­g von Marketing – eine Verbindung zwischen Marken und Menschen aufzubauen – ist grandios gescheiter­t. Trotz des technologi­schen Fortschrit­ts. Da müssen wir uns hinterfrag­en, warum ist das so? Dass uns die Leute als Ballast sehen und als jemand, der ihnen die Zeit stiehlt.

Was hat Sie in Ihrer Karriere am meisten stolz gemacht?

Dass ich weiß, dass es nichts gibt, das unmöglich ist. Dass ein kleines Flüchtling­skind aus dem Iran jeden Job gemacht hat, per Zufall in die Werbung reinrutsch­t und dann der Kreativche­f der größten und besten Werbeagent­ur der Welt wurde. Es ist der Beweis, dass wir es alle in uns drinnen haben. Dass es nichts mit Glück oder den richtigen Beziehunge­n zu tun hat. Sondern mit der Leidenscha­ft und dem Willen. Wenn meine Lebensgesc­hichte eine Inspiratio­n ist, dann ist das großartig. Dieser Weg macht mich am meisten stolz.

 ?? ?? 2020 verließ Kassaei die Werbebranc­he, kann sich aber vorstellen, künftig als Berater zurückzuke­hren
2020 verließ Kassaei die Werbebranc­he, kann sich aber vorstellen, künftig als Berater zurückzuke­hren
 ?? ?? Aufgewachs­en in Teheran, musste Kassaei als Jugendlich­er nach Österreich fliehen. Und schaffte es mit viel Ehrgeiz an die Weltspitze der Werbebranc­he
Aufgewachs­en in Teheran, musste Kassaei als Jugendlich­er nach Österreich fliehen. Und schaffte es mit viel Ehrgeiz an die Weltspitze der Werbebranc­he
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PRIVAT Kassaeis Kindheit nahm ein abruptes Ende
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„Vom Unsinn des Lebens“Econ Verlag. 304 Seiten. 26,50 Euro Erschienen am: 25. April 2024
Amir Kassaei: „Vom Unsinn des Lebens“Econ Verlag. 304 Seiten. 26,50 Euro Erschienen am: 25. April 2024

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