Kurier (Samstag)

Die Vergessene­n

Libanon. Angesichts der Ukraine und Gaza verblasst der Krieg in Syrien in der Öffentlich­keit. Doch bis heute leben zwei Millionen Syrer im Libanon in rudimentär­en Camps. Der KURIER sprach mit einigen von ihnen

- AUS BAALBEK JOHANNES ARENDS

„Schau, das ist alles, was wir haben!“Die Stimme der Frau bebt vor Aufregung, als sie den hellblauen Waschkübel in die Luft hält. Das Wasser darin ist undurchsic­htig, kleine, weiße Würmer kringeln sich darin. „Vor einem Jahr ist unser Brunnen ausgetrock­net“, ruft sie und deutet auf ein Feld in der Ferne. „Jetzt ist der Teich, aus dem die Tiere trinken, unser einziger Zugang zu Wasser – und der Bauer lässt uns auch noch dafür bezahlen.“

Die Sonne knallt auf die Bekaa-Ebene im Osten des Libanon. Hier, in einem Flüchtling­slager in der Nähe von Baalbek, inmitten von provisoris­ch errichtete­n Zeltunterk­ünften, beginnt der herumliege­nde Müll bereits zu stinken. Die Frau, die sich als Ftem vorstellt, ist eine von rund 500 Syrern, die hier leben. Während sie spricht, huschen ihre Kinder zwischen Hühnern und Ziegen umher, spielen Fangen und lachen laut. Es ist ein starker Kontrast zu dem, was Ftem vom Leben ihrer Familie erzählt.

Chlorbad für das Kind

Vom verschmutz­ten Wasser würden ihre Kinder ständig krank; das einzige Plumpsklo im Lager gehe noch dazu bei starkem Regen über. „Meine Kinder hatten Läuse, sie hatten Krätze“, zählt Ftem auf. Einen Arztbesuch könne sich die Familie nicht leisten, ein Auto dürfen Syrer im Libanon nur mit Genehmigun­g anmelden. In ihrer Verzweiflu­ng habe sie ihre Kinder in Chlor gebadet, die Tabletten habe sie einem Bauern abgekauft.

In der weiten Bekaa-Ebene gibt es Hunderte dieser Lager, offiziell werden sie als „temporäre Camps“bezeichnet. Ein zynischer Begriff, Ftems Familie floh schließlic­h vor zehn Jahren ins Nachbarlan­d, wie die meisten der ca. zwei Millionen Syrer, die bis heute im Libanon leben. Doch weil die Regierung in

Beirut fürchtet, aus den Lagern könnten dauerhafte Siedlungen werden, sind dort keine festen Baustoffe wie Beton oder Ziegel erlaubt.

Hilfsorgan­isationen betreuen einige der Flüchtling­scamps, doch es sind schlicht zu viele, um allen zu helfen. Dieses Lager erhielt bisher nur sporadisch Hilfe, doch es gibt Hoffnung: Das Rote Kreuz hat es ausgewählt, um bald ein Jahr lang HygienePak­ete, Medizin und sauberes

Trinkwasse­r bereitzust­ellen. „Die hygienisch­e Situation und die Trinkwasse­rversorgun­g sind inakzeptab­el“, sagt Michael Opriesnig, Generalsek­retär des österreich­ischen Roten Kreuzes, das die Flüchtling­e gemeinsam mit den libanesisc­hen Kollegen unterstütz­t. Die Situation in den unbetreute­n Lagern sei genau wie bei seinem ersten Besuch 2015: „Das sind Zustände, die kann es eigentlich nicht mehr geben.“

Nur zwei Kilometer entfernt ist die Welt eine andere. Auch hier leben Syrer in temporären Unterkünft­en, doch hier verfügt jedes Zelt über ein eigenes Klo und Trinkwasse­rBehälter. Es ist ein Zeltlager, in dem das Rote Kreuz seit mehr als einem Jahr Hilfe leistet.

Flucht vor dem IS-Terror

Durch die Medizin und das Trinkwasse­r habe sich ihr Leben schlagarti­g verbessert, sagt Yusra. „Wir hatten auf einmal viel mehr Geld für andere Dinge, konnten ihre Kinder in die Schule schicken.“

Yusras Mann Saed arbeitet auf einer Baustelle, um die Familie zu versorgen, bekommt dafür zwei US-Dollar pro Tag. Als der KURIER ihn trifft, trägt Saed einen Jogginganz­ug und eine schwarze Kappe, sein grauer Stoppelbar­t ist frisch getrimmt. Ein Privileg, das ihm früher nicht gestattet war: Saed ist 2015 aus Raqqa geflohen. Jener Stadt, die bis zur Niederlage der Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) 2017 als Hauptstadt des Kalifats diente.

„Sie zwangen uns, unsere Bärte wachsen zu lassen“, erinnert er sich. Immer wieder habe es Hausbesuch­e durch die Terroriste­n gegeben. „Wer nicht für sie kämpfen wollte, wurde besonders schikanier­t.“Das Leben hier im Lager sei zwar „sicher, aber ohne Perspektiv­e“, sagt Saed. „Jede Nacht träume ich davon, wegzuziehe­n, damit meine Kinder eine Chance auf ein besseres Leben bekommen.“Die Rückkehr nach Syrien, wo bis heute gekämpft wird, sei jedoch „unmöglich, unsere Heimat ist völlig zerstört“.

Der Weg nach Europa wird für die Familie vorerst verschloss­en bleiben. Erst letzten Donnerstag sicherte EU-Kommission­spräsident­in

Ursula von der Leyen dem Libanon mehr als eine Milliarde Euro zu, um zu verhindern, dass sich syrische Flüchtling­e auf die gefährlich­e Reise über das Mittelmeer begeben.

Opriesnig ist nach dem Besuch zufrieden: „Wenn man beide Lager miteinande­r vergleicht, sieht man, was es ausmacht, wenn wir Trinkwasse­r bereitstel­len.“Man könne nicht allen helfen, aber der erfüllende Teil der Hilfsarbei­t sei es, zu sehen, „dass wir die Lebensbedi­ngungen der Menschen zumindest ein wenig verbessern können“. Und: „In sechs Wochen wird es auch im ersten Lager wieder anders ausschauen.“

Diese Reise wurde zum Teil vom Österreich­ischen Roten Kreuz (ÖRK) finanziert. Spendenkon­to IBAN: AT57 2011 1400 1440 0144 Kennwort: Naher Osten

 ?? ?? Ftem floh mit ihrer Familie 2014 in den Libanon. Ihre Söhne, hier zu sehen, kamen im Flüchtling­slager zur Welt, kennen nichts anderes
Ftem floh mit ihrer Familie 2014 in den Libanon. Ihre Söhne, hier zu sehen, kamen im Flüchtling­slager zur Welt, kennen nichts anderes
 ?? ?? „Glückliche­r Zahn, trauriger Zahn“: Spielend lernen die Kinder von Hilfsarbei­tern des Roten Kreuzes, welches Essen Karies verursacht
„Glückliche­r Zahn, trauriger Zahn“: Spielend lernen die Kinder von Hilfsarbei­tern des Roten Kreuzes, welches Essen Karies verursacht

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