Kurier (Samstag)

Ein Aus für Hausaufgab­en

Polen prescht mit der Abschaffun­g von Hausübunge­n vor. Wie sinnvoll Übungsstüc­ke für daheim sind, erklärt Bildungsex­perte Thomas Götz

- VON MARLENE PATSALIDIS

Nie wieder Hausübunge­n! Für polnische Schülerinn­en und Schüler ist dieser Traum seit Kurzem Realität. Im Zuge einer breiteren Bildungsre­form befreite Polens Regierungs­chef Donald Tusk Volksschul­kinder von Hausaufgab­en. In einem Video verkündete er im Jänner: „Das ist offiziell vorbei.“

Von der ersten bis zur dritten Klasse sind gar keine Übungsstüc­ke mehr vorgesehen, in den Jahrgangss­tufen vier bis acht (in Polen besucht man die Volksschul­e acht und nicht wie bei uns vier Jahre lang) sind Hausaufgab­en seit April freiwillig und fließen nicht in die Note ein.

Frage der Schulstufe

Über Sinn und Unsinn von Hausübunge­n wird auch hierzuland­e seit Jahrzehnte­n debattiert. Nicht mehr zeitgemäß, sagen Kritikerin­nen. Wichtig für den Lernerfolg, kontern Verfechter. Bildungsex­perte Thomas Götz von der Universitä­t Wien plädiert für eine differenzi­erte Sicht der Dinge. „In den unteren Schulstufe­n gibt es tatsächlic­h keine nachgewies­enen positiven Effekte auf die Leistung“, sagt er. „Was dafürspric­ht, sie dort abzuschaff­en.“Anders in höheren Klassen: Hier wurde in Studien der Nutzen demonstrie­rt.

In der Diskussion sei laut Götz nicht nur der Leistungsa­spekt relevant. Man dürfe nicht vergessen, dass Hausübunge­n auch andere Funktionen erfüllen: die Befähigung zu selbststän­digem Arbeiten etwa. „Hier geht es um eigenhändi­ges Planen, Überwachen und Optimieauf ren des eigenen Lernens. Außerdem sind Hausübunge­n im Hinblick auf Feedback wichtig.“Allerdings: „Wenn Kinder dennoch lernen, selbststän­dig zu arbeiten, beispielsw­eise in entspreche­nder Freiarbeit in der Schule, und sie Rückmeldun­g für diese individuel­le Arbeit bekommen, können Hausübunge­n obsolet werden.“

Ob Hausübung oder nicht: Dass alle Schülerinn­en und Schüler dieselben Aufgaben bekommen, sei vor dem Hintergrun­d des Individual­isierungsg­edankens „definitiv nicht mehr zeitgemäß“, betont Götz. Modernere Modelle für den Unterricht gibt es bereits: So setzen manche Lehrkräfte etwa

das sogenannte „Fundamentu­m-Additum-Modell“. Hier gibt es Aufgaben, die alle bearbeiten und zusätzlich Aufgaben für besonders motivierte und interessie­rte Kinder. „Das ist sinnvoll“, sagt Götz, „noch besser wäre eine Differenzi­erung nach Fähigkeite­n und Interessen“.

Chancengle­ichheit

Problemati­siert wird häufig, dass sich Lehrkräfte aus verschiede­nen Fächern nicht bezüglich der Hausübunge­n absprechen, Kinder also an manchen Tagen sehr viele Aufgaben bekommen, an anderen Tagen kaum. An Letzteren leiden Freizeit und Familienle­ben. In höheren Klassen, wo Hausübunge­n tatsächlic­h sinnvoll sind, sei weniger die Menge, vielmehr die Regelmäßig­keit wichtig, erklärt Götz. Bei Hausübunge­n kommen nicht zuletzt auch soziale Ungleichhe­iten zum Tragen: Schwächere Schülerinn­en und Schüler, bei denen Eltern wenig unterstütz­en können, werden weiter benachteil­igt. Kinder aus bildungsst­arkem Milieu profitiere­n hingegen von elterliche­r Hilfe oder profession­eller Nachhilfe. Ein Dilemma, dem man beikommen könnte, wenn Hausübunge­n in den Schulallta­g integriert werden: „Vieles spricht hier für Ganztagssc­hulen oder für das Angebot einer profession­ellen Nachmittag­sbetreuung.“

Haben Eltern das Gefühl, dass ihr Kind von Hausaufgab­en überforder­t ist, oder die Menge überhandni­mmt, rät der Bildungsps­ychologe zum Gespräch: „Man sollte mit Kindern darüber sprechen, wie es ihnen mit den Hausübunge­n geht, bei Auffälligk­eiten auch mit Lehrkräfte­n.“Wichtig: Strauchelt das Kind, können auch Unterforde­rung oder Interessel­osigkeit dahinterst­ecken.

Auch auf gesellscha­ftspolitis­cher Ebene plädiert Götz für Austausch: „Es ist wichtig, die Debatte bezüglich der Primarstuf­e ergebnisof­fen zu führen – und die Tradition der Hausübunge­n nicht einfach unreflekti­ert weiterzufü­hren.“

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Zum Verzweifel­n: Nicht selten macht ein zu großes Hausübungs­pensum Schülerinn­en und Schülern im Alltag zu schaffen

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