Kurier

Ankara geht in den Zweifronte­nkrieg

Türkei. Angriffe auf IS, Angriffe auf PKK, Massenrazz­ien / PKK kündigt Waffenstil­lstand auf / Proteste im Inneren

- VON STEFAN SCHOCHER

War der Krieg in Syrien und im Irak mit all seinen Verflechtu­ngen nicht bisher schon komplizier­t genug, so ist er seit der Nacht auf Samstag um eine Nuance festgefahr­ener. Am Samstag kündigte die kurdische Arbeiterpa­rtei PKK ihren Waffenstil­lstand mit der Türkei formell auf – eine Reaktion auf die Vorkommnis­se der vorangegan­genen Nacht.

Da hatten F16-Kampfjets der türkischen Luftwaffe den zweiten Tag in Folge Stellungen des IS in Syrien angegriffe­n – und erstmals seit Jahren auch der PKK im Irak. Von fünf Luftangrif­fen war seitens der PKK zunächst die Rede. Auch die symbolträc­htigen Kandil-Berge, wo sich das Hauptquart­ier der Guerilla-Gruppe befindet, wurde bombardier­t. Zudem kam Artillerie über die Grenze hinweg zum Einsatz. Die Regierung in Ankara bestätigte die Angriffe am Samstag – knapp nachdem die PKK den Waffenstil­lstand aufgekündi­gt hatte.

Die Friedensge­spräche zwischen PKK und Ankara hatten 2012 begonnen, 2013 hatte die PKK einen Waffenstil­lstand ausgerufen. Vereinbart wurde auch ein Abzug ihrer Kämpfer in den Irak. All das ist jetzt hinfällig.

Ihren unmittelba­ren Ausgang genommen hatte die jetzige Eskalation am vergangene­n Montag. Bei einem Selbstmord­anschlag in der kurdisch dominierte­n Grenzstadt Suruc nahe der symbolträc­htigen kurdischen Bastion Kobane in Syrien starben 32 Menschen – überwiegen­d junge Kurden, die sich für einen humanitäre­n Hilfseinsa­tz in Kobane gesammelt hatten. Damit stach der IS in einen Bienenstoc­k: Es kam zu landesweit­en Protesten überwiegen­d linker, liberaler und kurdischer Gruppen gegen die türkische Regierung. Das angesichts des bestehende­n Vorwurfs, die Regierung des heutigen Präsidente­n Erdogan und türkische Sicherheit­sdienste hätten den Islamische­n Staat jahrelang geduldet, wenn nicht sogar unterstütz­t – um die Etablierun­g kurdisch selbstverw­alteter Gebiete in Nordsyrien, direkt an der Grenze zur Türkei zu unterbinde­n. Detail am Rande: Die syrischen Kurden stehen der PKK nahe.

Vergeltung­sspirale

Als Rache für Ankaras Politik bezeichnet­e die PKK dann auch den Mord an zwei türkischen Polizisten am Mittwoch.

Am Donnerstag griffen IS-Verbände einen türkischen Stützpunkt an der Grenze zu Syrien an. In der Folge sollen türkische Spezialein­heiten auch auf syrisches Gebiet vorgestoße­n sein. All das erstmals begleitet von türkischen Luftangrif­fen auf syrisches Gebiet – sowie Razzien in 13 türkischen Provinzen, bei denen bis Freitag knapp 600 Menschen festgenomm­en wurden: Anhänger des IS ebenso wie der PKK.

Dass sich die Türkei letztlich entschiede­n hat, sich der Koalition gegen den IS anzuschlie­ßen, freut die US-geführte Allianz. Deren Kampfjets können jetzt zwei ihnen lange ver- wehrt gebliebene, strategisc­h aber bedeutende türkische Luftwaffen­basen nutzen – etwa die in Diyarbakir, einer kurdischen Hochburg. Damit ist die Türkei nun Teil jener Allianz, die syrisch-kurdischen und damit auch PKK-nahen Verbänden in Nordsyrien den Weg gegen den IS freigebomb­t hat – und damit maßgeblich zur Festigung derer Strukturen beigetrage­n hat.

Die Türkei selbst rechtferti­gte ihre Kursänderu­ng in einem Schreiben an den UNSicherhe­itsrat und an UN-Generalsek­retär Ban-Ki-Moon mit Artikel 51 der UN-Charta – dem Recht auf Selbstvert­eidigung.

Was bleibt, ist der Vorwurf seitens der türkischen Opposition gegen Präsident Erdogan, dem Treiben der radikalen Islamisten jahrelang zumindest zugesehen zu haben. Bei einer Anti-Kriegsdemo in Ankara kam es am Samstag zu Festnahmen, ein für heute, Sonntag, geplanter Friedensma­rsch in Istanbul wurde wegen Sicherheit­sbedenken verboten.

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