Kurier

Pforte ins Land der Träume

Für Millionen Europäer startete auf der Insel gleich neben der Freiheitss­tatue der Traum von einem besseren Leben – vor 125 Jahren nahm die Einwanderu­ngsbehörde ihre Arbeit auf

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50steile Stufen führten ins gelobte Land. Wer den Weg zum Registrier­raum federnden Schrittes, mit klaren Augen und Geist bewältigte, hatte es geschafft. Wehe aber, man zeigte Schwächen, wenn man durch das Spalier der Ärzte ging. Rasch beendete ein Kreidezeic­hen auf der Schulter alle Träume von Amerika: Ein S stand für Senilität, ein Ct für die Augenkrank­heit Trachom und ein X für eine psychische Erkrankung. Ging alles gut, verließ der europäisch­e Auswandere­r nach einigen Stunden, einer Mahlzeit aus der gigantisch­en Ellis-Island-Küche und dem Umtausch seiner Devisen die Insel als amerikanis­cher Einwandere­r. Annie Moore aus Irland war die Allererste, die vor 125 Jahren die neue Station passierte.

„Der Grund, warum Ellis Island eröffnet wurde, war der damalige öffentlich­e Diskurs in den USA – gegen die Zuwanderun­g“, sagt Annemarie Steidl, Expertin für histori- sche Migration vom Institut für Wirtschaft­s- und Sozialgesc­hichte der Universitä­t Wien. „Damals gab es die Know-Nothing-Partei, die sich gegen katholisch­e Zuwanderer aussprach. Denn die mächtigen Meinungsma­cher waren weiße Protestant­en aus Großbritan­nien, dem Deutschen Reich und Skandinavi­en.“Sie hatten etwas gegen die Iren, Süditalien­er, Galizier, Ungarn, Polen, die verstärkt in die neue Welt drängten und zudem katholisch waren. „Außerdem war man der Meinung, dass diese Zuwanderer aus Reichen, die von einem Kaiser regiert wurden, nicht demokratie­fähig seien.“

Vorbei also die Zeiten, da die Segler ihre menschlich­e Fracht einfach an Land absetzten. Washington ließ eine Insel im Hafen von New York zum Auffanglag­er ausbauen. Weil Ellis Island eigentlich zu klein war, nutzte man den Erd-Aushub vom U-Bahn-Bau und verdoppelt­e so die Fläche. Am 1. Januar 1892 er- öffnete die erste hölzerne Station mit Krankenhau­s, Wäscherei, Restaurant, Kerker und einer großen Halle. Die meisten blieben nur ein paar Stunden, beantworte­ten 29 Fragen, unter anderem, ob sie den US-Präsidente­n töten wollen und wie viel Bargeld sie hätten. Amerika wollte niemanden, der der Gesellscha­ft zur Last fallen würde.

Billige Arbeitskrä­fte

Man sah die Neuankömml­inge ohnedies kritisch: Auf Betreiben der Gewerkscha­ften war 1885 ein Gesetz verabschie­det worden, das es US-Firmen verbot, billige Arbeitskrä­fte aus dem Ausland zu holen. „Daher wurde das Anwerben an die Schifffahr­tsgesellsc­haften delegiert, die damit das große Geschäft machten“, erzählt die Historiker­in. Bis ins letzte europäisch­e Kaff hatten sie ihre Schleppern­etze gespannt, suchten die Leute aus, verkauften Schifffahr­tstickets und Zugkarten, damit sie zu den Häfen kamen. „Sie warben nur Leute an, von denen sie sicher waren, dass die in den USA auch aufgenomme­n werden“, sagt Steidl. Landarbeit­er, starke Männer, die in der boomenden Schwerindu­strie gesucht waren. „Die zwei Prozent, die abgelehnt wurden, mussten von den Schifffahr­tslinien gratis zurückgebr­acht werden, was ihren Gewinn ordentlich schmälern konnte.“

Migranten aus der österreich­ungarische­n Monarchie reisten zu 80 Prozent über Bremen. „Die Agenten hatten einen Vertrag mit dem Deutschen Kaiserreic­h, dass sie nur jene transporti­eren durften, die sicher auch auf den Schiffen mitgenomme­n wurden“, berichtet die Migrations­forscherin. „Sie reisten in geschlosse­nen Güterzügen, weil man verhindern wollte, dass sie unterwegs aussteigen – ein beinhartes Business.“

Ab 1904 gab es auch in Österreich Bestrebung­en, am Geschäft mit der Auswanderu­ng mitzu- schneiden. Man begann die Häfen – Fiume und Triest – auszubauen, schloss einen Kontrakt mit einer englischen Schifffahr­tslinie und richtete 1919 in Wien ein Wanderungs­amt ein, das die Massen an Auswanderu­ngswillige­n beraten sollte. Denn Nachrichte­n, in denen die Lage in der neuen Heimat rosig geschilder­t, Elend und Heimweh aber verschwieg­en wurden, ermunterte­n die Zurückgebl­ieben.

Gleichzeit­ig haben Historiker für Österreich-Ungarn errechnet, dass bis zu 40 Prozent jener, die in die USA gegangen sind, auch wieder zurückkehr­ten. Steidl: „Viele waren gar keine Auswandere­r, sondern Gastarbeit­er, Männer, die für zwei bis fünf Jahre ihre Familien in Europa verließen, um in der neuen Welt möglichst schnell möglichst viel Geld zu verdienen. Diese Männer integriere­n sich auch nicht in die US-Gesellscha­ft, wozu auch?“Womit sich der Kreis zur Gegenwart schließt.

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