Die Zukunft Europas
Viele Eu-bürgerinnen und -Bürger haben den Eindruck, dass über ihre Köpfe hinweg und an den Parlamenten vorbei eine Zentralisierung politischer Entscheidungen stattfindet, die als Demokratieverlust wahrgenommen wird. Wie es um die Zukunft von Demokratie und Währungsunion in Europa steht und ob Europa die gegenwärtigen multiplen Krisen bewältigen kann, hat sich Alfred Auer anhand einiger aktueller Bücher angesehen.
Viele Eu-bürgerinnen und Bürger haben den Eindruck, dass über ihre Köpfe hinweg und an den Parlamenten vorbei eine Zentralisierung politischer Entscheidungen stattfindet, die als Demokratieverlust wahrgenommen wird. Im Zuge der Staatsschuldenkrise verschärft sich dieser Eindruck noch. Gleichzeitig werden immer öfter Stimmen laut, die fordern, dass politische Entscheidungen demokratisch verantwortet sein müssen. Wie es um die Zukunft von Demokratie und Währungsunion in Europa steht, und ob Europa mit der gegenwärtigen multiplen Krise überfordert ist, hat sich Alfred Auer anhand einiger aktueller Beiträge angesehen.
Europa braucht mehr Demokratie
Die 27 Eu-staaten haben ein Sparbudget für die Jahre 2014 bis 2020 verabschiedet. Die Kommentatoren stimmen darin überein, dass es kein großer Wurf geworden sei, um Wachstum zu stimulieren, gegen die Jugendarbeitslosigkeit vorzugehen und längerfristige Perspektiven zu entwickeln. Eines ist aber klar: auch in Zeiten von Sparbudgets und Fantasielosigkeit wird sich die Zukunft Europas nur demokratisch gestalten lassen. Das Leitbild einer „lebendigen Demokratie“, wie es den Autoren hier vorschwebt, muss aber unter dem Erhalt „intakter“mitgliedstaatlicher Demokratien gedacht werden.
Ursachen des Demokratieproblems
Die im Auftrag der Heinrich Böll-stiftung vorgelegte Studie dient der Erarbeitung einer Grundlage für politische Forderungen nach Stärkung der europäischen Demokratie. Gleich zu Beginn stellen
die Autoren klar, dass eine solche Demokratisierung europäischer Entscheidungsprozesse nicht notwendigerweise die Vereinigten Staaten von Europa verlange. Auch die Ursachen des „demokratischen Problems“sehen die Autoren nicht ausschließlich in europäischen Eigenarten. Vielmehr gelte Europa als Vorreiter einer weltweiten Entwicklung, „in der Staaten als Folge intensiver grenzüberschreitender Verflechtungen in vielen Lebensbereichen, namentlich der Wirtschaft, der Politik, der Kultur, der Wissenschaft und des Sports in Beziehungsgeflechte wechselseitiger Abhängigkeiten eingebettet sind, die ihnen immer seltener autonome Entscheidungen erlauben“(S. 14f.). Internationale Organisationen (IWF, WTO, Weltbank) kommen ins Spiel, die eigene Politiken und Programme entwickeln. Und heute erfahren Mitgliedstaaten immer öfter, dass ihre Entscheidungsfreiheit durch Akteure jenseits ihrer Grenzen erheblich eingeschränkt werden. Außerdem habe man es längst mit einem Mehrebenen-par-
lamentarismus zu tun. „Es bedeutet aber auch, dass wir die Bedingungen einer Demokratisierung europäischer Herrschaft nicht länger auf den einen großen Legitimationskörper beziehen können, wie es für die nationalen Demokratien in durchaus unterschiedlicher Adressierung ‚Das Volk‘ darstellt.“(S. 117f.)
Demokratisierung der Eu-politik
Grundlage der theoretischen Erörterung ist auch hier der Lissabon-vertrag (Eu-reformvertrag von 2007), auf dessen demorkatiepolitische Bedeutung schon mehrfach eingegangen wurde, weshalb wir uns hier den „Vorschlägen zur Entfaltung europäischer Demokratie“zuwenden. Wie bereits erwähnt geht es Franzius/preuß primär um das Demokratisierungspozential diesseits der Schwelle zum europäischen Bundesstaat. Sie machen deutlich, dass sich die europäische Demokratie nicht unter Vernachlässigung der mitgliedstaatlichen Demokratien stärken lassen wird. (S. 107) Strategien zur Demokratisierung europäischer Politik ließen sich auch nicht nur in der Bereitstellung passender Institutionen, Kompetenzen und Verfahren realisieren, und sie verweisen darauf, dass Grundsätze des guten Regierens schon im Weißbuch der Kommission zum „Europäischen Regieren“(2001) proklamiert worden seien. Für beide Autoren ist klar, dass hinsichtlich partizipativer Rechte einige positive Neuerungen eingeführt wurden, die allerdings noch besser ausgestaltet werden müssten (verbesserte Bürgerbeteiligung, Betroffenenmitwirkung sowie der Dialog mit repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft, vgl. S. 164).
Letztlich bleibt es aber eine der großen Herausforderungen an die demokratischen Systeme der Mitgliedstaaten, ihre Politik an den Willen der Staats- und Unionsbürgerinnen und -bürger zurückzubinden und zivilgesellschaftliche Beteiligungsrechte auszubauen. A. A.
Demokratisierung: Europa
32 Franzius, Claudio; Preuß, Ulrich K. Die Zukunft der europäischen Demokratie. Baden-baden: Nomos Verl.-ges., 2012. 181 S. (Recht und Politik in der europäischen Union; 2) € 48,- [D], 49,50 [A], sfr 67,20 ISBN 978-3-8329-7684-2
Baustelle Eu-demokratie
Das Demokratiedefizit der Europäischen Union ist längst ein geläufiges Schlagwort. Nachholbedarf wird in fast allen politischen Bereichen gesehen, wobei das besonders sensible Feld der Sicherheits- und Verteidigungspolitik naturgemäß besondere Aufmerksamkeit der interessierten Öffentlichkeit in den jeweiligen Mitgliedstaaten findet.
Bis heute hat die EU über 20 zivile und militärische Missionen im Rahmen der GSVP (Gemeinsame Sicherheitsund Verteidigungspolitik) auf drei Kontinenten durchgeführt. Die Entscheidung zur Entsendung von nationalen Streitkräften im Rahmen einer Eu-mission muss im Rat einstimmig entschieden werden. Kritisiert wird dabei von vielen Beobachtern „eine unzureichende Beteiligung der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments“(S. 21f.). Zudem ist die demokratische Legitimität in den nationalen Parlamenten unterschiedlich gewährleistet. „Während es in manchen Mitgliedstaaten einen Parlamentsvorbehalt zur Entsendung von nationalen Streitkräften gibt, werden andere Parlamente lediglich über die Entscheidungen ihrer Regierungen im Nachhinein informiert.“(S. 22)
Der Europaexperte Julian Böcker analysiert die Materie mit Blick auf das deutsche, das britische und das Europäische Parlaments, um eine konkrete Bewertung vornehmen zu können. Er kommt zu dem Schluss, dass es keine universell akzeptierte Definition demokratischer Legitimität gebe. Deshalb seien Politik und Wissenschaft gefordert, den unterschiedlichen nationalen Legitimitätsvorstellungen ausreichend Rechnung zu tragen. „Dies gilt insbesondere für die GSVP und die Entscheidung nationaler Regierungen und Parlamente, Soldaten unter Einsatz ihres Lebens in Krisenregionen zu schicken.“(S. 237) Insofern wird in der GSVP kein Demokratiedefizit gesehen, da demokratische Legitimität primär durch die nationalen Regierungen und sekundär durch die ergebnisorientierte und die intergouvernementale bzw. supranationale verfahrensorientierte Legitimation gewährleistet bleibe. In einzelnen Mitgliedstaaten gibt es sogar Bestrebungen einer stärkeren parlamentarischen Einbindung bei der Entscheidung über die Entsendung von nationalen Streitkräften (etwa in Großbritannien). Ungarn beschreitet diesbezüglich den Weg der umgekehrten Reform (Schwächung der parlamentarischen Einbindung), um bei multilateralen Einsätzen handlungsfähiger zu sein. Abgesehen von solch negativen Ausreißern gilt in der europäischen Verteidigungspolitik, dass das Europäische Parlament diese Aufgabe gemeinsam mit den Parlamenten der Mitgliedsländer wahrnehmen muss und deshalb eine ausreichende Rückbindung an die Wähler vorhanden ist. A. A.
Verteidigungspolitik: EU
33 Böcker, Julian: Demokratiedefizit der Sicherheitsund Verteidigungspolitik der EU? Analyse des deutschen, britischen und Europäischen Parlaments. Baden-baden: Nomos Verl.-ges., 2012. 281 S., € 49,- [D], 50,50 [A], sfr 68,60 ; ISBN 978-3-8329-7206-6
Europa und die Währungskrise
Hat die Europäische Währungsunion eine Zukunft, fragte der Herausgeber Thomas Sauer in seinem 2012 erschienenen Band. Seine Antwort ist Ja, aber es müsse sich vieles in Richtung einer Finanz- und Sozialunion ändern. Auch eine Mehrheit der führenden deutschen Ökonomen glaubt an eine Zukunft der Währungsunion. Das geht aus einer Umfrage hervor, die „ZEIT ONLINE“bei 13 deutschen Volkswirten durchgeführt hat. Sieben halten die Euro-zone für überlebensfähig, fünf äußern sich skeptisch und Stefan Homburg von der Uni Hannover geht gar davon, dass die „Geschäftsgrundlage des Euro entfallen ist“und „die Geschichte über ihn hinweggehen wird“. (www.zeit.de/wirtschaft/2010-06/eurozone-zukunft)
Es bleibt also spannend - v. a. auch mit Blick auf Italien - und ob die Euro-rettung gelingen wird, ist weiter offen. Einen Überblick über Möglichkeiten und Grenzen der Währungsunion bietet dieser Band.
Das Korridormodell
Arne Heise untersucht zunächst die Entwicklung des Eu-governance-systems vor dem Hintergrund der Weltfinanzkrise. Im Kern seiner Untersuchung steht die Frage, ob die im Zuge der Euro-krise ergriffenen Maßnahmen „Soziales Lernen“widerspiegeln oder nicht (vgl. S. 8)? Heise spart dabei nicht mit Kritik an den Fehlern der europäischen Wirtschaftspolitik und erörtert einige Änderungsvorschläge. Dabei geht es ihm um die strukturellen Probleme der Eurozone (Haushaltsschieflagen, mangelnde Wachstumsdynamik, soziale Leerstellen und zunehmende Leistungsbilanzungleichgewichte). Insgesamt müssten, so Heise, die Alternativen zunächst an den identifizierten Problemen der Eu-integration ansetzen. Das „soziale Defizit“könne im Rahmen des so genannten „Korridormodells“gelöst werden. Die Grundidee dieses in den 1990er-jahren entwickelten Modells ist die Wahrung des engen Zusammenhangs von ökonomischem und wohlfahrtsstaatlichem Entwicklungsniveau in den Eu-staaten. Darüber hinaus sei aber auch eine wachstumsförderliche Makrosteuerung zu entwickeln, „ohne die demokratische Legitimierung der Akteure zu unterlaufen und die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen zu gefährden“(S. 37). Schließlich müsse eine stärkere Koordinierung bzw. sogar Harmonisierung der Steuersysteme in der EU verfolgt werden. Nicht zuletzt fordert Heise die weitere Zentralisierung wesentlicher Politikbereiche, die Etablierung einer echten europäischen (Wirtschafts-)regierung mit eigenständigem Besteuerungspotenzial und echter Kontrolle im Sinne einer Überwindung des „demokratischen Defizits“(vgl. S. 37ff.).
Karlheinz Ruckriegel konzentriert sich in seiner Untersuchung auf das Verhalten der EZB während der Finanzkrise. Unüberhörbar ist auch bei ihm der Ruf nach einer Politischen Union mit Durchgriffsrechten auf die nationalen Haushalte, „damit die EZB auch die Rolle spielen kann, die sie in einer Welt mit irrlichternden Finanzmärkten spielen muss, um den Eurowährungsraum vor größerem Schaden zu bewahren“(S. 66).
Krisenstrategien
Stefan Ederer, Koordinator des Forschungsbereichs Makroökonomie und europäische Wirtschaftspolitik am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO), sieht in einer gemeinschaftlichen „Haftung der Länder des Euroraums für Staatsschulden die wichtigste Voraussetzung für die Wiederherstellung des Vertrauens in die öffentlichen Finanzen“(S. 167). Notwendige Instrumente dazu sind der Ausbau des Rettungsschirms, die Ausgabe von Eurobonds oder die Bereitstellung von Liquidität durch die EZB. Zudem seien Maßnahmen zur Stabilisierung des Wirtschaftswachstums anstelle von immer neuen Sparbemühungen notwendig. Weitere Forderungen des Experten sind der deutliche Ausbau fiskalischer Transfers innerhalb der Währungsunion (um die besonders stark von der Krise betroffenen Länder zu stabilisieren), langfristig wirksame Maßnahmen für Wachstum und die Begrenzung der öffentlichen Verschuldung (in Relation zur Wirtschaftsleistung). Nur so könne nach Ansicht des Experten der Zerfall oder eine Spaltung der Währungsunion verhindert werden. A. A.
EU Währungsunion
34 Die Zukunft der Europäischen Währungsunion: Kritische Analysen. Hrsg. V. Thomas Sauer. Marburg: Metropolis-verl., 2012. 174 S., € 19,80 [D], 20,40 [A], sfr 27,70 ; ISBN 978-3-89518-926-5
Krise der Sozialdemokratie
Es war bereits oben von einigen europäischen Krisensymptomen die Rede. Auch in der europäischen Sozialdemokratie sind deren einige auszumachen. Stimmenverluste bei Wahlen und sinkende Mitgliedszahlen sind dafür der wohl augenscheinlichste Beleg. Der Anteil jener Mitgliedstaaten, die noch Ende der 1990er-jahre überwiegend von sozialdemokratischen Regierungschefs geführt wurden, ist im Jahr 2010 auf fünf von 27 zusammengeschmolzen. Der Vergleich europäischer und internationaler Sozialdemokratien soll klären, was an Reformvorschlägen gewinnbringend für die Parteien umgesetzt werden könnte und ob der gegenwärtige Niedergang bereits den Keim künftigen Wiedererstar-
kens in sich trägt. Dabei geht es auch um das Verhältnis von Parteispitze und den politischen Mitwirkungsmöglichkeiten der Mitglieder. A. A.
Sozialdemokratie: EU
35 Genossen in der Krise? Europas Sozialdemokratie auf dem Prüfstand. Hrsg. v. Felix Butzlaff ...
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011. 302 S.,
ISBN 978-3-525-38000-0
NATO Neu
Für den Herausgeber der Wochenzeitung DIE ZEIT war die NATO das mächtigste, verlässlichste und erfolgreichste Verteidigungsbündnis der Weltgeschichte. Aber mit dem Gegner im Osten verlor das Bündnis den „Kern seinesdaseinszweckes“(s.8).zweijahrzehntenachdem Ende des Kalten Krieges stellt sich daher die Frage, ob das Bündnis überhaupt noch gebraucht wird. Nach Sommer muss die NATO ihren Auftrag neu definieren. Sommer plädiert dafür, die militärische Seite zu verschlanken und sich als Zukunftsbund zwischen den USA und der EU zu etablieren. Die NATO sollte sich als Allianz, in der Europa und Amerika auf Augenhöhe zusammenwirken, entwickeln, so die Vision des renommierten Publizisten. A. A. NATO
36 Sommer, Theo: Diese NATO hat ausgedient. Das Bündnis muss europäischer werden. Ein Standpunkt. Hamburg: Ed. Körber-stiftung, 2012. 126 S., € 10 [D], 10,30 [A], sfr 14,- ; ISBN 978-3-89684-144-5