Demokratie und Partizipation
Die Idee der Beteiligung liegt fast allen großen politischen Revolten der letzten Jahre zugrunde. Doch stehen wir tatsächlich am Beginn eines partizipativen Zeitalters? Alfred Auer hat sich umgesehen - von Social Networks bis zum Albtraum Partizipation, und Stefan Wally widmet sich in einer Besprechung der „Neuen Macht der Bürger“.
Diese Idee liegt fast allen großen politischen Aufregern der letzten Jahre zugrunde, von Occupy Wall Street über die Revolutionen in Nordafrika bis hin zur Internetbewegung Anonymus. Aber stehen wir wirklich am Beginn eines partizipativen Zeitalters? Verschiedene Aspekte des Phänomens hat sich Alfred Auer angesehen – von den Partizipationsmöglichkeiten in den Social Networks bis zum Albtraum Partizipation – und Stefan Wally widmet sich in einer Besprechung der „Neuen Macht der Bürger“.
Zivilgesellschaft in Europa
Die EU greift mit ihren Entscheidungen immer stärker in das Leben der Bürger und Bürgerinnen ein und es stellt sich die Frage, inwieweit diese Entscheidungen auf demokratischem Wege zustandekommen. Eine Antwort darauf glaubt die EU im Vertrag von Lissabon gefunden zu haben. Darin wurden nämlich erstmals im Primärrecht der EU zentrale Prinzipien partizipatorischer Demokratie verankert. So wurde der Dialog mit der Zivilgesellschaft systematisch ausgebaut und die bereits praktizierten, mitunter intransparenten Konsultationsverfahren auf eine vertragliche
Grundlage gestellt. Vor diesem Hintergrund dokumentieren die Autorinnen dieses Bandes Ergebnisse eines Projektes der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Implementierung zivilgesellschaftlicher Partizipation und dessen Beitrag zum Abbau des Demokratiedefizits in der EU. Ziel ist erstens die Klärung der Fragen nach den Faktoren, die den Grundsatz „partizipativen Regierens“zu einem Leitprinzip haben werden lassen und zweitens, ob die Praxis der Entscheidungskultur demokratischen Standards genügt. Wie sich herausstellt, ist die Beantwortung dieser beiden scheinbar einfachen Fragen überaus komplex, weil nicht nur die Entscheidungs-
findung sehr unterschiedlichen Praktiken folgt, sondern auch die Begriffe Demokratie und Zivilgesellschaft sehr unterschiedlich definiert werden.
Praxis partizipativer Demokratie
Die partizipative Demokratie, also das Regieren gemeinsam mit der Zivilgesellschaft, ist ein Kernpunkt der europäischen Verfassung. Beate Kohler-koch untersucht deshalb zunächst diesen Anspruch auf Bürgernähe empirisch und analysiert, auf welche Weise die zivilgesellschaftliche Einbindung tatsächlich erfolgt. Gleichzeitig prüft sie, inwieweit die politische Praxis das Qualitätsmerkmal „partizipative Demokratie“verdient. Partizipation geht grundsätzlich davon aus, „dass die von einer Politik Betroffenen die Möglichkeit haben, sich unmittelbar und themenspezifisch in den Politikprozess einzubringen“(S. 7). Genau deshalb bedarf es zusätzlicher Mechanismen, um ein Regieren im Interesse der Bürger sicherzustellen, so die These von Kohler-koch. Dabei geht es ihr aber nicht nur um die vielen unterschiedlichen Gesichter der europäischen Zivilgesellschaft, sondern auch um die Analyse des engen Zusammenhangs zwischen demokratietheoretischen Präferenzen und Ordnungsvorstellungen, die sich mit dem Begriff der Zivilgesellschaft verbinden. Sie benennt zwei ambivalente Grundkonzepte und stellt deren Widersprüchlichkeit heraus: Mit der Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure in die konkrete Politikgestaltung könnten diese, so die Annahme von Beate Kohler-koch, „nicht gleichzeitig die kritische Öffentlichkeit bilden und Nährboden für eine transnationale aktive Bürgerschaft sein“(S. 73).
Weiters diskutieren Christine Quittkat und Beate Kohler-koch die Zusammenarbeit der Kommission mit gesellschaftlichen Gruppen, die sich im Laufe der Zeit zu einem „Konsultationsregime“verdichtet haben. Dabei zeichnen sie Entwicklungslinien von rein hierarchischen Beratungsformen über projektgebundene Beteiligungen ausgewählter Verbände bis hin zur Ausweitung von verpflichtenden Konsultationen auf nahezu alle Politikfelder nach. Die Vernetzung neuer Akteure wird sodann in den Bereichen Gesundheit und Verbraucherschutz sowie Beschäftigungs-und Sozialpolitik analysiert. Anschließend zeigt Christine Quittkat die breite Palette der Konsultationsinstrumente. Sie stellt dabei vor allem die technischen Möglichkeiten und demokratischen Zugewinne durch Online-konsultationen heraus und zeigt, wie die Europäische Kommission diese konkret gestaltet und wie dadurch das Versprechen, die Zivilgesellschaft umfassend und wirkungsvoll einzubinden, zum Teil eingelöst wird. Trotz Verbesserungen, so Quittkat, könne das Instrument aber nur in begrenztem Maße die Anforderungen an demokratische Partizipation erfüllen, weil nach wie vor Ungleichgewichte in der Vertretung der Interessen bestünden.
Ein weiteres Thema ist die Herstellung von Öffentlichkeit als Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft (Christina Altides). Die vergleichende Untersuchung der Kommunikationspolitik ausgewählter Verbände in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien verdeutlicht Unterschiede vornehmlich zwischen den Ländern und auch zwischen unterschiedlichen Typen von Verbänden. Dabei zeigt sich, wie begrenzt die Chancen für die Schaffung europäischer Öffentlichkeiten im Grunde noch sind.
In der abschließenden Zusammenschau kommt Kohler-koch zu einer ernüchternden Beurteilung der Beteiligungspraxis insgesamt. Als Nebenwirkung „mit zweifelhaften demokratischen Effekten“(S. 268) werde zum einen die Kommission gestärkt, da der Brückenschlag zum Europäischen Parlament nach wie vor fehle. Zum anderen könne die Anerkennung zahlreicher Nicht-regierungsorganisationen nicht darüber hinwegtäuschen, dass von gleichen Beteiligungschancen der Bürgerinnen und Bürger keine Rede sein könne, sondern mitunter lediglich eine „Pluralisierung der europäischen Lobby“(S. 241) erfolge. Schließlich zeigt die Mitherausgeberin auch, dass der Verfassungsgrundsatz der partizipativen Demokratie von Anfang an ein überhöhter normativer Anspruch war, der nicht mit dem Verfassungssystem der EU kompatibel sei und somit auch nicht als Referenz für die Beurteilung der Rolle der Zivilgesellschaft tauge. Zwar sei eine Pluralisierung der europäischen Lobby unübersehbar, die unerlässliche Rückbindung an den Bürger ist nach Ansicht der Autorin aber nach wie vor nicht gelungen. A. A.
Demokratie: partizipative
37 Die Entzauberung partizipativer Demokratie. Zur Rolle der Zivilgesellschaft bei der Demokratisierung von Eu-governance. Hrsg. v. Beate Kohler-koch ... Frankfurt a. M. (u.a.): Campus, 2011. 323 S., € 34,90 ISBN 978-3-593-39293-6
Partizipation in Social Networks
Wird im allgemeinen nur vage von den neuen Potenzialen der Social Networks wie Facebook, Twitter, den Vz-netzwerken, Hyves u. a. gesprochen, geht es in Kristin Pleugers Magisterarbeit viel konkreter darum, welche soziodemografischen Zielgruppen das Angebot politischer Partizipation in So-
cial Networks nutzen und welche Rolle diese Networks für die politische Partizipation spielen. Auskunft über den Ist-zustand sollen theoretische und empirische Analysen ebenso liefern wie eine Online-nutzerbefragung.
Digitale Demokratie
Digitale Demokratie beinhaltet drei Komponenten: Politische Partizipation, eine dauerhafte wechselseitige Kommunikation zwischen Bürger- und Politikebene sowie neue, demokratisch verantwortungsbewusst vermittelnde Medien. Der Weg, den die Botschaften in der digitalen Demokratie gehen, ist dabei sowohl ein Informationsfluss topdown (Governement-to-citizen) als auch eine bottom-up Kommunikation (Citizen-to-citizen). (vgl. S. 72)
Das Internet als Begegnungsstätte, als ein Mitmachweb mit stark kommunikativem Charakter kennt inzwischen eine Vielzahl an Plattformen, die von der Autorin zunächst in ihrer Entstehungsgeschichte sowie einem Ausblick auf zukünftige Entwicklungen besprochen werden. Der politischen Partizipation in Social Networks ist ein eigener Abschnitt gewidmet, wobei zunächst grundlegend der Begriff geklärt und anschließend der Prozess der politischen Kommunikation analysiert wird. Geht es um die Rolle der Social Networks als Beteiligungsform, tut sich die Autorin schwer, sich auf bestimmte Möglichkeiten festzulegen. „Social Networks können also besser als vielseitiges Kontaktmedium gesehen werden, welches im Rahmen fast aller Partizipationsformen genutzt werden kann“, meint sie (S. 66). In diesem Zusammenhang kommen verschiedene Typen der Nutzung zur Sprache. Pleuger unterscheidet etwa zwischen den Traditionalisten (Parteimitglieder, Teilnahme an Wahlen, Engagement im Wahlkampf) und den Reformern, die sich in NGOS oder Single Issue Movements engagieren. In beiden Feldern der Partizipationstypen kann dabei noch zwischen viel und wenig Engagierten differenziert werden.
Was die Beteiligungsmöglichkeiten in Zeiten der Politikverdrossenheit und stetig rückläufiger Wahlbeteiligung insgesamt angeht, gibt sich die Autorin bescheiden und sieht diese nur als einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Es gehe darum, sich auf einfache Art und Weise politisch zu informieren und zu engagieren. In jedem Fall müsse man, auch wenn neue technische Möglichkeiten immer einfachere Werkzeuge bieten, selbst aktiv werden und es müsse auch ein Grundstock an politischem Interesse vorhanden sein.
Ob elektronische Demokratie, ob E-democracy, Egovernment oder einfach nur digitale Demokratie, allen Begriffen ist die Absicht gemein, „mit Hilfe von neuen technischen Hilfsmitteln wie dem Internet eine möglichst transparente Form der bürgernahen Politik zu schaffen“(S. 71). Anknüpfend an das Konzept der deliberativen Politik von Jürgen Habermas gibt das Konzept der digitalen Demokratie Bürgern die Möglichkeit, die eigene politische Meinung diskursiv mit anderen zu entwickeln (vgl. S. 72). Für Habermas ist es eine Politik der argumentativen Abwägung, der gemeinsamen Beratschlagung und Verständigung über öffentliche Angelegenheiten.
Empirische Untersuchung
Sind die theoretischen Grundlagen des hier behandelten Forschungsgegenstandes auch stringent und nachvollziehbar reflektiert, so fehlt es dem empirischen Teil doch etwas an Tiefe. Über einen teilstandardisierten Online-fragebogen wurde im Schneeballprinzip eine Zufallspopulation in den drei im Rahmen dieser Arbeit vorgestellten Social Netwoks Studievz/mein/vz, Facebook und Hyves in Deutschland und den Niederlanden befragt. Auf deutscher Seite waren 732 Personen interessiert, 594 nahmen letztlich an der Befragung teil und 447 Personen füllten den Fragebogen tatsächlich zur Gänze aus; in den Niederlanden beteiligten sich etwas weniger Personen daran. Der gewählte Fragenkatalog bezog sich direkt auf Gründe für die Teilnahme an sozialen Netzwerken und verlangt eine Auskunft über prinzipielle Partizipationsbereitschaft. Die Ergebnisse bleiben dann jedoch sehr allgemein und zeigen lediglich, dass die politische Beteiligung in Social Networks tatsächlich höher ist als im Offline-bereich (vgl. S. 128). Einig ist man sich laut Studie darüber, „dass die Hemmschwelle zur Kontaktaufnahme politischen Instanzen gegenüber durch den Einsatz von Social Networks sinkt und der Dialog zwischen Politik und Bürger somit vereinfacht werden könnte“(S. 129). Kritisiert wird von den Nutzern allerdings, dass Social Networks noch immer nicht angemessen zur Kommunikation mit den Wählern genutzt würden.
Deutlich wird zudem, „dass die Möglichkeiten zum Dialog zwischen Politik- und Bürgerebene in den Social Networks ein nicht zu unterschätzendes Mittel zur politischen Partizipation und zur politischen Kommunikation darstellen“(S. 132). A. A.
Demokratie: Internet
38 Pleuger, Kristin: Des Bürgers neue Stimme. Möglichkeiten der politischen Partizipation in Social Networks. Ein Vergleich der Potenziale von Facebook, Hyves & Co. Marburg: Tectum Verlag 2012; 170 S., € 25,60
ISBN 978-3-8288-2919-0