Entfesselte Wissenschaft
Neue Erkenntnisse der Wissenschaften legen es nahe, scheinbar unumstößliche Prinzipien unseres Denkens
- und damit zugleich unserer Sicht der
Welt - vorbehaltlos zu prüfen und zu ergänzen. Walter Spielmann hat sich diesbezüglich umgesehen und stellt
Überlegungen vor, die über wissenschaftliche Routinen weit hinausgehen.
„Sapere aude“(„Wage zu denken“) - dieser Leitsatz der Aufklärung hat an Aktualität nichts verloren. Neue Erkenntnisse der Wissenschaften legen es nahe, scheinbar unumstößliche Prinzipien unseres Denkens - und damit zugleich unserer Sicht der Welt - vorbehaltlos zu prüfen und zu ergänzen. Walter Spielmann hat sich diesbezüglich umgesehen und stellt Überlegungen vor, die über wissenschaftliche Routinen weit hinausgehen. Rupert Sheldrakes Fundamentalkritik des Materialismus, die Aufforderung, die Rolle der Universität im 21. Jahrhundert grundsätzlich neu zu denken, erste Befunde einer „Transformationswissenschaft“, in der vor allem Aspekte eines nachhaltigen Wandels neu beleuchtet werden, weisen darauf hin, dass zunehmend alternative Wege der Analyse und Problemlösung gesucht werden, um den Herausforderungen unserer Zeit besser begegnen zu können.
Wider die Dogmen des Materialismus
Mit seinem 1981 veröffentlichten Buch „A New Science of Life“(Das schöpferische Universum) sorgte der britische Biochemiker Rupert Sheldrake für erhebliches Aufsehen in der wissenschaftlichen Communitiy. Mit der gut begründeten und umfassend abgesicherten These, wonach selbstorganisierende
Systeme (Pflanzen, Vogelschwärme, Gesellschaften etc.) auf ein kollektives Gedächtnis („morphische Resonanz“) zurückgreifen und sich so, auf die Erfahrungen vorangehender Generationen bauend, weiterentwickeln würden, stieß er auch auf breites öffentliches Interesse. Eine ähnlich starke Wirkung ist dem nun vorliegenden neuen Buch Sheldrakes bisher nicht zuteil geworden; sie wäre aber zumindest ebenso zu
wünschen, denn nun rüttelt der Autor gehörig an den Grundfesten des im 17. Jahrhundert begründeten „naturwissenschaftlichen Glaubensbekenntnisses“insgesamt und plädiert für Naturwissenschaften, die „weniger dogmatisch und dafür wissenschaftlicher agieren, indem sie sich von ihren einengenden Dogmen freimachen“(S. 16).
Dogmen des Materialismus
Die globalisierte Ideologie des Materialismus werde – so Sheldrake scharf formulierend – von einer „wissenschaftlichen Priesterschaft“vertreten, der es gut täte, „im Lichte harter Beweise und neuer Entdeckungen“– diese sind Gegenstand der gleichermaßen sachlich und leidenschaftlich vorgebrachten Argumente Sheldrakes – „bestehende Glaubenssätze zu hinterfragen“. Sheldrake lädt nicht nur durch eine Vielzahl von Befunden und Erkenntnissen dazu ein, sondern stellt am Ende jedes seiner Argumente für eine neue Sicht der (Natur)wissenschaften „Fragen an Materialisten“, die geradezu zwingend nahelegen, sich seinen Argumenten gegenüber zugänglich zu zeigen.
Die globalisierte Ideologie des Materialismus werde - so Sheldrake scharf formulierend - von einer „wissenschaftlichen Priesterschaft“vertreten, der es gut täte, „im Lichte harter Beweise und neuer Entdeckungen“- diese sind Gegenstand der gleichermaßen sachlich und leidenschaftlich vorgebrachten Argumente Sheldrakes - „bestehende Glaubenssätze zu hinterfragen“. Sheldrake lädt nicht nur durch eine Vielzahl von Befunden und Erkenntnissen dazu ein, sondern stellt am Ende jedes seiner Argumente für eine neue Sicht der (Natur)wissenschaften „Fragen an Materialisten“, die geradezu zwingend nahelegen, sich seinen Argumenten gegenüber zugänglich zu zeigen. Im Folgenden zentrale Aussagen zu den vom Autor kritisierten 10 Dogmen des Materialismus: 1.) Die Natur ist nicht mechanisch, sondern ein lebendiger, kreativer, in vielfältigen Hierarchien und Formen sich stetig entwickelnder Organismus. Würden wir erkennen und anerkennen, dass nicht nur die Erde, sondern das gesamte Universum lebendig ist, so würde dies zwar nicht unmittelbar zu neuen, wirtschaftlich nutzbaren Technologien führen, aber es könnte sehr wichtig sein, um beispielsweise die Kluft zwischen den „modernen“Naturwissenschaften und indigenen Sichtweisen zu schließen.
2.) Die Gesamtmenge der Materie und Energie ist nicht konstant. Da wir nur „4% des gesamten Universums einigermaßen kennen“(S. 97) und dieses „überwiegend aus hypothetischer dunkler Materie und Energie besteht, die noch zunehmen könnte, (…) scheint es sich bei den Erhaltungssätzen der Materie und Energie weniger um Prinzipien von kosmischer Gültigkeit, als vielmehr um so etwas wie Bilanzierungsregeln zu handeln (…)“(S. 101). „Freie Energie“, die unbegrenzt verfügbar wäre, rückt damit ebenso in den Bereich des Möglichen wie Energieerhaltung in lebenden Systemen (Stichwort: Lichtnahrung).
3.) Naturgesetze stehen nicht ein für alle Mal fest. Selbst Newtons „Gravitationskonstante“G und die Lichtgeschwindigkeit unterliegen Veränderungen. Anstatt von „Gesetzen“sollte besser von „Gewohnheiten“der Natur gesprochen werden. „Das Schöpferische ist real. (…) Alles, was sich neu ereignet, muss möglich gewesen sein, denn offensichtlich kann nur Mögliches tatsächlich eintreten.“(S. 145)
4.) Materie ist nicht geistlos, sondern bewusst, und die Beziehung zwischen Körper und Geist „eher zeitlicher als räumlicher Natur“. Auf Überlegungen von A. N. Whitehead aufbauend, ist vorstellbar, dass „der Geist eine Wahl zwischen möglichen Varianten der Zukunft trifft, und geistige Kausalität in die Gegenrichtung der physikalischen Kausalität läuft: nicht von der Vergangenheit zur Zukunft, sondern von der Zukunft in die Vergangenheit“(S. 174).
5.) Die Entwicklung der Natur ist von Zwecken und Zielen bestimmt. Der Prozess der Evolution ist auf Kreativität hin angelegt und nicht bloß auf die Abwicklung eines vorgegebenen Plans. „Aus spiritueller Sicht könnten höhere und umfassendere Bewusstseinszustände der Zukunft als Attraktoren wirken, die uns als Einzelne und als Gemeinschaft zur Erfahrung einer höheren Einheit hinziehen.“(S. 207)
6.) Vererbung ist nicht alleine materieller Natur und in den Genen festgelegt. Die Vererbung von Formen, Verhaltensweisen wie auch von Kulturen ist in der morphischen Resonanz präsent.
7.) Erinnerung ist nicht materiell verortet (im Gehirn), sondern ein aktiver Prozess, der wesentlich auch mit Resonanz zu tun hat. „Individuelles und kollektives Gedächtnis sind zwei Ausprägungen desselben Phänomens, nur graduell und nicht grundsätzlich verschieden.“(S. 278)
8.) Geist ist nicht nur als Leistung des Gehirns zu verstehen, sondern bei jeder unserer Wahrnehmungen im Raum ausgedehnt. Mit der Vergangenheit sind wir durch Erinnerungen und Gewohnheiten verbunden, mit der Zukunft durch Wünsche, Pläne und Absichten. Die Tatsache, dass wir nachweislich „Blicke spüren“, kann als Bestätigung für diese These dienen.
9.) Unerklärliche Phänomene wie Telepathie, die
Vorahnung von Katastrophen durch Tier und Mensch und andere parapsychologische Ereignisse sind keine Einbildung. Sie sollten nicht tabuisiert, sondern öffentlich gelehrt und erforscht werden. Dies würde dazu beitragen, „dass wir Geist und soziale Bindungen, Zeit und Kausalität besser und umfassender verstehen“(S. 337). 10.) Alternative und komplementäre Formen der Heilkunde (TCM, Homöopathie, Akupunktur, Hypnose u. a. m.) sollten neben der mechanistischen Medizin gleichrangig behandelt und wissenschaftlich untersucht werden. "Würde man das vom Staat gedeckte Monopol des Materialismus lockern, könnte sich die naturwissenschaftliche und medizinische Forschung z. B. auch der Frage widmen, welche Rolle Überzeugung, Glaube, Hoffnungen, Ängste und gesellschaftliche Faktoren für Gesundheit und Heilung spielen.“(S. 378)
Trugbild Objektivität
In einem weiteren, dem 11. Kapitel, setzt sich Sheldrake pointiert kritisch mit der Illusion naturwissenschaftlicher Objektivität auseinander. Sie sei ein „Trugbild, das der Täuschung und Selbsttäuschung Tür und Tor öffnet. Es untergräbt das hohe Ideal der Wahrheitssuche“(S. 382). Nur auf den ersten Blick scheint diese Aussage widersprüchlich und unhaltbar zu sein, denn Sheldrake beschreibt eine Reihe von naturwissenschaftlichen Praktiken, die seine Behauptung stützen: dazu zählen der Gebrauch des Passivs, die Tatsache, dass Erwartungen die „Ergebnisse färben“, „Blindverfahren“in den meisten Disziplinen nur selten durchgeführt und Forschungsergebnisse in der Regel selektiv publiziert werden. Nicht zuletzt sind Schwindel und Täuschung auch wissenschaftsimmanent zu finden, denn „Kontrollbehörden haben ein erhebliches Interesse daran, nicht nur ihre eigene Reputation, sondern auch die der Wissenschaft insgesamt zu wahren, (…) ist der Glaube an den Glauben von großer Bedeutung für die Erhaltung gesellschaftlicher Institutionen“(S. 406).
Zukunft der Wissenschaften
Wie die Zukunft der Wissenschaft aussehen könnte – und nach Ansicht des Autors auch sollte –, das skizziert Rupert Sheldrake im abschließenden 12. Kapitel. Würden sich die Naturwissenschaften einer umfassenderen „Sicht der Dinge“öffnen und sich von der Fessel des Materialismus befreien, „entstünde nicht nur Raum für neue Dialoge und Debatten, sondern auch für neue Forschungsansätze“. Eine Vielfalt sich wechselseitig befruchtender Wissenschaften wäre die Folge, wenn der „monopolistische Anspruch auf Universalität und absolute Autorität, den einst die katholische Kirche erhob, aufgegeben würde“(S. 428). Es wäre wichtig, „die kontroversielle wissenschaftliche Diskussion im öffentlichen Raum, in den Universitäten und bei Kongressen zur Normalität zu machen“(S. 431); neue Wege der Finanzierung sollten erprobt und vor allem öffentliches Engagement, etwa in Form von „Beteiligungsmodellen“, gefördert werden. Sheldrake plädiert dafür, 1% des jährlichen nationalen wissenschaftlichen Forschungsetats – in Großbritannien wären das 46 Millionen Pfund – „für Forschungen zu reservieren, an denen Menschen außerhalb des Wissenschafts- und Medizinbetriebs wirklich interessiert sind“(S. 435). Vorschläge für die Nutzung der verfügbaren Mittel könnten an unabhängige „Zentren für offene Forschung“gerichtet und dort von einem breit besetzten Gremium beraten und entschieden werden. Die abschließenden Sätze, Hoffnung und Programm zugleich, im Wortlaut: „Mit der Einsicht, dass die Wissenschaften eben nicht alle wesentlichen Antworten bereithalten, wird Bescheidenheit einkehren und die alte Arroganz ablösen, wird Aufgeschlossenheit an die Stelle des Dogmatismus treten. Viel bleibt zu entdecken und wieder zu entdecken, auch Weisheit.“(S. 447f.) W. Sp.
Materialismuskritik
71 Sheldrake, Rupert: Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausgedient hat. München: O. W. Bart, 2012. 491 S. € 24,99 [D], 25,70 [A], sfr 37,50
ISBN 978-3-426-29210-5
Die Universität im 21. Jahrhundert
Was sollen Universitäten jungen Studierenden heute mitgeben und wie sollen sie die wesentlichen Inhalte vermitteln? Das sind die zentralen Fragen, denen sich Jehuda Elkana, er war unter anderem Professor für Wissenschaftstheorie an der ETH Zürich und viele Jahre Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, und Hannes Klöpper, seit 2011 Geschäftsführer der im Bildungsbereich tätigen „iversity Gmbh“, an dieser Stelle gleichermaßen umfassend, tiefgründig und allgemein verständlich widmen.
Aufklärung neu denken
Grosso modo, so eine Ausgangsthese der beiden Autoren, sei die Universität [insbesondere in Europa] „eine der beständigsten“und „die womöglich konservativste gesellschaftliche Institution (abgesehen von der katholischen Kirche und einigen Königshäusern)“(S. 20). Und da ihre hauptverantwortlichen Kräfte vorrangig mit Struktur- und Budgetfragen befasst seien, werde die Kernaufgabe der Bildungseinrichtungen kaum noch wahrgenommen. Um so mehr gelte es – so das leitende Postulat – „eine ‚Neue Aufklärung’ ins Leben zu rufen, die auf dem Prinzip ‚vom loka-
len Universalismus zum globalen Kontextualismus’ aufbaut“(S. 17) und es sich dabei zur Aufgabe macht, „Studierende zu engagierten, mündigen und informierten Bürgern zu erziehen“(S. 21).
Diesem hehren Ziel stehen freilich eine Reihe von Hürden gegenwärtiger Hochschulpraxis im Wege (vgl. S. 25ff.). So sind etwa „nur 5 % der Studierenden an wirklicher Forschung beteiligt“, „erfolgt die Einführung interdisziplinärer Herangehensweisen im Rahmen der Curricula viel zu spät“und wird mit der Fokussierung auf „employability“die Befähigung zur Kritik, Temperament und Neugierde system(at)isch untergraben – so einige der zentralen Kritikpunkte. Um gegenzusteuern, müssten wir wieder lernen und lehren, „dezidiert dialektisch zu denken“, das dogmatische Beharren auf Rationalismus und Objektivität überwinden, aber auch der Lehre gegenüber der Forschung einen höheren Stellenwert einräumen.
Eine weitere zentrale Aufgabe der Universitäten sehen die Autoren darin, „ein allgemeines Bewusstsein für die Ernsthaftigkeit der globalen Menschheitsherausforderungen und den dringenden Handlungsbedarf zu schaffen“(S. 45). Wo Bildung als „die zentrale Dimension einer modernen Gerechtigkeitspolitik“verstanden wird, gehe es vor allem auch darum, „die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Ungleichheit im Ergebnis tatsächlich durch ein Höchstmaß an Chancengleichheit legitimiert wird“. Talente besonders zu fördern, sei nur gerechtfertigt, wenn allen gleiche Chancen eingeräumt würden (S. 62f.).
Engagierte Bürgerschaft heranbilden
Ausführlich setzen sich die Autoren mit der „Idee der Universität“(Kapitel II) auseinander und thematisieren dabei unter anderem das Problem der Kommerzialisierung von Bildung, aber auch der Universalität der ‚Idee Universität’. Ebenso umfassend werden Ziele und Zwecke der Universität in einer historischen Einordnung reflektiert etwa die Bedeutung von Einsamkeit und Freiheit, die Einheit von Lehre und Forschung oder die Aktualität der Anliegen W. v. Humboldts u. a. m.). Ein besonderes Anliegen ist Eklana/ Klöpper die (Be-)förderung einer „engagierten Bürgerschaft“(S. 124ff). Hierzu müssten Wertefragen als Eckstein der Erziehung zu kritischem Denken begriffen, Studierende auf die Komplexität und Unordnung der Lebenswirklichkeit vorbereitet und eine ‚neue Kultur’ des kollektiven, netzwerkbasierten Lernens etabliert werden, in der nicht über die Welt, sondern in und von ihr gelernt wird, fordern sie. Das Autorenduo erörtert aber auch Grundprinzipien einer diesen Vorgaben verpflichteten Bachelor-ausbildung und stellt eine Vielzahl von vor allem aus dem englischen Sprachraum stammenden Beispielen vor, die zeigen, wie die diskutierten Ansätze bereits umgesetzt werden. Weitere umfassend diskutierte, hier nicht näher vorgestellte Themen: eine dringend erforderliche Renaissance der Rhetorik, die Entwicklung neuer Curricula (verbunden mit einer Neubewertung der Geisteswissenschaften sowie die Neubewertung der Einheit von Forschung und Lehre. Dass Elkana/klöpper sich nicht darauf beschränken, hochschuldidaktische Fragen zu diskutieren, sondern darüber hinausgehend etwa den Zusammenhang von Demokratie und Bildung aus philosophischer Perspektive erörtern, ist hervorzuheben und zu würdigen. Kann die Universität, so fragen sie etwa, in Anbetracht der Auflösung aller „Gewissheit und Solidität der faktisch begreifbaren Welt“dazu beitragen, „die Stabilität individuelle und gemeinschaftliche Identitäten auf einen neuen kulturellen Basis zu regenerieren?“(S. 335). Ja. Da moderne Gesellschaften zunehmend auf die politische Reife ihrer Bürger angewiesen seien, komme den Hochschulen eine zentrale Aufgabe zu, argumentieren sie. Von größter Bedeutung sei hierfür allerdings ein neues Verständnis der praktischen Vernunft sowie die Erkenntnis, dass alles Wissen kontextabhängig ist. Ein „pragmatischer Humanismus“würde diese Erkenntnis am besten Rechnung tragen.
Überlegungen zum Promotionsstudium sowie zur Rolle der Universität im digitalen Zeitalter – Stichwort: vom Campus zum Netzwerk – beschließen diesen Band. Er ist uneingeschränkt vor allem jenen zu empfehlen, die sich umfassend mit aktuellen Fragen der (universitären) Bildung jenseits der aktuellen um Diskussion Budgets und Evaluierung beschäftigen wollen. W. Sp.
Zukunftsperspektiven: Universität
72 Elkana, Yehuda; Klöpper, Hannes: Die Universität im 21. Jahrhundert. Für eine neue Einheit von Lehre, Forschung und Gesellschaft. Hamburg: ed. Körber-stiftung, 2012. 504 S., € 18,- [D], 18,55 [A], sfr 27,- ; ISBN 978-3-89684-088-2
Transformative Wissenschaft
Mit der im Jahr 2009 erschienenen Erstausgabe des nun mit zahlreichen Ergänzungen und aktualisierten Kommentaren vorgelegten Bandes haben die Autorinnen – Uwe Schneidewind ist Präsident des Wuppertal Instituts, seine Kollegin ist Mitglied des Nationalkomitees zur Umsetzung der Un-dekade „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“und Lehrbeauftragte an der Universität Lüneburg - bereits wesentliche Impulse für eine neue Akzentuierung der Bildungslandschaft in Deutschland vorgelegt. Mit der nun vorliegenden Neuauflage wird das Grundanliegen, die Debatte um ein neues Verständnis von Wissenschaft und
„Gesellschaftliche Gruppen sollten Mut zu selbstständigen hochschulpolitischen Entwürfen aufbringen und sich dabei von vergangenheitsorientierten ideologischen Barrieren lösen. Es bedarf hochpolitischer Entwürfe von Gewerkschaften, Kirchen Umweltverbänden, aber auch einen politischen Parteien, über die über das Postulat einer Hochschulfreiheit hinausgehen.“(Schneidewind/ Singer-brodowski in 73 ,S. 38)
Gesellschaft zu intensivieren, deutlich unterstrichen.
Eingangs werden die Notwendigkeit einer „Forschungswende“des deutschen Wissenschaftssystems eingemahnt und Bausteine eines neuen Gesellschaftsvertrags zwischen Wissenschaft und Gesellschaft benannt. Nachhaltigkeit, das Kernanliegen einer Transformativen Wissenschaft, müsse vor allem als Gerechtigkeitskonzept verstanden, Innovation weniger als technische, sondern als systemische Herausforderung begriffen werden. Zudem wird ein Mangel an Leitbildern bei den führenden wissenschaftlichen Institutionen beklagt. Dass über kritische Befunde hinaus vor allem auch Reformvorschläge – jeweils in Kästen gesetzt – unterbreitet werden, welche den aktuellen Bildungsdiskurs mit reflektieren, zählt fraglos zu den Stärken dieses Bandes. Leitbilder, so eine konkrete Forderung, sollen nicht nur von wissenschaftlich etablierten Institutionen, sondern von möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen [etwa aus der Zivilgesellschaft] eingefordert und entwickelt werden; junge Wissenschaftlerinnen sollten durch „Grenzgänger“anreize motiviert werden, transdisziplinäre Pfade zu beschreiten; sozial-und geisteswissenschaftliche Kompetenzen sollten im nationalen Nachhaltigkeitsdiskurs gestärkt werden. Grundsätzlich gelte es neben „Systemwissen“(Problem-analyse) und „Zielwissen“(Visions-entwicklung) das „Transformations-wissen“(diffusion und Lernen) als wesentliche dritte Säule zu etablieren. Letztlich gehe es beim Plädoyer für eine transformative Wissenschaft „um die Suche nach neuen Gleichgewichten im Wissenschaftssystem: zwischen disziplinärer Theorie- und Methodenentwicklung, zwischen Grundlagenforschung und der Ausrichtung der Wissenschaft auf konkrete gesellschaftliche Problemlagen, zwischen konzeptionellem und transformativem Lernen, zwischen technischen, institutionellen und kulturellen Wissensbeständen“(vgl. S: 75). Die Wissenschaft der „reflexiven Moderne“sollte einen „Modus 3“-Status anstreben, der stark kontextualisiert ist, (Zivil-)gesellschaft als Akteur der Wissensproduktion anerkennt, transformativ ausgerichtet ist und im Zusammenspiel von Wissenschaft und Gesellschaft neue Qualitätssysteme entwickelt (vgl. S. 122). Reformvorschläge dazu: Etablierung von „Inseln der Heterodoxie“; Verankerung von Kriterien transdisziplinärer Forschung im Wissenschaftssystem.
Der lange Weg zur Nachhaltigkeit
Langsam, so der Befund des dritten Abschnitts, sei in der deutschen Forschungslandschaft ein „Klimawandel Richtung Nachhaltigkeit“zu beobachten. Von den insgesamt € 70 Milliarden, die 2010 in Forschung und Entwicklung investiert wurden (das sind 2,82 Prozent des Bruttoinlandsprodukts), gingen rund zwei Drittel in industrielle Forschungsprojekte (vor allem die Sektoren Fahrzeugbau, Elektroindustrie, Chemie und Pharmazie) [vgl. A. 140f.]. Mit Blick auf die programmbezogene Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), das BMBF und Förderungen aus anderen Ressorts plädiert das Autorinnenduo insbesondere für die Stärkung der sozial-ökologischen Forschung (mehr Mittel für die Vernetzung zwischen Hochschulen, nationalen freien Forschungseinrichtungen, Stärkung nationaler Forschungsinitiativen wie Helmholtz-gemeinschaft, Fraunhofer-gesellschaft u. a.). Reformvorschläge: Schaffung eines Instituts für „transdisziplinäre Methoden“, Einrichtung von Nachhaltigkeitsclustern und Graduiertenschulen. Bei einem „Blick über den Tellerrand“wird Österreich im Hinblick auf die einschlägigen Forschungsinitiativen ein erstaunlich gutes Zeugnis ausgestellt. Insbesondere die Initiative „Wachstum im Wandel“sei „viel breiter und offener als die entsprechende gegenwärtig in Deutschland geführte Diskussion“(Seite 203). Weiters unter die Lupe genommen werden die Schweiz, die Niederlande, das Stockholm Resilience Centre sowie internationale Netzwerke. „Nachhaltigkeit als Motor transformativen Lernens“steht im Mittelpunkt des vierten Abschnitts. Vor allem in der Erwachsenenbildung verankert, sollten die Rahmenbedingungen des individuellen wie kollektiven „In der Welt seins“auch Thema des stuin
dentischen Engagements werden, fordern die Autorinnen. Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) sei an den Hochschulen Deutschlands noch wenig etabliert, wenngleich Baden-württemberg hier eine Vorreiterrolle einnehme. In der „Zukunftsstrategie 2015+“zumindest seien folgende Ziele festgeschrieben: Ausbau der Nachhaltigkeitswissenschaften, Vermittlung von Bne-relevanten Kompetenzen in Lehre und Studium, Reformation der Lehrerbildung, Implementierung der Prinzipien der Nachhaltigkeit in allen betrieblichen Organisationen, Erarbeitung eines nationalen Nachhaltigkeits-indikatorenberichts für den Hochschulbereich. Für die von Nachhaltigkeit werden in Anlehnung an Armin Wiek von der „Arizona School of Sustainability folgende fünf Kernkompetenzen benannt: Systemanalysekompetenz, antizipatorische, normative, strategische und interpersonelle Kompetenz (vgl. S. 252). Als Beitrag zu einer neuen „Sinn-orientierung“werden u. a. eine „Weiterbildungsoffensive Professionalisierung und Nachhaltigkeit“, eine Web 2.0-basierte „nachhaltige Supercool-school“, der Ausbau von Professuren für NE und die Einrichtung von Projekten des forschenden Lehrens in virtuellen Welten („Sustainable Second Life“) angeregt.
„Wie umsteuern?“Das abschließende Kapitel fasst die Befunde und Vorschläge nochmals zusammen und fragt danach, woher die Impulse für die Umsetzung zu einer „Transformativen Wissenschaft“kommen (sollten). Ausgehend von einer Multi-ebenenperspektive auf das deutsche Wissenschaftssystem mit Megatrends (Neue Kommunikationstechnologien, demographischer Wandel, steigende Defizite der öffentlichen Haushalte, Globalisierung), Regimen (Wissenschaftspolitik, Wettbewerb, Föderalismus, disziplinäre Organisation der Hochschulen u. a. m.) und Nischen (Nachhaltigkeit als Profilierungsstrategie, Netzwerkstrategien, Capacity Building, nachhaltigkeitsorientierte Politik einzelner Bundesländer) [vgl. S. 229] werden die organisierte Zivilgesellschaft, Stiftungen und innovative Politiken auf Bundesländerebene als wichtigste „Change Agents“angesehen. Reformvorschläge: Umsetzung eines „Centrum für Nachhaltige Hochschulentwicklung“(CNH), Schaffung eines „Nachhaltigkeitsverbands für die Deutsche Wissenschaft“. Mit einem abschließenden Blick auf einige universitäre Leuchtturm-institutionen (Lüneburg, Hamburg, Kassel) fällt das Fazit vorsichtig optimistisch aus. „Umsteuern im Wissenschaftssystem ist möglich - aber es wird ein langer Weg. Die Herausforderungen, vor denen moderne Gesellschaften stehen, machen es lohnenswert, diesen Weg auch in den kommenden Jahren weiter zu gehen.“(S. 376). W. Sp.
Wissenschaft: transformative
73 Schneidewind, Uwe; Singer-brodowski, Mandy: Transformotive Wissenschaft. Klimawandel im deutschen Wissenschafts-und Hochschulsystem.
Marburg: Metropolis-verl., 2013. 419 S. € 24,90 [D], 25,65 [A], sfr 37,35 ; ISBN 978-3-7316-1003-8