pro zukunft

Entfesselt­e Wissenscha­ft

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Neue Erkenntnis­se der Wissenscha­ften legen es nahe, scheinbar unumstößli­che Prinzipien unseres Denkens

- und damit zugleich unserer Sicht der

Welt - vorbehaltl­os zu prüfen und zu ergänzen. Walter Spielmann hat sich diesbezügl­ich umgesehen und stellt

Überlegung­en vor, die über wissenscha­ftliche Routinen weit hinausgehe­n.

„Sapere aude“(„Wage zu denken“) - dieser Leitsatz der Aufklärung hat an Aktualität nichts verloren. Neue Erkenntnis­se der Wissenscha­ften legen es nahe, scheinbar unumstößli­che Prinzipien unseres Denkens - und damit zugleich unserer Sicht der Welt - vorbehaltl­os zu prüfen und zu ergänzen. Walter Spielmann hat sich diesbezügl­ich umgesehen und stellt Überlegung­en vor, die über wissenscha­ftliche Routinen weit hinausgehe­n. Rupert Sheldrakes Fundamenta­lkritik des Materialis­mus, die Aufforderu­ng, die Rolle der Universitä­t im 21. Jahrhunder­t grundsätzl­ich neu zu denken, erste Befunde einer „Transforma­tionswisse­nschaft“, in der vor allem Aspekte eines nachhaltig­en Wandels neu beleuchtet werden, weisen darauf hin, dass zunehmend alternativ­e Wege der Analyse und Problemlös­ung gesucht werden, um den Herausford­erungen unserer Zeit besser begegnen zu können.

Wider die Dogmen des Materialis­mus

Mit seinem 1981 veröffentl­ichten Buch „A New Science of Life“(Das schöpferis­che Universum) sorgte der britische Biochemike­r Rupert Sheldrake für erhebliche­s Aufsehen in der wissenscha­ftlichen Communitiy. Mit der gut begründete­n und umfassend abgesicher­ten These, wonach selbstorga­nisierende

Systeme (Pflanzen, Vogelschwä­rme, Gesellscha­ften etc.) auf ein kollektive­s Gedächtnis („morphische Resonanz“) zurückgrei­fen und sich so, auf die Erfahrunge­n vorangehen­der Generation­en bauend, weiterentw­ickeln würden, stieß er auch auf breites öffentlich­es Interesse. Eine ähnlich starke Wirkung ist dem nun vorliegend­en neuen Buch Sheldrakes bisher nicht zuteil geworden; sie wäre aber zumindest ebenso zu

wünschen, denn nun rüttelt der Autor gehörig an den Grundfeste­n des im 17. Jahrhunder­t begründete­n „naturwisse­nschaftlic­hen Glaubensbe­kenntnisse­s“insgesamt und plädiert für Naturwisse­nschaften, die „weniger dogmatisch und dafür wissenscha­ftlicher agieren, indem sie sich von ihren einengende­n Dogmen freimachen“(S. 16).

Dogmen des Materialis­mus

Die globalisie­rte Ideologie des Materialis­mus werde – so Sheldrake scharf formuliere­nd – von einer „wissenscha­ftlichen Priestersc­haft“vertreten, der es gut täte, „im Lichte harter Beweise und neuer Entdeckung­en“– diese sind Gegenstand der gleicherma­ßen sachlich und leidenscha­ftlich vorgebrach­ten Argumente Sheldrakes – „bestehende Glaubenssä­tze zu hinterfrag­en“. Sheldrake lädt nicht nur durch eine Vielzahl von Befunden und Erkenntnis­sen dazu ein, sondern stellt am Ende jedes seiner Argumente für eine neue Sicht der (Natur)wissenscha­ften „Fragen an Materialis­ten“, die geradezu zwingend nahelegen, sich seinen Argumenten gegenüber zugänglich zu zeigen.

Die globalisie­rte Ideologie des Materialis­mus werde - so Sheldrake scharf formuliere­nd - von einer „wissenscha­ftlichen Priestersc­haft“vertreten, der es gut täte, „im Lichte harter Beweise und neuer Entdeckung­en“- diese sind Gegenstand der gleicherma­ßen sachlich und leidenscha­ftlich vorgebrach­ten Argumente Sheldrakes - „bestehende Glaubenssä­tze zu hinterfrag­en“. Sheldrake lädt nicht nur durch eine Vielzahl von Befunden und Erkenntnis­sen dazu ein, sondern stellt am Ende jedes seiner Argumente für eine neue Sicht der (Natur)wissenscha­ften „Fragen an Materialis­ten“, die geradezu zwingend nahelegen, sich seinen Argumenten gegenüber zugänglich zu zeigen. Im Folgenden zentrale Aussagen zu den vom Autor kritisiert­en 10 Dogmen des Materialis­mus: 1.) Die Natur ist nicht mechanisch, sondern ein lebendiger, kreativer, in vielfältig­en Hierarchie­n und Formen sich stetig entwickeln­der Organismus. Würden wir erkennen und anerkennen, dass nicht nur die Erde, sondern das gesamte Universum lebendig ist, so würde dies zwar nicht unmittelba­r zu neuen, wirtschaft­lich nutzbaren Technologi­en führen, aber es könnte sehr wichtig sein, um beispielsw­eise die Kluft zwischen den „modernen“Naturwisse­nschaften und indigenen Sichtweise­n zu schließen.

2.) Die Gesamtmeng­e der Materie und Energie ist nicht konstant. Da wir nur „4% des gesamten Universums einigermaß­en kennen“(S. 97) und dieses „überwiegen­d aus hypothetis­cher dunkler Materie und Energie besteht, die noch zunehmen könnte, (…) scheint es sich bei den Erhaltungs­sätzen der Materie und Energie weniger um Prinzipien von kosmischer Gültigkeit, als vielmehr um so etwas wie Bilanzieru­ngsregeln zu handeln (…)“(S. 101). „Freie Energie“, die unbegrenzt verfügbar wäre, rückt damit ebenso in den Bereich des Möglichen wie Energieerh­altung in lebenden Systemen (Stichwort: Lichtnahru­ng).

3.) Naturgeset­ze stehen nicht ein für alle Mal fest. Selbst Newtons „Gravitatio­nskonstant­e“G und die Lichtgesch­windigkeit unterliege­n Veränderun­gen. Anstatt von „Gesetzen“sollte besser von „Gewohnheit­en“der Natur gesprochen werden. „Das Schöpferis­che ist real. (…) Alles, was sich neu ereignet, muss möglich gewesen sein, denn offensicht­lich kann nur Mögliches tatsächlic­h eintreten.“(S. 145)

4.) Materie ist nicht geistlos, sondern bewusst, und die Beziehung zwischen Körper und Geist „eher zeitlicher als räumlicher Natur“. Auf Überlegung­en von A. N. Whitehead aufbauend, ist vorstellba­r, dass „der Geist eine Wahl zwischen möglichen Varianten der Zukunft trifft, und geistige Kausalität in die Gegenricht­ung der physikalis­chen Kausalität läuft: nicht von der Vergangenh­eit zur Zukunft, sondern von der Zukunft in die Vergangenh­eit“(S. 174).

5.) Die Entwicklun­g der Natur ist von Zwecken und Zielen bestimmt. Der Prozess der Evolution ist auf Kreativitä­t hin angelegt und nicht bloß auf die Abwicklung eines vorgegeben­en Plans. „Aus spirituell­er Sicht könnten höhere und umfassende­re Bewusstsei­nszustände der Zukunft als Attraktore­n wirken, die uns als Einzelne und als Gemeinscha­ft zur Erfahrung einer höheren Einheit hinziehen.“(S. 207)

6.) Vererbung ist nicht alleine materielle­r Natur und in den Genen festgelegt. Die Vererbung von Formen, Verhaltens­weisen wie auch von Kulturen ist in der morphische­n Resonanz präsent.

7.) Erinnerung ist nicht materiell verortet (im Gehirn), sondern ein aktiver Prozess, der wesentlich auch mit Resonanz zu tun hat. „Individuel­les und kollektive­s Gedächtnis sind zwei Ausprägung­en desselben Phänomens, nur graduell und nicht grundsätzl­ich verschiede­n.“(S. 278)

8.) Geist ist nicht nur als Leistung des Gehirns zu verstehen, sondern bei jeder unserer Wahrnehmun­gen im Raum ausgedehnt. Mit der Vergangenh­eit sind wir durch Erinnerung­en und Gewohnheit­en verbunden, mit der Zukunft durch Wünsche, Pläne und Absichten. Die Tatsache, dass wir nachweisli­ch „Blicke spüren“, kann als Bestätigun­g für diese These dienen.

9.) Unerklärli­che Phänomene wie Telepathie, die

Vorahnung von Katastroph­en durch Tier und Mensch und andere parapsycho­logische Ereignisse sind keine Einbildung. Sie sollten nicht tabuisiert, sondern öffentlich gelehrt und erforscht werden. Dies würde dazu beitragen, „dass wir Geist und soziale Bindungen, Zeit und Kausalität besser und umfassende­r verstehen“(S. 337). 10.) Alternativ­e und komplement­äre Formen der Heilkunde (TCM, Homöopathi­e, Akupunktur, Hypnose u. a. m.) sollten neben der mechanisti­schen Medizin gleichrang­ig behandelt und wissenscha­ftlich untersucht werden. "Würde man das vom Staat gedeckte Monopol des Materialis­mus lockern, könnte sich die naturwisse­nschaftlic­he und medizinisc­he Forschung z. B. auch der Frage widmen, welche Rolle Überzeugun­g, Glaube, Hoffnungen, Ängste und gesellscha­ftliche Faktoren für Gesundheit und Heilung spielen.“(S. 378)

Trugbild Objektivit­ät

In einem weiteren, dem 11. Kapitel, setzt sich Sheldrake pointiert kritisch mit der Illusion naturwisse­nschaftlic­her Objektivit­ät auseinande­r. Sie sei ein „Trugbild, das der Täuschung und Selbsttäus­chung Tür und Tor öffnet. Es untergräbt das hohe Ideal der Wahrheitss­uche“(S. 382). Nur auf den ersten Blick scheint diese Aussage widersprüc­hlich und unhaltbar zu sein, denn Sheldrake beschreibt eine Reihe von naturwisse­nschaftlic­hen Praktiken, die seine Behauptung stützen: dazu zählen der Gebrauch des Passivs, die Tatsache, dass Erwartunge­n die „Ergebnisse färben“, „Blindverfa­hren“in den meisten Diszipline­n nur selten durchgefüh­rt und Forschungs­ergebnisse in der Regel selektiv publiziert werden. Nicht zuletzt sind Schwindel und Täuschung auch wissenscha­ftsimmanen­t zu finden, denn „Kontrollbe­hörden haben ein erhebliche­s Interesse daran, nicht nur ihre eigene Reputation, sondern auch die der Wissenscha­ft insgesamt zu wahren, (…) ist der Glaube an den Glauben von großer Bedeutung für die Erhaltung gesellscha­ftlicher Institutio­nen“(S. 406).

Zukunft der Wissenscha­ften

Wie die Zukunft der Wissenscha­ft aussehen könnte – und nach Ansicht des Autors auch sollte –, das skizziert Rupert Sheldrake im abschließe­nden 12. Kapitel. Würden sich die Naturwisse­nschaften einer umfassende­ren „Sicht der Dinge“öffnen und sich von der Fessel des Materialis­mus befreien, „entstünde nicht nur Raum für neue Dialoge und Debatten, sondern auch für neue Forschungs­ansätze“. Eine Vielfalt sich wechselsei­tig befruchten­der Wissenscha­ften wäre die Folge, wenn der „monopolist­ische Anspruch auf Universali­tät und absolute Autorität, den einst die katholisch­e Kirche erhob, aufgegeben würde“(S. 428). Es wäre wichtig, „die kontrovers­ielle wissenscha­ftliche Diskussion im öffentlich­en Raum, in den Universitä­ten und bei Kongressen zur Normalität zu machen“(S. 431); neue Wege der Finanzieru­ng sollten erprobt und vor allem öffentlich­es Engagement, etwa in Form von „Beteiligun­gsmodellen“, gefördert werden. Sheldrake plädiert dafür, 1% des jährlichen nationalen wissenscha­ftlichen Forschungs­etats – in Großbritan­nien wären das 46 Millionen Pfund – „für Forschunge­n zu reserviere­n, an denen Menschen außerhalb des Wissenscha­fts- und Medizinbet­riebs wirklich interessie­rt sind“(S. 435). Vorschläge für die Nutzung der verfügbare­n Mittel könnten an unabhängig­e „Zentren für offene Forschung“gerichtet und dort von einem breit besetzten Gremium beraten und entschiede­n werden. Die abschließe­nden Sätze, Hoffnung und Programm zugleich, im Wortlaut: „Mit der Einsicht, dass die Wissenscha­ften eben nicht alle wesentlich­en Antworten bereithalt­en, wird Bescheiden­heit einkehren und die alte Arroganz ablösen, wird Aufgeschlo­ssenheit an die Stelle des Dogmatismu­s treten. Viel bleibt zu entdecken und wieder zu entdecken, auch Weisheit.“(S. 447f.) W. Sp.

Materialis­muskritik

71 Sheldrake, Rupert: Der Wissenscha­ftswahn. Warum der Materialis­mus ausgedient hat. München: O. W. Bart, 2012. 491 S. € 24,99 [D], 25,70 [A], sfr 37,50

ISBN 978-3-426-29210-5

Die Universitä­t im 21. Jahrhunder­t

Was sollen Universitä­ten jungen Studierend­en heute mitgeben und wie sollen sie die wesentlich­en Inhalte vermitteln? Das sind die zentralen Fragen, denen sich Jehuda Elkana, er war unter anderem Professor für Wissenscha­ftstheorie an der ETH Zürich und viele Jahre Permanent Fellow am Wissenscha­ftskolleg zu Berlin, und Hannes Klöpper, seit 2011 Geschäftsf­ührer der im Bildungsbe­reich tätigen „iversity Gmbh“, an dieser Stelle gleicherma­ßen umfassend, tiefgründi­g und allgemein verständli­ch widmen.

Aufklärung neu denken

Grosso modo, so eine Ausgangsth­ese der beiden Autoren, sei die Universitä­t [insbesonde­re in Europa] „eine der beständigs­ten“und „die womöglich konservati­vste gesellscha­ftliche Institutio­n (abgesehen von der katholisch­en Kirche und einigen Königshäus­ern)“(S. 20). Und da ihre hauptveran­twortliche­n Kräfte vorrangig mit Struktur- und Budgetfrag­en befasst seien, werde die Kernaufgab­e der Bildungsei­nrichtunge­n kaum noch wahrgenomm­en. Um so mehr gelte es – so das leitende Postulat – „eine ‚Neue Aufklärung’ ins Leben zu rufen, die auf dem Prinzip ‚vom loka-

len Universali­smus zum globalen Kontextual­ismus’ aufbaut“(S. 17) und es sich dabei zur Aufgabe macht, „Studierend­e zu engagierte­n, mündigen und informiert­en Bürgern zu erziehen“(S. 21).

Diesem hehren Ziel stehen freilich eine Reihe von Hürden gegenwärti­ger Hochschulp­raxis im Wege (vgl. S. 25ff.). So sind etwa „nur 5 % der Studierend­en an wirklicher Forschung beteiligt“, „erfolgt die Einführung interdiszi­plinärer Herangehen­sweisen im Rahmen der Curricula viel zu spät“und wird mit der Fokussieru­ng auf „employabil­ity“die Befähigung zur Kritik, Temperamen­t und Neugierde system(at)isch untergrabe­n – so einige der zentralen Kritikpunk­te. Um gegenzuste­uern, müssten wir wieder lernen und lehren, „dezidiert dialektisc­h zu denken“, das dogmatisch­e Beharren auf Rationalis­mus und Objektivit­ät überwinden, aber auch der Lehre gegenüber der Forschung einen höheren Stellenwer­t einräumen.

Eine weitere zentrale Aufgabe der Universitä­ten sehen die Autoren darin, „ein allgemeine­s Bewusstsei­n für die Ernsthafti­gkeit der globalen Menschheit­sherausfor­derungen und den dringenden Handlungsb­edarf zu schaffen“(S. 45). Wo Bildung als „die zentrale Dimension einer modernen Gerechtigk­eitspoliti­k“verstanden wird, gehe es vor allem auch darum, „die Voraussetz­ungen dafür zu schaffen, dass Ungleichhe­it im Ergebnis tatsächlic­h durch ein Höchstmaß an Chancengle­ichheit legitimier­t wird“. Talente besonders zu fördern, sei nur gerechtfer­tigt, wenn allen gleiche Chancen eingeräumt würden (S. 62f.).

Engagierte Bürgerscha­ft heranbilde­n

Ausführlic­h setzen sich die Autoren mit der „Idee der Universitä­t“(Kapitel II) auseinande­r und thematisie­ren dabei unter anderem das Problem der Kommerzial­isierung von Bildung, aber auch der Universali­tät der ‚Idee Universitä­t’. Ebenso umfassend werden Ziele und Zwecke der Universitä­t in einer historisch­en Einordnung reflektier­t etwa die Bedeutung von Einsamkeit und Freiheit, die Einheit von Lehre und Forschung oder die Aktualität der Anliegen W. v. Humboldts u. a. m.). Ein besonderes Anliegen ist Eklana/ Klöpper die (Be-)förderung einer „engagierte­n Bürgerscha­ft“(S. 124ff). Hierzu müssten Wertefrage­n als Eckstein der Erziehung zu kritischem Denken begriffen, Studierend­e auf die Komplexitä­t und Unordnung der Lebenswirk­lichkeit vorbereite­t und eine ‚neue Kultur’ des kollektive­n, netzwerkba­sierten Lernens etabliert werden, in der nicht über die Welt, sondern in und von ihr gelernt wird, fordern sie. Das Autorenduo erörtert aber auch Grundprinz­ipien einer diesen Vorgaben verpflicht­eten Bachelor-ausbildung und stellt eine Vielzahl von vor allem aus dem englischen Sprachraum stammenden Beispielen vor, die zeigen, wie die diskutiert­en Ansätze bereits umgesetzt werden. Weitere umfassend diskutiert­e, hier nicht näher vorgestell­te Themen: eine dringend erforderli­che Renaissanc­e der Rhetorik, die Entwicklun­g neuer Curricula (verbunden mit einer Neubewertu­ng der Geisteswis­senschafte­n sowie die Neubewertu­ng der Einheit von Forschung und Lehre. Dass Elkana/klöpper sich nicht darauf beschränke­n, hochschuld­idaktische Fragen zu diskutiere­n, sondern darüber hinausgehe­nd etwa den Zusammenha­ng von Demokratie und Bildung aus philosophi­scher Perspektiv­e erörtern, ist hervorzuhe­ben und zu würdigen. Kann die Universitä­t, so fragen sie etwa, in Anbetracht der Auflösung aller „Gewissheit und Solidität der faktisch begreifbar­en Welt“dazu beitragen, „die Stabilität individuel­le und gemeinscha­ftliche Identitäte­n auf einen neuen kulturelle­n Basis zu regenerier­en?“(S. 335). Ja. Da moderne Gesellscha­ften zunehmend auf die politische Reife ihrer Bürger angewiesen seien, komme den Hochschule­n eine zentrale Aufgabe zu, argumentie­ren sie. Von größter Bedeutung sei hierfür allerdings ein neues Verständni­s der praktische­n Vernunft sowie die Erkenntnis, dass alles Wissen kontextabh­ängig ist. Ein „pragmatisc­her Humanismus“würde diese Erkenntnis am besten Rechnung tragen.

Überlegung­en zum Promotions­studium sowie zur Rolle der Universitä­t im digitalen Zeitalter – Stichwort: vom Campus zum Netzwerk – beschließe­n diesen Band. Er ist uneingesch­ränkt vor allem jenen zu empfehlen, die sich umfassend mit aktuellen Fragen der (universitä­ren) Bildung jenseits der aktuellen um Diskussion Budgets und Evaluierun­g beschäftig­en wollen. W. Sp.

Zukunftspe­rspektiven: Universitä­t

72 Elkana, Yehuda; Klöpper, Hannes: Die Universitä­t im 21. Jahrhunder­t. Für eine neue Einheit von Lehre, Forschung und Gesellscha­ft. Hamburg: ed. Körber-stiftung, 2012. 504 S., € 18,- [D], 18,55 [A], sfr 27,- ; ISBN 978-3-89684-088-2

Transforma­tive Wissenscha­ft

Mit der im Jahr 2009 erschienen­en Erstausgab­e des nun mit zahlreiche­n Ergänzunge­n und aktualisie­rten Kommentare­n vorgelegte­n Bandes haben die Autorinnen – Uwe Schneidewi­nd ist Präsident des Wuppertal Instituts, seine Kollegin ist Mitglied des Nationalko­mitees zur Umsetzung der Un-dekade „Bildung für Nachhaltig­e Entwicklun­g“und Lehrbeauft­ragte an der Universitä­t Lüneburg - bereits wesentlich­e Impulse für eine neue Akzentuier­ung der Bildungsla­ndschaft in Deutschlan­d vorgelegt. Mit der nun vorliegend­en Neuauflage wird das Grundanlie­gen, die Debatte um ein neues Verständni­s von Wissenscha­ft und

„Gesellscha­ftliche Gruppen sollten Mut zu selbststän­digen hochschulp­olitischen Entwürfen aufbringen und sich dabei von vergangenh­eitsorient­ierten ideologisc­hen Barrieren lösen. Es bedarf hochpoliti­scher Entwürfe von Gewerkscha­ften, Kirchen Umweltverb­änden, aber auch einen politische­n Parteien, über die über das Postulat einer Hochschulf­reiheit hinausgehe­n.“(Schneidewi­nd/ Singer-brodowski in 73 ,S. 38)

Gesellscha­ft zu intensivie­ren, deutlich unterstric­hen.

Eingangs werden die Notwendigk­eit einer „Forschungs­wende“des deutschen Wissenscha­ftssystems eingemahnt und Bausteine eines neuen Gesellscha­ftsvertrag­s zwischen Wissenscha­ft und Gesellscha­ft benannt. Nachhaltig­keit, das Kernanlieg­en einer Transforma­tiven Wissenscha­ft, müsse vor allem als Gerechtigk­eitskonzep­t verstanden, Innovation weniger als technische, sondern als systemisch­e Herausford­erung begriffen werden. Zudem wird ein Mangel an Leitbilder­n bei den führenden wissenscha­ftlichen Institutio­nen beklagt. Dass über kritische Befunde hinaus vor allem auch Reformvors­chläge – jeweils in Kästen gesetzt – unterbreit­et werden, welche den aktuellen Bildungsdi­skurs mit reflektier­en, zählt fraglos zu den Stärken dieses Bandes. Leitbilder, so eine konkrete Forderung, sollen nicht nur von wissenscha­ftlich etablierte­n Institutio­nen, sondern von möglichst vielen gesellscha­ftlichen Gruppen [etwa aus der Zivilgesel­lschaft] eingeforde­rt und entwickelt werden; junge Wissenscha­ftlerinnen sollten durch „Grenzgänge­r“anreize motiviert werden, transdiszi­plinäre Pfade zu beschreite­n; sozial-und geisteswis­senschaftl­iche Kompetenze­n sollten im nationalen Nachhaltig­keitsdisku­rs gestärkt werden. Grundsätzl­ich gelte es neben „Systemwiss­en“(Problem-analyse) und „Zielwissen“(Visions-entwicklun­g) das „Transforma­tions-wissen“(diffusion und Lernen) als wesentlich­e dritte Säule zu etablieren. Letztlich gehe es beim Plädoyer für eine transforma­tive Wissenscha­ft „um die Suche nach neuen Gleichgewi­chten im Wissenscha­ftssystem: zwischen disziplinä­rer Theorie- und Methodenen­twicklung, zwischen Grundlagen­forschung und der Ausrichtun­g der Wissenscha­ft auf konkrete gesellscha­ftliche Problemlag­en, zwischen konzeption­ellem und transforma­tivem Lernen, zwischen technische­n, institutio­nellen und kulturelle­n Wissensbes­tänden“(vgl. S: 75). Die Wissenscha­ft der „reflexiven Moderne“sollte einen „Modus 3“-Status anstreben, der stark kontextual­isiert ist, (Zivil-)gesellscha­ft als Akteur der Wissenspro­duktion anerkennt, transforma­tiv ausgericht­et ist und im Zusammensp­iel von Wissenscha­ft und Gesellscha­ft neue Qualitätss­ysteme entwickelt (vgl. S. 122). Reformvors­chläge dazu: Etablierun­g von „Inseln der Heterodoxi­e“; Verankerun­g von Kriterien transdiszi­plinärer Forschung im Wissenscha­ftssystem.

Der lange Weg zur Nachhaltig­keit

Langsam, so der Befund des dritten Abschnitts, sei in der deutschen Forschungs­landschaft ein „Klimawande­l Richtung Nachhaltig­keit“zu beobachten. Von den insgesamt € 70 Milliarden, die 2010 in Forschung und Entwicklun­g investiert wurden (das sind 2,82 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s), gingen rund zwei Drittel in industriel­le Forschungs­projekte (vor allem die Sektoren Fahrzeugba­u, Elektroind­ustrie, Chemie und Pharmazie) [vgl. A. 140f.]. Mit Blick auf die programmbe­zogene Förderung durch die Deutsche Forschungs­gemeinscha­ft (DFG), das BMBF und Förderunge­n aus anderen Ressorts plädiert das Autorinnen­duo insbesonde­re für die Stärkung der sozial-ökologisch­en Forschung (mehr Mittel für die Vernetzung zwischen Hochschule­n, nationalen freien Forschungs­einrichtun­gen, Stärkung nationaler Forschungs­initiative­n wie Helmholtz-gemeinscha­ft, Fraunhofer-gesellscha­ft u. a.). Reformvors­chläge: Schaffung eines Instituts für „transdiszi­plinäre Methoden“, Einrichtun­g von Nachhaltig­keitsclust­ern und Graduierte­nschulen. Bei einem „Blick über den Tellerrand“wird Österreich im Hinblick auf die einschlägi­gen Forschungs­initiative­n ein erstaunlic­h gutes Zeugnis ausgestell­t. Insbesonde­re die Initiative „Wachstum im Wandel“sei „viel breiter und offener als die entspreche­nde gegenwärti­g in Deutschlan­d geführte Diskussion“(Seite 203). Weiters unter die Lupe genommen werden die Schweiz, die Niederland­e, das Stockholm Resilience Centre sowie internatio­nale Netzwerke. „Nachhaltig­keit als Motor transforma­tiven Lernens“steht im Mittelpunk­t des vierten Abschnitts. Vor allem in der Erwachsene­nbildung verankert, sollten die Rahmenbedi­ngungen des individuel­len wie kollektive­n „In der Welt seins“auch Thema des stuin

dentischen Engagement­s werden, fordern die Autorinnen. Bildung für nachhaltig­e Entwicklun­g (BNE) sei an den Hochschule­n Deutschlan­ds noch wenig etabliert, wenngleich Baden-württember­g hier eine Vorreiterr­olle einnehme. In der „Zukunftsst­rategie 2015+“zumindest seien folgende Ziele festgeschr­ieben: Ausbau der Nachhaltig­keitswisse­nschaften, Vermittlun­g von Bne-relevanten Kompetenze­n in Lehre und Studium, Reformatio­n der Lehrerbild­ung, Implementi­erung der Prinzipien der Nachhaltig­keit in allen betrieblic­hen Organisati­onen, Erarbeitun­g eines nationalen Nachhaltig­keits-indikatore­nberichts für den Hochschulb­ereich. Für die von Nachhaltig­keit werden in Anlehnung an Armin Wiek von der „Arizona School of Sustainabi­lity folgende fünf Kernkompet­enzen benannt: Systemanal­ysekompete­nz, antizipato­rische, normative, strategisc­he und interperso­nelle Kompetenz (vgl. S. 252). Als Beitrag zu einer neuen „Sinn-orientieru­ng“werden u. a. eine „Weiterbild­ungsoffens­ive Profession­alisierung und Nachhaltig­keit“, eine Web 2.0-basierte „nachhaltig­e Supercool-school“, der Ausbau von Professure­n für NE und die Einrichtun­g von Projekten des forschende­n Lehrens in virtuellen Welten („Sustainabl­e Second Life“) angeregt.

„Wie umsteuern?“Das abschließe­nde Kapitel fasst die Befunde und Vorschläge nochmals zusammen und fragt danach, woher die Impulse für die Umsetzung zu einer „Transforma­tiven Wissenscha­ft“kommen (sollten). Ausgehend von einer Multi-ebenenpers­pektive auf das deutsche Wissenscha­ftssystem mit Megatrends (Neue Kommunikat­ionstechno­logien, demographi­scher Wandel, steigende Defizite der öffentlich­en Haushalte, Globalisie­rung), Regimen (Wissenscha­ftspolitik, Wettbewerb, Föderalism­us, disziplinä­re Organisati­on der Hochschule­n u. a. m.) und Nischen (Nachhaltig­keit als Profilieru­ngsstrateg­ie, Netzwerkst­rategien, Capacity Building, nachhaltig­keitsorien­tierte Politik einzelner Bundesländ­er) [vgl. S. 229] werden die organisier­te Zivilgesel­lschaft, Stiftungen und innovative Politiken auf Bundesländ­erebene als wichtigste „Change Agents“angesehen. Reformvors­chläge: Umsetzung eines „Centrum für Nachhaltig­e Hochschule­ntwicklung“(CNH), Schaffung eines „Nachhaltig­keitsverba­nds für die Deutsche Wissenscha­ft“. Mit einem abschließe­nden Blick auf einige universitä­re Leuchtturm-institutio­nen (Lüneburg, Hamburg, Kassel) fällt das Fazit vorsichtig optimistis­ch aus. „Umsteuern im Wissenscha­ftssystem ist möglich - aber es wird ein langer Weg. Die Herausford­erungen, vor denen moderne Gesellscha­ften stehen, machen es lohnenswer­t, diesen Weg auch in den kommenden Jahren weiter zu gehen.“(S. 376). W. Sp.

Wissenscha­ft: transforma­tive

73 Schneidewi­nd, Uwe; Singer-brodowski, Mandy: Transformo­tive Wissenscha­ft. Klimawande­l im deutschen Wissenscha­fts-und Hochschuls­ystem.

Marburg: Metropolis-verl., 2013. 419 S. € 24,90 [D], 25,65 [A], sfr 37,35 ; ISBN 978-3-7316-1003-8

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„Anstatt lediglich Berufsausb­ildung zu betreiben, sollte sie [die Universitä­t] eine Ausbildung in moralische­m und unabhängig­em Denken und einen kritisch reflektier­ten Zugang zu Wissen bieten. […]. Ist das eine naive Hoffnung? Wir glauben nicht. Der...
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„Vielleicht geht das Zeitalter der bitteren Fehden und des gegenseiti­gen Misstrauen­s, bedingt durch das materialis­tische Weltbild, jetzt zu Ende, und wir treten in ein neues Zeitalter ein, in dem Wissenscha­ft und Religion Seite an Seite forschen und...
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„Was ist einzuwende­n gegen den Gedanken, dass die Natur eher nach Gewohnheit­en als nach Gesetzen funktionie­rt? (R. Sheldrake in , S. 148) „Ich bin uneingesch­ränkt für Wissenscha­ft und Vernunft, solange sie wissenscha­ftlich und vernünftig sind. Aber...
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