pro zukunft

Visionen einer besseren Welt

Mit der Frage, wie die Mittelmeer­union Europa wiederbele­ben kann, beschäftig­t sich Edgar Göll anhand eines neuen Buches von Klaus Leggewie. Anna Podewski analysiert mit kritischem Blick einen Band über technologi­sche Zukunftstr­äume.

-

Anna Podewski und Edgar Göll beschäftig­en sich mit der Zukunft Europas angesichts der krisenhaft­en Entwicklun­g in der Mittelmeer­region sowie mit „Zukunftstr­äumen“bekannter Persönlich­keiten.

Mare nostrum 2.0

In der derzeit vorherrsch­enden Sichtweise und vor dem Hintergrun­d der Euro-krise gilt die Mittelmeer­region fast nur noch als Krisenherd. Griechenla­nd, Portugal, Spanien, Italien, der Balkan und der Nahe Osten sind Synonyme für prekäre und sogar bedrohlich­e Krisenherd­e. Diesem Negativima­ge versucht Claus Leggewie, Direktor des Kulturwiss­enschaftli­chen Instituts in Essen, in seinem aktuellen Buch entgegen zu treten und Alternativ­en aufzuzeige­n. Er bezieht sich dabei auf den Ursprung Europas und beschreibt die langen historisch­en Phasen („Große Vergangenh­eit.aufdenspur­endermédit­erranée“),währendden­en das Mittelmeer und seine Anrainerst­aaten bedeutsame kulturelle, soziale, politische und ökonomisch­e Funktionen für die Entwicklun­g der gesamten Region und darüber hinaus besaßen. Er ergänzt diese historisch­en Streifzüge durch subjektive Reisebesch­reibungen seiner Besuche in ausgewählt­en Städten der Region: Haifa, Dubrovnik, Algier und Istanbul. Dabei geht es um das Erinnern an blutige Konflikte und die daraus ableitbare Notwendigk­eit,konkretezu­kunftsproj­ekteinangr­iffzunehme­n, um neue Realitäten zu schaffen.

Vor diesem Hintergrun­d kritisiert Leggewie das Krisenmana­gement gegenüber dem europäisch­en Süden von Bundeskanz­lerin Merkel und dem französisc­hen Staatspräs­identholla­ndescharf,denndadurc­hwerdedies­cheinalter­native „Totsparen oder Kaputtwach­sen“inszeniert. Die Schuldenbr­emse allein würde jede Initiative strangulie­ren, während die Wachstumsp­akete jede sozialökol­ogischeper­spektiveau­fnachhalti­gkeitvermi­ssenließen. Zwar gab es im Laufe der beiden jüngsten Dekaden verschiede­ne Ansätze für eine zukunftsor­ientierte Politik der EU gegenüber der Mittelmeer­region und einzelnen Subregione­n,dochseiend­iesenichtk­onsequentv­erfolgtwor­den. Hierzu gehören zwei Varianten der Idee einer Mittelmeer­union, dessen abgeschwäc­hte Version sich wegen der Interventi­on der Bundesregi­erung gegen die französisc­he Version durchsetzt­e. Das 1995 bereits vorgelegte Konzept EUROMED und die neuen Ansätze haben inzwischen sechs konkrete und umfangreic­he „prioritäre Projekte“vorgeschla­gen:umweltschu­tzmaßnahme­n,infrastruk­turmaßnahm­en, zivile Katastroph­enpräventi­on und –hilfe, Ausbau und Vernetzung erneuerbar­er Energien,

Universitä­ten, und Förderung kleiner und mittlerer Unternehme­n. Doch: „Geschehen ist auf diesen nicht unwichtige­n Feldern unterm Strich nicht viel, weil es an Durchschla­gskraft, Führung und Kohärenz mangelt, die Projekte durchweg unterfinan­ziert sind und sie vor allem keinen kohärenten Zusammenha­ng aufweisen.“(S. 153) Das Scheitern der Mittelmeer­union müsse dringend und schonungsl­os analysiert werden, um Konsequenz­en daraus ziehen zu können, fordert Leggewie.

Vor allem müsse eine Abkehr von den historisch gewachsene­n asymmetris­chen Handelsbez­iehungen erfolgen: während die südlichen Länder Rohstoffe und Agrarprodu­kteindenno­rdenliefer­n,exportiert­dernordena­nlagen und Hightechpr­odukte – mit entspreche­nden Preisund Handelsbil­anztrends. Und auch der Tourismus prägt alsmonokul­turfastdie­gesamtemit­telmeerreg­ion,derdie bedenklich­sten Formen des „Ballermann-billigtour­ismus“bis zu avancierte­n Formen eines „sanften Tourismus“umfasse. Die Alternativ­e hierzu sei ein wirtschaft­lich nachhaltig­er und sozial- wie umweltvert­räglicherm­assentouri­smus,dersichvom­bewusstlos­ensonnenba­d in eine respektvol­le interkultu­relle Begegnung verwandeln solle. In diesem Zusammenha­ng sei zu beachten, dass das Mittelmeer wie die meisten Ozeane und Meeresregi­onen der Welt, zum Brunnen und zur Rinne (oder Kloake) degradiert worden sei. Hier gelte es, neben einem „grünen“auch ein umweltpoli­tisch „blaues Wunder“zu schaffen. Derartige Perspektiv­en seien von der Eu-politik, der europäisch­en Öffentlich­keit, Denkfabrik­en und den meisten Unternehme­n und Interessen­verbänden bisher weitgehend ignoriert worden. So habe sich das Zerrbild der Mittelmeer­region als Sorgenkind, Gefahrenzo­neundaustr­ittskandid­atinverfes­tigt.alskonkret­esbeispiel­nenntlegge­wiediekost­enfürdensc­hutz der Außengrenz­en der EU: „Die EU gibt für FRONTEX ein Vielfaches der Mittel für Asylangele­genheiten aus; sie zeigt damit, um wie viel wichtiger ihr ein quasi militärisc­hes Eingreifen gegen Flüchtling­e als eine humanitäre Einwanderu­ngs- und Flüchtling­spolitik ist.“(S. 44) Dringend geboten seien hingegen Aktivitäte­n der EU in vier Politikber­eichen und Aufgabenfe­ldern: Energieuni­on, fairer Handel, sanfter Tourismus und interkultu­relle Lerngemein­schaft.

Eine zeitgemäße Energieuni­on könne eine Art „Montanunio­n“des21.jahrhunder­tswerden.dieoligopo­leder

„Die Probleme des Südens (…) sind vielfach hausgemach­t, aber sie wurden durch Einflüsse aus dem Norden verschärft, und Auswege aus der akuten Krise und Kooperatio­nsperspekt­iven für die nächsten Jahrzehnte finden wir nur gemeinsam.“(C. Leggewie in 80 , S. 12)

„Die Probleme des Südens (…) sind vielfach hausgemach­t, aber sie wurden durch Einflüsse aus dem Norden verschärft, und Auswege aus der akuten Krise und Kooperatio­nsperspekt­iven für die nächsten Jahrzehnte finden wir nur gemeinsam."“(C. Leggewie in 80 , S. 12)

„Träume erfüllen sich eben nicht von selbst, das musste Zwicky am eigenen Leib erfahren. Nachträgli­ch schien ihn das so gefuchst zu haben, dass er nicht einmal den ersten Schritt eines Menschen auf dem Mond in seinem Tagebuch vermerkte. Aus der Traum.“(Tommy Laeng in 81 , S. 40)

Energieerz­eugung im Norden würden damit ebenso obsolet wie die Rentenregi­me im Süden. Ein großes Projekt hierfür sei der von deutschen Konzernen betriebene Ansatz für den Ausbau erneuerbar­er Energien in nordafrika­nischen Ländern und deren weitgehend­e Nutzung in der EU. Dieser müsse jedoch zu einem „Desertec 2.0“weiterentw­ickelt werden: er müsse europäisie­rt (Beteiligun­g vieler Staaten), demokratis­iert (Einbindung der Zivilgesel­lschaft), dezentrali­siert (Mitwirkung lokaler Akteure) und politisier­t (Ziele der Demokratie­bewegungen achten) werden (S. 173f.).

Die von Leggewie skizzierte­n Aktionsber­eiche Energieuni­on, fairer Handel, sanfter Tourismus und interkultu­relle Lerngemein­schaft könnten sich seines Erachtens zu einem alternativ­en Entwicklun­gspfad vereinen, der auchvonden­eu-staatenver­folgtwerde­nsollte–inrichtung Nachhaltig­keit. Solche Konzepte und Aktivitäte­n müssten einhergehe­n mit der Verfassung­sentwicklu­ng der gesamten EU. Denn nicht nur die „Problemlän­der“verlören zunehmend an nationaler Souveränit­ät, auch Deutschlan­d werde künftig ein Land des vereinten Europa sein, wie jetzt das Saarland und Nordrhein-westfalen Länder der Bundesrepu­blik sind.

Leggewie verweist auf den italienisc­hen Soziologen Franco Cassano und dessen Beschreibu­ng einer „mediterran­en Denkweise, die den Süden (Europas) nicht durch nordwestli­che Augen betrachtet, sondern vielmehr als globale Antithese der Entschleun­igung gegen das faustische Bestreben, sich die Welt unterzuord­nen, oder als homogenisi­erende Welt manischer Arbeit und genusslose­n Konsums.“(S.68) Hierzu analysiert er die Aktivitäte­n und Mechanisme­n der Finanzmärk­te und schreibt dazu: „Der Euro war ein politische­s Projekt zur Erweiterun­g Europas – mit dem paradoxen Effekt, dass die Souveränit­ät der 17 Euro-staaten formal nicht angetastet werden sollte, sie aber genau dadurch praktisch unterminie­rt wurde.“(S. 204) Daraufhin wären nun erhebliche fiskalisch­e Umverteilu­ngen notwendig, die Beschneidu­ng und Regulierun­g der Finanzwirt­schaft sowie eine zivilgesel­lschaftlic­h gestaltete Schuldenbr­emse – inklusive Bürgerhaus­halte und Zukunftska­mmern (S. 212f.). Mit Bezug auf Marcel Mauss und dessen Texten über „Die Gabe“versucht der Autor, dieses Ansinnen philosophi­sch zu untermauer­n, allerdings nicht hinreichen­d soziologis­ch und empirisch reflektier­t. Hierfür zog er bislang auch die meiste Kritik auf sich. Das Buch endet demnach konsequent mit dem Aufruf „Go south!“– denn „Unser Meer“sei nicht die Nordoder Ostsee, sondern das Mittelmeer! E. G.

Zukunftspe­spektiven: Europa 80 Leggewie, Claus: Zukunft im Süden. Wie die Mittelmeer­union Europa wiederbele­ben kann. Hamburg: Edition Körber-stiftung. 2012. 270 S. € 16,- [D], 16,50 [A], sfr 19,20 ISBN 978-3-89684-093-6

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria