Kernfusion als Hoffnung?
Doch derzeit fließen noch enorme Forschungsmittel in die Atomenergie – der neue Hoffnungsträger heißt Kernfusion. Ähnlich der Euphorie, die in den 1950er-jahren gegenüber der Kernspaltung herrschte (geschwärmt wurde von atomgetriebenen Flugzeugen oder Schiffen, man glaubte mit der „friedlichen“Nutzung der Kernspaltung alle Energieprobleme der Zukunft lösen zu können!), so verhält es sich nun mit der Kernfusion. In dem Länder und Kontinente übergreifenden Projekt ITER (lateinisch: der Weg!) mit Versuchsanlagen im französischen Cadarache soll der Kernfusion als neue Zukunftslösung zum Durchbruch verholfen werden. 135 Mio. Euro hat allein Deutschland, das ja nach Fukushima „erneut“den endgültigen Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen hat, 2010 in dieses Vorhaben gepumpt. Seit 1973 hat die deutsche Bundesregierung nach eigenen Angaben 3,3 Mrd. Euro für Kernfusionsforschung ausgegeben. Die Energieexpertin Silvia Kotting-uhl schätzt die Entwicklungskosten von ITER auf 100 Mrd. Euro, um dann um 2050 womöglich Strom aus Kernfusion gewinnen zu können, was in Bezug auf den Klimawandel jedoch viel zu spät ist. Die Hoffnung, mit Kernspaltung und Kernfusion unerschöpfliche Energiequellen zu finden, bezeichnet die Autorin daher als „Utopie des Industrialismus von gestern“(In: Jahrbuch Ökologie 2011, S. 157, s. PZ 2012/1). Auch Wesselak/schabbach kommen im Lehrbuch „Energie“zum Schluss, dass die Kernfusion in jenem Zeitfenster, in dem aufgrund des Klimawandels und des Versiegens der fossilen Energiequellen der Umstieg auf neue Energiequellen nötig sein wird, „keinen Beitrag zur Energieversorgung“leisten könne (S. 29).
Der Atomphysiker Elmar Träbert erinnert in seiner Einführung „Radioaktivität. Was man wissen muss“schließlich daran, dass man neben der technischen Sicherheit auch „die Probleme von menschlichem Versagen, von Betrug und Schlamperei, von Korruption und Vorteilsnahme bedenken“müsse (S. 233). So habe die Betreiberfirma Tepco „16 Jahre lang die Betriebs- und Pannenberichte frisiert und verschleppt“(S. 232). Träbert weiß von zahlreichen Pannen der Atomindustrie zu berichten, in der auch viel (öffentliches) Geld in den Sand gesetzt wurde, und er verweist auch auf die „Hinterlassenschaften der Kernwaffenproduktion“(S. 131), die ja – vom Konflikt mit dem Iran abgesehen – immer mehr aus der öffentlichen Wahrnehmung entschwindet. Das Versagen der Atomfirma Tepco ist u. a. auch Thema der Journalistin Susan Boos der Zürcher Wochenzeitung, die mit „Fukushima lässt grüßen“wohl die erste umfangreiche Chronologie der Atomkatastrophe vorgelegt hat.
Abschließend sei auf drei weitere Abhandlungen verwiesen, die aus historischer Perspektive Einblicke in die unrühmliche Geschichte der Atombombe sowie der Nuklearunfälle geben. Peter Jaeggi hat mit Co-autorinnen in einem „nuklearen Lesebuch“die beklemmende Geschichte der Atomkatastrophe von Tschernobyl rekonstruiert. Von Stefanie Cooke, Mitarbeiterin des„atomic Scientist“, stammt eine faktenreiche Geschichte der Atomenergie, der auch detaillierte Recherchen zum Atomprogramm der Sowjetunion zu Grunde liegen – mit Unterlagen, die in früheren Abhandlungen – etwa von Robert Jungk – noch nicht zugänglich waren. Die Expertin schlägt eine Globale Energiepartnerschaft für tragfähige Energiealternativen sowie international überwachte Deponien vor, „auf denen alle Atommächte ihre Waffen verschrotten lassen könnten“(S. 509) .Der Wissenschaftspublizist Hubert Mania beschreibt in seiner ebenso um-
fangreichen Monografie „Kettenreaktion“die Geschichte der Atombombe und widmet sich dabei ausführlich auch der Rolle der deutschen Atomphysiker im Ns-regime. Befremdend an der Abhandlung erscheint freilich, dass zwar die Entwicklung der Atombomben und deren Tests ausführlich beschrieben werden, nicht mehr jedoch deren Einsatz mit den verheerenden Folgen auf die Bevölkerungen von Hiroshima und Nagasaki, was etwa bei Robert Jungk („Strahlen aus der Asche“) nachzulesen gewesen wäre. H. H.
Atomenergie: Kritik
53 Störfall Atomkraft. Aktuelle Argumente zum Ausstieg aus der Kernenergie. Hrsg. v. Karl W. Koch … Mit einem Vorwort v. Franz Alt. Bad Homburg:
VAS, 2011. 287 S., € 19,80 [D] 20,40 [A], sfr 26,70 ISBN 978-3-88864-468-9
54 Abschalten! Warum mit Atomkraft Schluss sein muss und was wir alle dafür tun können. Hrsg. v. Campact. Frankfurt/m.: Fischer, 2011. 430 S.,
€ 9,99 [D], 10,30 [A], sfr 13,50
ISBN 978-3-596-18983-0
55 Wesselak, Viktor; Schabbach, Thomas:
Energie. Erfurt: Landeszentrale für Politische Bildung, 2011. 103 S. ; ISBN 978-3-937967-72-1
Kostenfreie Bestellung: www.thueringen.de/th1/lzt/publikationen/
56 Träbert, Elmar: Radioaktivität. Was man wissen muss. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2011. 254 S., € 8,99 [D], 9,30 [A], sfr 12,20
ISBN 978-3-462-0378-5
57 Jaeggi, Peter: Tschernobyl für immer. Von den Atombombenversuchen im Pazifik bis zum Supergau in Fukushima. Basel: Lenos, 2011. 407 S.,
€ 24,90 [D], 25,60, sfr 34,ISBN 978-3-85787-419-2
58 Cooke, Stefanie: Die Geschichte des nuklearen Irrtums. Köln: Kiepenheuer & Witsch,
2011. 592 S. , € 9,99 [D], 10,30 [A], sfr 13,50
ISBN 978-3-462-04373-0
59 Mania, Hubert: Kettenreaktion. Die Geschichte der Atombombe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2010. 351 S., € 22,95 [D], 23,60 [A], sfr 34,ISBN 978-3-498-00664-8