Lebendige Demokratie
Die Rolle der Zivilgesellschaft – Tagung zum 100. Geburtstag von Robert Jungk
Am 15. März 2013 fand in der Robert-jungkbibliothek das erste „Salzburger Forum der Zivilgesellschaft“statt. Am 13. und 14. Juni folgte in St. Virgil Salzburg – ebenfalls im Rahmen von „Robert Jungk 100“– eine internationale Tagung über die „Vitalisierung von Demokratie und Zivilgesellschaft“mit hochkarätigen Vortragenden.
Ein Bericht von Hans Holzinger
Zur Würde des Menschen gehöre es, selbstbestimmt zu leben und auf das einzuwirken, was auf uns einwirkt, so Andreas Gross (s. Bild), Experte für Direkte Demokratie und Mitglied des Schweizer Nationalrats sowie des Europarats in seinem Einleitungsreferat. Demokratie sei die Voraussetzung für eine vernünftige öffentliche Ordnung, doch diese sei in die Krise geraten. Sie gleiche einem Schiff, dessen Steuerrad nicht mehr ins Wasser reicht: „Da hilft es nicht zu streiten, wer ans Ruder darf. Es muss das Ruder verlängert werden.“Der Politikwissenschaftler sieht zwei Wege: zum einen gehe es um die Ausweitung der Direkten Demokratie. Denn die Gesellschaft sei zu mehr fähig als ihr die Demokratie heute erlaubt, es bestehe ein „Know-how-überschuss“. Zweitens sei die Gesellschaft heute geprägt vom Transnationalen, die Marktkräfte könnten nur mehr mit transnationaler politischer Macht zivilisiert werden. Es gehe darum, die „Demokratie zu europäisieren“. Gross plädierte für eine föderalistische europäische Verfassung als „Vereinbarung der Bürgerinnen“, die per Eu-weiter Volksabstimmung umgesetzt werden sollte. Letztlich gehe es um globale Grundrechte, die Allgemeinen Menschenrechte müssten durch das Recht auf Nahrung und sichere Behausungen sowie um das Recht auf Bildung erweitert werden.
Das Ungenügen der Demokratie hängt für den Politikexperten mit der ausschließlichen Konzentration auf die „Repräsentative“zusammen, wobei der Wissensunterschied zwischen Repräsentanten und Repräsentierten in der Wissensgesellschaft schwinde. Doch niemand gebe freiwillig Macht ab, außer aus Angst „alles zu verlieren“. Es sei daher Aufgabe zivilgesellschaftlicher Akteure, mehr Selbstbestimmung durch die Bürgerinnen einzufordern. „Die Demokratie braucht Europa und Europa braucht eine bürgerfreundliche direkte Demokratie“, so die Schlussfolgerung von Gross.1) Die Macht der Parteispitzen müsse gebrochen werden, Wahllisten sollten flexibler und offener werden. Insbesondere brauche es aber das Initiativrecht der Bürgerinnen, um selbst Gesetzesvorschläge lancieren zu können. Dabei sollten die Hürden für direkte Demokratie bewusst niedrig gehalten werden. Die für Österreich diskutierten Beteiligungsquoren von 10 Prozent und mehr hält Gross für viel zu hoch; das mache es den Gegnern einer Initiative leicht, diese durch Nicht-hingehen zu boykottieren (in der Schweiz reichen 2 Prozent der Wahlberechtigten, um eine Volksinitiative zu starten). Notwendig sei auch eine freie Unterschriftensammlung, da nur so offene Dialoge entstünden: „Nur wer ins Gespräch mit anderen kommt, lernt etwas.“(In Österreich muss die Unterstützung eines Volksbegehrens auf einer Behörde erfolgen). Die Angst vor Missbrauch sieht Gross nicht, da zum einen Grundmenschenrechte von Abstimmungen ausgeschlossen werden sollten (dass dies in der Schweiz fehle, sei ein Manko an der Schweizer Direkten Demokratie), und zum anderen Volksabstimmungen immer Lernprozesse darstellten. Direkte Demokratie sei freilich nicht umsonst zu haben, sie erfordere insbesondere die Entschleunigung von Entscheidungsprozessen: „Alles was Menschen einschließt braucht Zeit, alles was schnell geht schließt Menschen aus.“Direkte Demokratie würde, so Gross abschließend, die repräsentative Demokratie nicht ersetzen, aber über diese hinausweisen: Macht sei das Privileg, nicht lernen zu müssen, daher brauche es eine „feinere Verteilung der Macht“.
Wiedergewinnung des Sozialen
Serge Embacher vom Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement Berlin legte in der Folge den Fokus nochmals auf die Koordinatenverschiebungen in den Gesellschaften der Spätmoderne. Er sprach von drei Krisen: der „Durchsetzung des neoliberalen Dogmas“, der „Zerrüttung des sozialen Zusammenhalts“sowie der „Krise der verfassten Demokratie“. Die Krisen äußern sich laut Embacher im Vorrang des Privaten vor dem Staat, der Desavouierung sozialer Sicherheit, der Ökonomisierung von immer mehr Lebensbereichen, der „Satisfaktionsfähigkeit“von maßlosem Reichtum sowie schließlich der Pervertierung des Verantwortungsbegriffs: „Jeder Einzelne ist für sein Fortkommen allein verantwortlich und es ist nicht mehr die Verantwortung der Gesellschaft, ihren Mitgliedern gedeihliche Entwicklungsbedingungen zu verschaffen.“Zudem habe eine Entkopplung der sozialen Schichten über die Einkommensunterschiede stattgefunden, die „Eliten“hätten sich aus dem demokratischen Konsens sozialer Gerechtigkeit verabschiedet, das „Leistungsversprechen“trage nicht mehr und „sozialer Fortschritt“sei zur „von allen gebrauchten Floskel“verkommen. Die Krise der verfassten Demokratie äußert sich nach Embacher im Fehlen grundlegender Zukunftskonzepte, stattdessen werde an der restriktiven Fiskalpolitik, dem Wachstumsparadigma, der Entsolidarisierung Europas über die Austeritätspolitik sowie an einer repressiven Sozial- und Arbeitsmarktpolitik festgehalten. Demokratie als „soziale Demokratie“bedeute jedoch „inklusive Politik, öffentliche Kontrolle, öffentlichen Diskurs und Offenheit für Innovationen“. Die Förderung einer solidarischen Bürgergesellschaft ist für Embacher daher das Gebot der Stunde, informelle und formelle Beteiligungsmodelle sollten dabei verbunden werden. Neben dem Ausbau der Instrumente der Direkten Demokratie plädierte der Experte für Demokratie-audits, die an Gemeinwesen vergeben werden, für die Erstellung von Beteiligungssurveys analog den Freiwilligensurveys, für „massive Investitionen in Politische Bildung“sowie schließlich für ein „Neudenken der Sozialpolitik“, etwa durch Einführung eines Grundeinkommens. Hierfür notwendig seien
auch geeignete Orte, etwa „Demokratiebüros“als Anlaufstellen für Beteiligung, Freiwilligenagenturen, Bildungshäuser, Versammlungsstätten und Selbsthilfezentren. Jede Generation müsse ihre zentralen Fragen neu stellen, so Embacher abschließend, heute müsse daher die „Erneuerung des sozialen Zusammenhalts“ganz oben auf der Agenda stehen.
Jugendliche einbinden
Friedrun Erben ist pädagogische Mitarbeiterin der Evangelischen Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendarbeit in Berlin. Umgesetzt werden von dieser Projekte, so die Erziehungswissenschaftlerin, „die Jugendliche sprachfähig machen und die Lust auf Zukunft und Bildung fördern“, etwa wenn junge Menschen ihre Lebenswelten in gesellschaftskritischen Raps ausdrücken. Partizipation bedeute in diesem Sinn, „Verantwortung für sich und andere zu übernehmen“, nur so bestehe die Chance, diese Haltung auch ins politische Verhalten zu transformieren. Grundbedingungen für Partizipation seien Respekt und Anerkennung. Renate Schnee vom Wiener Stadtteilprojekt „Schöpfwerk“pflichtete dieser Aussage im Kontext von Stadtteilentwicklung bei: Es gehe um „aktivierende Milieus“, d. h. es müssen „Räume geschaffen werden, wo man sich eingeladen fühlt“. Jugend- und Sozialarbeiterinnen seien dabei „professionelle Nichtwissende“, die die Ressourcen, Defizite und Ideen im Stadtteil erkunden können. Darauf aufbauend gelte es, die Bereitschaft zur Mitgestaltung zu wecken. Individuelle und gesellschaftliche Problemlagen müssten dabei zusammengesehen werden, denn: „Probleme werden häufig woanders erzeugt als wo sie sich zeigen“. Dies zu erkennen und entsprechend zu reagieren, ist für Schnee zentrale Aufgabe einer nachhaltigen Stadtentwicklung.
Zivilgesellschaftliche Potenziale
Holger Krimmer, Leiter des für Deutschland erstellten Zivilgesellschafts-survey, bezifferte die Zahl der Engagierten in der Bundesrepublik auf 22 Millionen; zudem gäbe es in der Zivilgesellschaft bereits 2,3 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Mit Zivilgesellschaft umschreibt das Projekt „Zivilgesellschaft in Zahlen“(Zivz), das vom Stifterverband für Deutsche Wissenschaft gefördert wird, alle Initiativen und Vereine sowie Stiftungen und Genossenschaften „an den Übergängen zu Staat und Markt“. Ziel müsse insbesondere sein, die Arbeitsteilung zwischen staatlichen, marktlichen und zivilgesellschaftlichen Angeboten gut hinzukriegen und die Potenziale der Selbstorganisation zu erhalten bzw. zu stärken, langfristige Perspektivenplanung müsse dabei vor „Projektitis“gehen, so Krimmer in seinem Bericht.
Hannes Wezel, Referent im Stab der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung im Staatsministerium Baden Württemberg, plädierte für ein neues Miteinander von Parlament, Verwaltung und Bürgerinnen. Bürgerbeteiligungsverfahren und Elemente der Direkten Demokratie sollen sich dabei ergänzen. Frühe Beteiligung könne helfen, Konflikte frühzeitig zu entschärfen, was der Politik mögliche Bürgerproteste erspare. Wezel verwies dabei auf das Negativbeispiel „Stuttgart 21“! Bürgerbeteiligung erfordere aber immer, auf eine Balance zwischen Minderheiten und Mehrheit zu achten, da sich naheliegender Weise Betroffene zur Wehr setzen, die ihre persönlichen Ziele verfolgen. Wichtig ist laut Wezel die „gesetzliche Verankerung von Bürgerbeteiligung“und die offene Kommunikation darüber, „wo die Entscheidungen fallen“, da nicht alles von den Bürgerinnen selbst entschieden werden könne. In Baden Württemberg wurde daher die Stelle einer Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung geschaffen, es gibt ein Beteiligungsportal als Informationsdrehscheibe sowie regelmäßige „Kamingespräche“zwischen Politik und Bürgerinitiativen als „Resonanzräume“für gegenseitiges Wahrnehmen von Anliegen. Bürgerinnenräte, die nach dem Zufallsprinzip zusammengesetzt werden, erarbeiten Vorschläge zu konkreten Fragestellungen. Zudem wurde von Bürgerinitiativen eine „Allianz für Beteiligung“entwickelt, ein Projekt das von drei Stiftungen unterstützt wird. Nicht zuletzt plädierte Wezel für Partizipationscurricula an den Verwaltungshochschulen sowie für Weiterbildungsangebote.
Grenzen der Bürgerselbstbestimmung
Markus Pausch vom Zentrum für Zukunftsstudien der FH Salzburg (im Bild rechts) verwies abschließend auf mögliche Gefahren bzw. Fallen von Bürgerbeteiligung. Instrumente der Direkten Demokratie seien „Instrumente der Mittelschicht“und als solche „sozial selektiv“. Sie würden die Politikverdrossenen nicht erreichen, außer bei polarisierenden Fragestellungen wie etwa Zuwanderung oder Bettlerverbot. Das 2013 von der Salzburger Stadtregierung per Gesetz beschlossene sogenannte „Salzburger Modell“, das Volksentscheide erst „als letzten Schritt“vorsieht, also wenn informelle Gespräche zwischen Politik und betroffenen Bürgerinnen zu keinem fruchtbaren Ergebnis geführt haben, betrachtete Pausch als zukunftsweisend. Der Dialog zwischen den gewählten Mandatarinnen und den Bürgerinnen stünde hier im Vordergrund. Pausch schlug ein Gesamtpaket zur Belebung der Demokratie vor. Dazu zählen die Gewährleistung sozialer Sicherheit (die auch Umverteilung erfordere), die Einführung einer allgemeinen Wahlpflicht (die in Österreich nur bei den Bundespräsidentschaftswahlen existiert), die Umsetzung des uneingeschränkten Ausländerinnen-wahlrechts, die Etablierung von Politischer Bildung als Unterrichtfach sowie schließlich die Praktizierung von „Workplace-democracy“, also die Mitbestimmung der Menschen am Arbeitsplatz. Es gehe nicht darum, Staaten wie Unternehmen zu führen, sondern umgekehrt: „Unternehmen müssen wie demokratische Staaten geführt werden.“Für die Salzburger Landespolitik schlug Pausch ein „Ressort für Zivilgesellschaft“, die Umsetzung offener Konsultationsverfahren zu zukunftsrelevanten Themen unter Nutzung von Fach-know-how sowie schließlich die Durchführung von Bürgerinnen-räten analog von Vorarlberg oder Baden Württemberg vor. Dazu passend präsentierte Desiree Summerer einen für 2014 vom Friedensbüro Salzburg konzipierten Lehrgang „Fremdsprache Mitbestimmung. Demokratisch für Einsteigerinnen“.
Download der Vortragsfolien: www.virgil.at/de/bildung/dokumentationendownloads/2013/buendnis-fuer-beteiligung/ Salzburger Forum Zivilgesellschaft: http://salzburgerforumzivilgesellschaft.wordpress.com
1) Vgl. dazu: Andreas Gross: Europa braucht mehr Demokratie, die Demokratie aber auch mehr Europa. In: Projekt Zukunft. 14 Beiträge zur Aktualität von Robert Jungk. Hrsg. v. Klaus Firlei … Salzburg: Otto Müller Verl., 2013. S. 39-55