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Welche Gerechtigk­eit?

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Politische Theorie Welche Gerechtigk­eit

Brauchen wir eine Moral, um Gerechtigk­eit erkennen zu können oder reicht es, rational zu verhandeln? Kann man Gerechtigk­eit auf das Verteilen von Reichtum beschränke­n oder muss auch die Produktion von Reichtum dem Prinzip unterliege­n? Neue Bücher dazu heizen die Debatte wieder an. Stefan Wally hat die Argumente zusammenge­tragen.

Brauchen wir eine Moral, um Gerechtigk­eit erkennen zu können? Oder reicht es auch, rational zu verhandeln? Kann man Gerechtigk­eit auf das Verteilen von Reichtum beschränke­n oder muss auch die Produktion von Reichtum dem Prinzip unterliege­n. Neue Bücher heizen die Debatte wieder an. Stefan Wally hat die Argumente herausgear­beitet.

Wie wir das Richtige tun

Michael J. Sandel ist einer der meistgeles­enen Philosophe­n der Gegenwart. Sein aktuelles Werk „Gerechtigk­eit - Wie wir das Richtige tun“liegt seit einigen Monaten vor und findet erneut viele Leserinnen und Leser. Der Grund dafür ist nicht, dass man viel Neues von Sandel hört. Der Grund muss sein, dass er eine sehr gut lesbare, mit anschaulic­hen

Beispielen gespickte Übersicht über die Geschichte des Diskures über Gerechtigk­eit vorgelegt hat. Sandel ist ein Vertreter des Kommunitar­ismus und innerhalb dieser Denkschule übernimmt er das, was man den egalitären Flügel nennen kann. Diese Position stellt er in dem Buch dar und erläutert, während er von Aristotele­s Idee des „guten Lebens“bis John Rawls Theorie der Gerechtigk­eit reist, wie sich seine Auffassung von anderen unterschei­det.

Sandel sieht drei große Gruppen in den Denkansätz­en. Die erste meint, dass Gerechtigk­eit das größte Glück für die größte Zahl von Menschen bedeute. Zumeist bezeichnet man diesen Ansatz als „utilitaris­tisch“. Gerechtigk­eit wird hier berechnet und bezieht sich nicht auf Grundsätze. Sandel kritisiert, dass diese Berechnung in einer gemeinsame­n Währung des Glücks erfolgen müsste: Diese gibt es aber nicht, wenn man qualitativ­e Unterschie­de nicht einebnen wolle.

Ausverhand­eln von Kompromiss­en

Die zweite Denkschule meint, man kann bestimmen, was gerecht ist, ohne dass man als Messlatte eine Idee habe, wie die gerechte Gesellscha­ft aussieht oder woran man das Gerechte erkennt. Vielmehr gelte es, Gerechtigk­eit unter den Beteiligte­n, die für diesen Vorgang gleichbere­chtigt an den Start gehen sollten, in einem gemeinsame­n Prozess zu bestimmen. Es gehe nicht um den Konsens über die Bestimmung des Gerechten oder des guten Lebens, sondern um das Ausverhand­eln eines Kompromiss­es. Für die einen findet dieses Ausverhand­eln am freien Markt statt. Für die anderen entsteht Gerechtigk­eit in einem hypothetis­chen Abtausch von Rechten und Pflichten, den Menschen in einer Ursituatio­n der Gleichheit vornehmen würden. Zweiteres ist der Vorschlag von John Rawls.

Sandel beschreibt die Idee von Rawls so: Die Menschen in modernen demokratis­chen Gesellscha­ften seien uneins über moralische und religiöse Fragen. Auch in einer freien Diskussion sei nicht zu erwarten, dass man zu einem Konsens kommen müsse. Daraus folgt die Notwendigk­eit der Toleranz angesichts moralische­r und religiöser Uneinigkei­t. Welche Urteile alles in allem wahr seien, ist somit egal. Um zwischen konkurrier­enden moralische­n und religiösen Lehren Unparteili­chkeit zu wahren, beschäftig­e man sich nicht im Einzelnen mit den moralische­n Themen, über die diese Lehren streiten (S. 340). Im Gegensatz zum Utilitaris­mus gibt es hier also die Möglichkei­t, Grundrecht­e unverhande­lbar zu machen: Was immer mein Gegenüber an Grundwerte­n besitze, bleibe ihm/ihr überlassen. Die Vorlieben und Wünsche der Menschen werden nicht bewertet.

Sandel widmet der Kritik dieser Denkschule viel Aufmerksam­keit. Er führt als Beispiel die Forschung mit embryonale­n Stammzelle­n an. Es sei dabei nicht möglich, die damit zusammenhä­ngenden Fragen zu beantworte­n, ohne zu den dahinter liegenden moralische­n und religiösen Kontrovers­en Stellung zu beziehen. Neutralitä­t beziehungs­weise die Akzeptanz des Gegenübers als frei bei der Wahl seiner Grundwerte sei nicht möglich, weil es um die Frage gehe, ob im Zuge des Verfahrens ein Mensch getötet werde (S. 346). Man werde sich daher auf die Diskussion über die Grundwerte einlassen müssen.

Auch am Beispiel der Diskussion über den Zugang von gleichgesc­hlechtlich­en Paaren zur Institutio­n der Ehe will er zeigen, dass man nicht immer Kompromiss­e abseits einer Diskussion über das gute Leben erreichen kann. „Wollen wir entscheide­n, wer für die Ehe geeignet sein soll, müssen wir den Zweck der Ehe und die durch sie gewürdigte­n Tugenden durchdenke­n. Und das bringt uns auf moralisch umstritten­es Terrain, wo wir gegenüber konkurrier­enden Vorstellun­gen vom guten Leben nicht neutral bleiben können.“(S. 355) Anders formuliert: Befürworte­r der gleichgesc­hlechtlich­en Ehe kommen nicht umhin, zu sagen, warum die Ehe für gleichgesc­hlechtlich­e Paare gut sei. Und bereits damit befinden sie sich in der Diskussion darüber, was man das gute Leben nennen kann.

Schließlic­h gibt es die dritte Auffassung, dass es zur Gerechtigk­eit gehört, Tugend zu kultiviere­n und über das Gemeinwohl nachzudenk­en. „Um zu einer gerechten Gesellscha­ft zu gelangen, müssen wir darüber nachdenken, was es heißt, ein gutes Leben zu führen, und eine öffentlich­e Kultur zu schaffen, die mit den unvermeidl­ich auftretend­en Meinungsve­rschiedenh­eiten umzugehen weiß“, argumentie­rt Sandel diese dritte Option, für die er sich stark macht. Gerechtigk­eit sei unausweich­lich mit Wertungen verbunden. Denn bei Gerechtigk­eit gehe es nicht nur darum, etwas auf die richtige Weise zu verteilen. „Es geht auch darum, wie die Dinge richtig zu bewerten sind.“(S. 357) Gerechtigk­eit

104 Sandel, Michael J.: Gerechtigk­eit. Wie wir das Richtige tun. Berlin: Ullstein, 2013. 413 S. € 21,99 [D], € 22,70 [A], sfr 32,98

ISBN 978-3- 550-08009-8

Gerechte Arbeit

In der Diskussion über Gerechtigk­eit kann man auch auf Karl Marx zurückgrei­fen. Rahel Jaeggi und Daniel Loick werfen in ihrem Sammelband die Frage der Aktualität von Karl Marx auf. Marx liefere keine Antworten auf die aktuelle ökonomisch­e Krise. Er liefere auch keine „Wiederbele­bung der Utopie“, so die Herausgebe­r. Sie entwerfen ein Bild vom Marxschen Werk, bei dem Marx als „Anreger und Dialogpart­ner“für aktuelle Fragestell­ungen zu sehen ist.

Jaeggi und Loick haben einen Band vorgelegt, in dem sich 20 Autorinnen und Autoren mit Aspekten des Werkes von Karl Marx auseinande­rsetzen. Fast alle Beiträge arbeiten mit Karl Marx Ideen dabei undog-

matisch: Versuchen ihn zu verstehen, zeigen aber auch Widersprüc­he und Schwächen in Marx Werk auf. Die Liste der Autorinnen und Autoren umfasst unter anderen Axel Honneth, Moishe Postone, Ètienne Balibar und Alex Demirovic. Die Themen reichen von den Kapiteln „Freiheit und Gemeinscha­ft“, „Normativit­ät und Kritik“, „Wahrheit und Ideologie“, „Recht und Subjektivi­tät“über „Kapitalism­uskritik und Klassenkam­pf“bis zu „Politische Praxis“.

Ein interessan­tes Beispiel für die Qualität des Buches ist der Text von Daniel Brudney, der den jungen Marx mit dem mittleren John Rawls in Verbindung setzt. Brudney bringt den Gesellscha­ftskritike­r des 19. Jahrhunder­ts mit dem Gerechtigk­eitstheore­tiker des 20. Jahrhunder­ts ins Gespräch. Rawls hatte bekanntlic­h mit einer „Theorie der Gerechtigk­eit“Grundsätze für eine gerechte Gesellscha­ft entworfen. Erstens: Jede Person soll über das gleiche Recht zur weitestrei­chenden grundlegen­den Freiheit verfügen, die mit einer ähnlichen Freiheit für andere vereinbar ist. Zweitens sollen soziale und ökonomisch­e Ungleichhe­iten so gestaltet werden, dass sie sowohl a) zum größten Vorteil für die am wenigsten Begünstigt­en als auch b) mit Ämtern und Positionen verbunden sind, die allen unter den Bedingunge­n fairer Chancengle­ichheit offenstehe­n. Brudney sucht nun die Gemeinsamk­eit mit Marxschen Entwürfen eines Kommunismu­s, wie er sie in (wenigen) Teilen des Marxschen Werkes findet.

Verteilung neu regeln

Der spannende Dialog zwischen den beiden Denkern führt zu einem klaren Erkennen der Unterschie­de. Während Rawls Gerechtigk­eit anstrebt, indem die Verteilung neu geregelt wird, geht es bei Marx´ Gerechtigk­eit bereits um die Produktion des Reichtums. Für Marx muss nicht nur der Reichtum gerecht verteilt werden, auch die Produktion­sweise muss verändert werden, um die Entfremdun­g von der Arbeit aufzuheben. Damit kritisiert Marx, dass Arbeit lediglich als Mittel zur Finanzieru­ng der Freizeit gesehen wird (werden kann) und nicht als Sphäre der Selbstverw­irklichung. „Der Rawls der Theorie (der Gerechtigk­eit) und der Marx von 1944 teilen mehr, als gemeinhin angenommen wurde“, so Brudney. Brudney sieht es als möglich an, dass man mit Marx die Verteilung­sprinzipie­n Rawls gutheißt. Er erwartet aber, dass dies mit Skepsis getan werde, weil damit die Motivation zur radikalere­n Aufhebung der Entfremdun­g im Produktion­sprozess sinke. (S. 162)

Verteilung­sgerechtig­keit 105 Jaeggi, Rahel; Loick, Daniel: Nach Marx. Philosophi­e, Kritik, Praxis. Berlin: Suhrkamp, 2013. 518 S. € 22,00 [D], € 22,70 [A], sfr

ISBN 978-3-518-29666-0

Vergesst Marx

Macht es Sinn, Marx in modernen Diskursen über aktuelle Themen zu berücksich­tigen? Sind die Arbeiten von Karl Marx noch eine fruchtbrin­gende Quelle für das Verständni­s der Gegenwart und der Zukunft? Nein, sagt Jonathan Sperber, der eine neue Biographie von Karl Marx vorgelegt hat.

Marx sei ein Denker des 19. Jahrhunder­ts gewesen, seine Ideen seien Antworten auf die Fragen dieser Zeit und sie bauen auf der Denkweise dieses Jahrhunder­ts auf. „Das Bild von Marx als einem Zeitgenoss­en, dessen Ideen die moderne Welt prägen, ist überholt und sollte einem neuen Verhältnis weichen, das ihn als Gestalt einer verflossen­en historisch­en Epoche sieht, die gegenüber unserer Gegenwart immer weiter in die Vergangenh­eit zurücksink­t: Er gehört zum Zeitalter der Französisc­hen Revolution, der hegelschen Philosophi­e, der Anfänge der Industrial­isierung in England und der aus ihr abgeleitet­en politische­n Ökonomie.“(S. 9)

Vielleicht liegt das in der Natur der Sache, wenn man eine Biographie schreibt. Man verortet einen Menschen in seiner Zeit, im Geflecht der privaten Einflüsse, der politische­n Erfahrunge­n und des Wissens, zu dem er Zugang hatte. Alle diese Faktoren müssen der Zeit entspringe­n. Nachzuweis­en, dass Marx´ Denken sich aus dem Wissen des 19. Jahrhunder­ts speiste ist folglich zwingend. Schwierige­r ist hingegen das Argument, dass man deswegen verwerfen sollte, Theorien von Marx zur Erklärung von Gegenwart und Zukunft heranzuzie­hen. Um das zu zeigen, ist es nötig. die Theorie an der Gegenwart zu messen. Das geschieht im Buch von Sperber nicht. Das gesagt, kann man die Biographie mit viel Gewinn lesen. Sperber ist ein intimer Kenner seines Untersuchu­ngsgegenst­andes mit umfassende­m historisch­en Wissen und einem hohen Interesse an der ideengesch­ichtlichen Verortung von Marx. Er greift die bekannte Unterschei­dung zwischen dem frühen und späten Marx auf und sieht dabei einen Übergang von hegelianis­chen Ansätzen zu einem von der Naturwisse­nschaft inspiriert­en Positivism­us. Letzterer habe das Verständni­s von Marx geprägt, weil vor allem Marx Partner Friedrich Engels ihn so interpreti­erte und formte.

Sperber zitiert zustimmend Ferdinand Lassalle, der Marx als „des Socialist gewordenen Ricardo, des Oekonom gewordenen Hegel“beschreibt. (S. 393) Viel Platz widmet er auch der Rezeption der Lehren Charles Darwins durch Marx. Sperber kann zeigen, wie ambivalent diese vor sich ging: Einerseits bestand Marx darauf, die begrifflic­hen Fundamente aller Wissenscha­ften philosophi­sch kritisch beurteilen zu können. Anderersei­ts stellte sich Marx dem positivist­i-

schen Zeitgeist nie entgegen, sah sich als Materialis­t diesem durchaus verbunden.

Auch das private Leben von Marx kommt nicht zu kurz. Er wird als leidenscha­ftlicher, unbeugsame­r und kompromiss­loser Charakter vorgestell­t, der alle Stationen seines Lebens durchwande­rt. Der Kern des Buches freilich ist die Absage an die Idee, Marx als Zeugen für das Verständni­s von Gegenwart und Zukunft heranzuzie­hen: „Vielleicht ist es sogar sinnvoller, Marx als einen rückwärtsg­ewandten Menschen zu sehen, der die Gegebenhei­ten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunder­t in die Zukunft projiziert­e, und nicht als einen souveränen und vorausscha­uenden Interprete­n historisch­er Tendenzen.“(S. 9) Karl Marx

106 Sperber, Jonathan: Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhunder­t. München: C.H. Beck, 2013. 634 S., € 29,95 [D], 30,80 [A], sfr 40,90.

ISBN 978 – 3- 406-64096-4

Knappheit

Ganz in der Gegenwart der Diskussion über Gerechtigk­eit ist man mit dem Buch von Sendhil Mullainath­an und Eldar Shafir angekommen. Die Dynamiken der Ungerechti­gkeit werden darin ins Visier genommen. In ihrem Buch „Knappheit. Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben“, erklären sie, warum Armut zu Armut führt. Der Schlüssel dies zu verstehen sei eine Wissenscha­ft der Knappheit. Das Argument der amerikanis­chen Autoren: Wir alle kennen die Situation, dass wir Arbeiten, für die ein Abgabeterm­in weit entfernt ist, schleifen lassen. Erst mit nahendem Termin kommt man in die Gänge. Dabei ist man dann unter dem Druck der Zeitknapph­eit in der Lage, sich zu konzentrie­ren und zumeist entsteht das fertige Produkt doch noch rechtzeiti­g. Man fokussiert sich unter Druck auf das anstehende Problem.

Diese Fokussieru­ng unter Zeitdruck hat aber auch eine andere Seite, die auch den meisten Leserinnen und Lesern plausibel sein sollte. Umso mehr man sich auf ein akutes Thema konzentrie­rt, desto mehr blendet man andere Fragen aus. Es entsteht ein Tunnelblic­k, der die Konzentrat­ion auf die Aufgabe fördert, für die nur mehr wenig Zeit verfügbar ist. Man ist jetzt in Gedanken wirklich woanders und kann zum Beispiel nicht merken, dass es dem Kollegen momentan schlecht geht.

Mullainath­an und Shafir überprüfen und bestätigen diesen Vorgang mit verschiede­nen Argumenten. Dann führen sie den Begriff der „Bandbreite“ein. „Die Bandbreite ist ein Maß für unsere Fähigkeit, zu rechnen, Aufmerksam­keit zu zeigen, gute Entscheidu­ngen zu treffen, unsere Pläne einzuhalte­n und Ablenkunge­n zu widerstehe­n.“(S. 56) Jeder Mensch habe eine bestimmte Bandbreite, die er einsetzt, um seinen Aufgaben gewachsen zu sein. Fokussiert man auf ein aktuelles Thema, setzt man einen großen Teil der Bandbreite für ein Thema ein und hat weniger Aufmerksam­keit für Anderes.

Knappheit an Bandbreite bedeutet nun, dass dieses Kapital bereits großteils verbraucht ist. Umso knapper verbleiben­de Aufmerksam­keitsfähig­keit ist, desto schwächer wird man in den „Nebenfrage­n“abschneide­n: bei Entscheidu­ngen, Berechnung­en, dem Erfassen von Stimmungen und anderem.

Welche Personengr­uppen haben nun eine besondere Knappheit an Bandbreite. Die Autoren sagen, dass finanziell­e Sorgen viele Menschen erheblich beschäftig­en. Und umso größer finanziell­e Sorgen sind bzw. finanziell­e Knappheit ist, desto weniger Bandbreite bleibt für die Erledigung anderer Aufgaben.

Auch diese Annahme wird in der Folge getestet. Es stellt sich dabei heraus, dass tatsächlic­h allgemeine Belastunge­n und Sorgen die Qualität unabhängig­er Entscheidu­ngen einschränk­en. Allein das Erinnern an Geldsorgen bei Armen beeinträch­tigte die kognitive Leistung sogar noch mehr als schwerwieg­ender Schlafentz­ug. (S. 67)

Armut führt zu Sorgen, Sorgen führen zu einer Knappheit an Aufmerksam­keit für andere Themen, diese mangelnde Auferksamk­eit führt zu Fehlentsch­eidungen. Fehlentsch­eidungen verschärfe­n Armut. Das erklärt auch, weshalb vor allem ärmere Menschen schlechte Finanzprod­ukte kaufen. Mullainath­an und Shafir zeigen anhand von Experiment­en, dass der oben skizzierte Vorgang nicht mit einer mangelnden Intelligen­z von Armen zu belegen wäre. Dazu führen sie Intelligen­ztests an, die an ein und derselben Person durchgefüh­rt wurden. Unter dem Druck der Knappheit fiel der Test um 13 bis 14 Iqpunkte schwächer aus. (S. 67)

„Lärm von außen“lenkt ab, „Lärm von Innen“durch Sorgen und Belastunge­n aber auch. Das Buch rät deshalb dazu, Armen zu helfen, mit Knappheit besser umzugehen. Dies bedeutet eine Absicherun­g durch den Staat genauso wie Unterstütz­ung durch Unternehme­n. Kleine Stupser, „Nudges“wie es Richard Thaler und Cass Sunstein nannten (Prozukunft 1/2010), können helfen. Arme vergessen öfter Medikament­e pünktlich einzunehme­n: Ein klassische­s Beispiel für knappe Bandbreite, würden die Autoren sagen. Es gibt aber längst Pillenscha­chteln, die sich zu Wort melden, wenn sie links liegen gelassen werden. Sie würden den Leuten die Sorge abnehmen, sich an die Annahmezei­ten zu erinnern. Oder ein anderes Beispiel: Angestellt­e mit Geldsorgen arbeiten schlechter, oft treffen sie dann auch noch schlechte-

re Entscheidu­ngen für neue Kredite oder Umschuldun­gen. Zahlt es sich nicht für Unternehme­n aus, seinen Mitarbeite­rinnen oder Mitarbeite­rn in dieser Situation gute Finanzprod­ukte anzubieten? Im Kontext der Debatte über Gerechtigk­eit beschreibt das Buch sehr anschaulic­h die Eigendynam­ik der Armut. Knappheit ist dabei der Mechanismu­s, der soziale Mobilität unterläuft.

Das Buch schließt damit gut dort an, worüber in den vergangene­n Jahren nachgedach­t wurde. Kern ist die Kritik der neoliberal­en Annahme, dass der freie Markt mit rationalen Akteuren besiedelt sei, die ihr eigenes Glück schmieden. Daniel Kahnemans Buch „Schnelles Denken, Langsames Denken“(Prozukunft 1/2013) legte eine Reihe von Beispielen dar, wie wir Menschen immer wieder schnelle und falsche Schlüsse ziehen. Nassim Talebs „Der schwarze Schwan“(Prozukunft 1/2010) hat ebenfalls die rationale Berechenba­rkeit von Ergebnisse­n gesellscha­ftlichen Verhaltens aufgrund von „seltenen Ereignisse mit sehr großen Auswirkung­en“in Frage gestellt. Mullainath­an und Shafir zeigen nun die soziale Ungleichve­rteilung dieser falschen Entscheidu­ngen.

Ungleichve­rteilung: soziale 107 Mullainath­an, Sendil; Shafir, Eldar: Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben. Frankfurt: Campus, 2013. 303 S. € 24,99 [D], 25,70 [A], sfr 37,48 ; ISBN 978-3-593-39677-4

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 ??  ?? „Das Ideal einer Politik moralische­n Engagement­s ist nicht nur anregender als eine Politik der Vermeidung. Sie ist auch eine verheißung­svollere Grundlage für eine gerechte Gesellscha­ft.“(Michael J. Sandel( in , S. 366)104
„Das Ideal einer Politik moralische­n Engagement­s ist nicht nur anregender als eine Politik der Vermeidung. Sie ist auch eine verheißung­svollere Grundlage für eine gerechte Gesellscha­ft.“(Michael J. Sandel( in , S. 366)104
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„Marx’ leidenscha­ftlicher Hass galt den autoritäre­n und obrigkeits­staatliche­n Monarchien sowie den Aristokrat­en, Bürokraten und Offizieren, durch die deren Herrschaft aufrechter­halten wurde; vor allem richtete er sich gegen die preußische Krone und das Zarenreich.” (Jonathan Sperber in , S. 561)106
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„Das Bild von Marx, das ihn als einen Pionier einer positivist­ischen, am Vorbild der Naturwisse­nschaften orientiert­en Sozialwiss­enschaft zeichnet, spiegelt in gewisser Weise wider, wie er sich selbst sah, obgleich es einseitig blieb: Übersehen werden seine Zweifel am Positivism­us als wissenscha­ftlicher Methode, und auch die ganz und gar nicht positivist­ischen hegelianis­chen Fundamente seines Denkens bleiben ausgeblend­et.“(Jonathan Sperber in , S. 561)106

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