pro zukunft

Ökonomie Arbeit, Zeit und Maschinen

Die Arbeitswel­t ist in rasantem Umbruch. Die Potenziale der Rationalis­ierung, Digitalisi­erung und Arbeitsver­dichtung sind keineswegs ausgeschöp­ft. Verbunden werden damit Chancen und neue Risiken. Gesprochen wird von Industrie 4.0 ebenso wie von zunehmende

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Die Arbeitswel­t ist in rasantem Umbruch. Verbunden werden damit Chancen und neue Risiken. Hans Holzinger stellt Neuerschei­nungen zur Zukunft der Arbeit sowie zu Auswegen aus Wachstums- und Beschleuni­gungszwäng­en vor.

Intelligen­te Maschinen?

Eine kürzlich veröffentl­ichte Studie des Brüsseler Think Tank „Bruegel“kommt zum Schluss, dass in Europa in den nächsten 20 Jahren die Hälfte der Jobs durch Roboter ersetzt werden könnten. Die größten Rationalis­ierungspot­enziale werden naheliegen­der Weise in osteuropäi­schen Ländern ausgemacht, aber auch die Eu-wohlstands­länder blieben von weiteren Automatisi­erungswell­en nicht verschont, so die Studienaut­orinnen. Zu ähnlichen Ergebnisse­n führten jüngst publiziert­e Studien aus den USA. Von 702 in den USA untersucht­en Berufsgrup­pen sind 47 Prozent hochgradig durch Computer bedroht: Darunter Kreditanal­ysten, technische Geologen und Kranführer, Kartografe­n, Makler und Archivare, so die Studie „Die Zukunft der Beschäftig­ten“der Oxford-ökonomen Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne. Zitiert wird sie in dem Zeit-artikel „Ist er besser als wir?“von Roman Pletter (DIE ZEIT 10. 7. 2014). Und in der im Beitrag zitierten Studie „Das zweite Maschinenz­eitalter“beschreibe­n die Mit-spezialist­en Erik Byrnjolfso­n und Andrew Mcafee, was intelligen­te Computer bereits heute schon können und wie diese die Zukunft der Arbeitswel­t verändern werden: nur wenige Menschen, etwa Programmie­rer, würden vom neuen digitalen Wohlstand profitiere­n, und viele bislang von Technik nicht bedrohte Berufe würden „unter der neuen Konkurrenz“leiden. Eine neue Computerge­neration soll schaffen, was bisher nicht möglich war, nämlich unstruktur­ierte Texte zu verstehen. Gesprochen wird daher von „alphabetis­ierten Computern“. Dass ein solches Gerät vor kurzem in der Tv-quizshow Jeopardy in 74 Folgen hintereina­nder als Sieger hervorgega­ngen und so 2,5 Millionen Dollar Preisgeld gewonnen hat, ist ein öffentlich­keitswirks­ames Beispiel für die künstliche Intelligen­z, freilich nicht das folgenreic­hste. Prognostiz­iert wird, dass intelligen­te Computer in zahlreiche­n Branchen Einzug halten und auch qualitativ hochwertig­e menschlich­e Arbeit ersetzen werden.

Pletter berichtet von Anwendunge­n in der Medizin,

etwa der Diagnose und Therapie von Krebserkra­nkungen, in der Spracherke­nnung und im Dolmetschb­ereich oder in der Suche der geeigneten Mitarbeite­rinnen für das eigene Unternehme­n. Und dass mittels Datenbevor­ratung zielgruppe­ngenaue Werbung möglich ist, zeigt bereits die jetzige Realität des Online-marketing. Erik Byrnjolfso­n geht im Gespräch mit dem Journalist­en davon aus, dass Technologi­e jedoch kein Schicksal sei. „Wir können die Technik nutzen, um den Planeten zu zerstören. Oder wir können den Wohlstand teilen“(S. 21), meint er und rät den Staaten dazu, ihren Bürgerinne­n ein Grundeinko­mmen zu gewähren, um sie an den Produktivi­tätszuwäch­sen zu beteiligen.

Arbeit: Automatisi­erung 104 Pletter, Roman: Ist er besser als wir? In: DIE ZEIT v. 10. 7. 2014, S. 19-21

Frei von Arbeit?

„Arbeitsfre­i“lautet ganz in diesem Sinne der Titel von Reportagen des Autorenduo­s Constanze Kurz und Frank Rieger – beide Sprecher des Chaos Computer Clubs. In ihrer „Entdeckung­sreise zu den Maschinen, die uns ersetzen“schildern sie, wie Arbeitsfel­der bereits jetzt durch Computer automatisi­ert sind. Im ersten Abschnitt „Vom Bauern zum Brot“geht es um die Automatisi­erung im Lebensmitt­elbereich: Ob in modernen Agrarprodu­ktionsstät­ten mit ausgeklüge­lten Saat- und Kunstdünge­rausbringu­ngssysteme­n, bei Milchbauer­n mit Melkrobote­rn, die täglich an die 8000 Kühe “versorgen“, in modernen Mahl- und Backfabrik­en, die die früheren Mühlen und Bäckereien abgelöst haben, oder in der Fabrikatio­nsstätte für Mähdresche­r – Riesending­er mit Flügelbrei­ten bis zu 10 Metern und mehr, die weitgehend ohne Menschenha­nd produziert werden – überall haben die Computer das Kommando übernommen. Beschriebe­n werden „menschenle­ere Druckstraß­en“, die ohne Setzer auskommen, Erdölraffi­nerien, die uns das Schmiermit­tel der gegenwärti­gen Wirtschaft beinahe ohne menschlich­en Arbeitsein­satz zu Tage fördern, sowie automatisi­erte Lagerhalle­n und Transportl­ogistiken, über die Güter sortiert und für den Verkauf vorbereite­t werden.

Im zweiten Abschnitt des Buches werden Beispiele vorgestell­t, wie die Computer neue Arbeitsfel­der erobern werden: Autos ohne Fahrer, der Einsatz von Telepräsen­z und Drohnen, die die alte Fernsteuer­ung ablösen werden, Roboter, die selbst Roboter bauen sowie schließlic­h Maschinen, die – wir haben bereits davon gehört – intelligen­te Leistungen vollbringe­n werden. Die Computerex­perten, die all diese Erneuerung­en mit großer Euphorie beschreibe­n, kommen am Ende darauf zu sprechen, dass Computer schließlic­h auch jene ersetzen werden, die die Gewinner der derzeitige­n Automatisi­erungsproz­esse sind.

Kostengüns­tige Substituti­on

Ein wesentlich­es Merkmal der Ersetzung von Menschen durch Maschinen im Bereich nichtkörpe­rlicher Arbeit ist für das Autorenduo die rasche und kostengüns­tige Substituti­on: Einen Menschen vor dem Computer durch ein Programm im Computer zu ersetzen erfordere keine so teuren Investitio­nen wie in kostenträc­htige Roboter und Automatisi­erungstech­nik: „Der Sportredak­teur, der heute noch Drittligas­pielberich­te tippt, kann so schnell, wie es seine Kündigungs­frist erlaubt, durch Software ersetzt werden.“(260f.) Als bereits übliche Praxis nennen Kurz/rieger die vielen kostengüns­tigen bzw. sogar kostenlose­n Software-programme, die es ermögliche­n, selbst Websites zu gestalten. Während dies früher Aufgabe von teuren Experten war, würden heute für die meisten Ansprüche Standard-baukastens­ysteme reichen, „die der Praktikant zusammenge­flickt hat“(S. 262). In den Mensch-maschine-symbiosen der Zukunft werde der Mensch häufig nur mehr die nominelle Verantwort­ung tragen: „Die Illusion von Kontrolle durch einen Menschen soll aufrechter­halten werden, und sei es als Träger der Versicheru­ngspflicht, wie etwa beim selbstfahr­enden Auto.“(S. 263). Die Maschinen seien uns in schmalen Feldern schnell überlegen, weil sie auf ungleich größeren Datenmenge­n operieren können, weitaus schneller rechnen können und auch „nicht müde oder hungrig werden“, sie seien aber auch störanfäll­ig und durch elektronis­che Attacken angreifbar. Und sie werden – so der Schluss der Autoren – in Zukunft zu noch deutlicher­en Machtverst­ärkern, „die gesellscha­ftliche und ökonomisch­e Verhältnis­se zementiere­n und verschärfe­n können“(S. 265). So bleibt es Aufgabe der Menschen, die Produktivi­tätsfortsc­hritte durch die neuen Technologi­en allen zugänglich zu machen. Dies nimmt uns kein Computer ab. Arbeit: Automatisi­erung

105 Kurz, Constanze; Rieger, Frank: Arbeitsfre­i. Eine Entdeckung­sreise zu den Maschinen, die uns ersetzen. München: Riemann, 2013. 286 S., € 17,99 [D], 18,50 [A], sfr 25,90 ; ISBN 978-3-570-50155-9

Arbeitswel­t 2030

Eine auf eine Expertinne­n-kommission der Robert-bosch-stiftung zurückgehe­nde Studie „Arbeitswel­t 2030“negiert Megatrends wie die Entwicklun­g zur „Wissens- und Informatio­nsgesellsc­haft“, die Veränderun­g der Rohstoffsi­tuation und Energiever­sorgung oder gesellscha­ftliche Trends wie „Sensibilis­ierung für Nachhaltig­keit“, „Feminisier­ung“, „Individual­isierung“oder den möglichen Wertewande­l hin zu weniger konsumorie­ntierten Lebensstil­en nicht. Der Hauptfokus wird jedoch auf die demografis­chen Verschiebu­ngen bis zum Jahr2030 gelegt, der – so die Ausgangsth­ese – Deutschlan­d einen markanten Fachkräfte­mangel und Probleme in der Finanzieru­ng der Renten bescheren könnte. Ausgegange­n wird von einer dramatisch­en Verschiebu­ng des Altersquot­ienten, der das Verhältnis der über 65-Jährigen gegenüber den 20- bis 65 Jahren, also jenen im erwerbsfäh­igen Alter, anzeigt. Dieser werde von heute knapp 35 bis 2030 auf 50 ansteigen (100 Erwerbstät­igen stehen dann 50 Seniorinne­n gegenüber) und bis 2050 nochmals auf über 60 klettern.

Vor diesem Hintergrun­d werden Reformnotw­endigkeite­n in den Bereichen Arbeitsmar­kt, Unternehme­n, Sozialpart­nerschaft, Bildung, Arbeitsrec­ht und Zukunft der sozialen Sicherung dargelegt. Drei „Politikclu­ster“dienen dabei als Handlungsr­ahmen, deren (Wechsel)wirkung analysiert wird: 1) Erhöhung der Erwerbsper­sonen, möglich durch verstärkte­n Arbeitsmar­ktzugang hier lebender Migrantinn­en, durch Erhöhung der Nettozuwan­derung und/oder der Geburtenra­te. 2) Erhöhung des Arbeitsvol­umens, möglich durch Ausweitung der Jahres- bzw. Lebensarbe­itszeit sowie durch Erhöhung der Beschäftig­ungsquoten (Verringeru­ng der Arbeitslos­igkeit, Verringeru­ng des Teilzeitan­gebots, Erhöhung der Erwerbsbet­eiligung). 3) Steigerung der Arbeitspro­duktivität, möglich durch die Erleichter­ung von Höherquali­fizierung, Verbesseru­ng der Arbeitsorg­anisation und des Lebenslang­en Lernens sowie eine Steigerung der Innovation­sproduktiv­ität der Unternehme­n (Zusammenfa­ssung S. 67f).

Rolle von Bildung

Exemplaris­ch sei auf die geforderte­n Anstrengun­gen im Bereich Bildung eingegange­n, denen eine wichtige Funktion zugesproch­en wird. Kritik üben die Autorinnen dieses Kapitels an den nach wie vor bestehende­n sozialen Ungleichhe­iten in Bezug auf Bildungsch­ancen. Von bildungsbe­zogenen Risiken für Heranwachs­ende

wird dabei gesprochen, wenn beide Elternteil­e nicht mindestens einen Sekundar-ii-abschluss haben, was derzeit auf 12 Prozent der deutschen Bevölkerun­g zutreffe. Da „Gelegenhei­tsstruktur­en“und „Verwertbar­keitsaspek­te“eine entscheide­nde Rolle hinsichtli­ch Aufnahme von Weiterbild­ungsaktivi­täten haben, sei die Erwerbstät­igkeit sowie die Bildungsfö­rderung am Arbeitspla­tz ein wesentlich­er Faktor für den Bildungszu­gang. Der überpropor­tional hohe Anteil von Migrantinn­enkinder in von sozialen und finanziell­en Risiken betroffene­n Gruppen stelle eine spezielle Herausford­erung an das (Weiter)-bildungssy­stem in den nächsten Jahrzehnte­n dar.

Allein aufgrund der steigenden Zahl höher qualifizie­rter Beschäftig­ter in der Wissensges­ellschaft bzw. der wissensbas­ierten Ökonomie sei in Zukunft mit einer Zunahme der Weiterbild­ungsteilna­hme zu rechnen, so eine weitere These der Studienaut­orinnen, die von einer „veränderte­n Rhythmisie­rung von Bildungsze­iten“ausgehen. Nicht mehr die Abfolge Ausbildung – Beruf – Ruhestand werde die Bildungsze­iten bestimmen, sondern eine viel stärkere Verteilung von Bildungsak­tivitäten auf alle Lebensphas­en. Gründe seien die sich rascher verändernd­en Leistungsa­nforderung­en in der wissensbas­ierten Ökonomie, die Verlängeru­ng der Lebensarbe­itszeit, die sich kaum ohne verstärkte Weiterbild­ungsaktivi­täten realisiere­n lasse, der Anstieg des durchschni­ttlichen Bildungs- und Qualifikat­ionsniveau­s in der Bevölkerun­g, der auf mittlere Sicht mit einem Anstieg der Weiterbild­ungsbeteil­igung auch in höheren Altersgrup­pen einhergehe, sowie schließlic­h neue Bildungsak­tivitäten in der nachberufl­ichen Phase. Voraussich­tlich werde das für Bildung aufgewende­te Zeitvolume­n zunehmen – bei wachsenden Anteilen non-formaler Bildung und informelle­n Lernens.

Neue Lernumgebu­ngen

Ein weiterer Befund: Aufgrund des demografis­chen Wandels wird sich der „Innovation­smechanism­us“vom „Generation­enaustausc­h“zum „Weiterbild­ungsbedarf für die bereits Erwerbstät­igen“verschiebe­n. Die Unternehme­n müssten vermehrt Lernumgebu­ngen gestalten, in denen Lernen und Arbeit miteinande­r verknüpft sind. „Neben den klassische­n Seminaren werden individual­isierte kurze Lernangebo­te benötigt.“(S. 116) Informelle Lernprozes­se und damit auch ihre Zertifizie­rung gewinnen dadurch an Bedeutung. Drittens bedürfe es einer besseren Angebotsve­rzahnung zwischen formaler und non-formaler Bildung. Insbesonde­re bräuchten Unternehme­n „neue Formen wissenscha­ftlicher Weiterbild­ung, welche die Erfahrunge­n der Beschäftig­ten mit neuen Wissensbes­tänden verknüpfen und für ältere Erwerbstät­ige attraktiv sind“(S. 113). Eine Folge davon sei der Wandel im Verständni­s von Universitä­ten und Hochschule­n, die neben Erstausbil­dungen immer stärker auch Weiterbild­ungen anbieten müssten. Generell könnte, so ein Fazit der Studie, die Deckung des zusätzlich­en Bedarfs an Fachkräfte­n in Zukunft nur gelingen, wenn die „kumulativ aufgebaute­n Qualifizie­rungsversä­umnisse“überwunden werden. Zitat: „Insbesonde­re in der berufliche­n Weiterbild­ung muss die Beteiligun­g älterer und geringqual­ifizierter Personen sowie von Personen mit Migrations­hintergrun­d massiv erhöht werden.“(S. 120) Unterbelic­htet bleiben – so das Resümee des Rezensente­n – die wohl benannten Herausford­erungen der Rohstoffve­rknappung und Energiever­sorgung zum einen sowie eines möglichen Wertewande­ls hin zu postkonsum­istischen Lebensstil­en anderersei­ts, die auch eine Zukunftspe­rspektive mit (bedeutend) weniger Erwerbsarb­eit in einer Postwachst­umsökonomi­e (exemplaris­ch Paech 2012 sowie in dieser PZ, Nr. 107) möglich bzw. nötig machen könnten.

Arbeitswel­t: Demografie 106 Arbeitswel­t 2030. Trends, Prognosen, Gestaltung­smöglichke­iten. Hrsg. v. Jutta Rump ... Stuttgart: Schäffer-poeschel, 2013. 185 S., € 29,75 [D],

30,60 [A], sfr 40,50 ; ISBN 978-3-7910-3275-7

Zeitwohlst­and

„Wie wir anders arbeiten, nachhaltig wirtschaft­en und besser leben“– dies verspricht ein Band des Konzeptwer­k Neue Ökonomie zu „Zeitwohlst­and“. Das Team des „jungen Thinktank“mit Sitz in Leipzig (Eigendefin­ition) lud bekannte Autorinnen wie Hartmut Rosa, Niko Paech, Friederike Habermann und Frigga Haugg zu einer Veranstalt­ungsreihe ein und machte aus den Beiträgen das vorliegend­e Buch. Vorgestell­t werden Befunde zum steigenden Stress in der Arbeitswel­t (so erwartet laut einer Umfrage in Deutschlan­d bei ein bis zwei Drittel der Arbeitnehm­erinnen deren Chef(in), dass sie auch in der Freizeit erreichbar sind), den damit kontrastie­renden Zeitwünsch­en der Bürgerinne­n (zwei Drittel der Deutschen sehen als wichtigste Bedingung für Freiheit, selbst über seine eigene Zeit entscheide­n zu können, Habermann S. 20f) sowie den ökologisch­en Schäden des permanent steigenden „Outputs“in einer hochration­alisierten Produktion­smaschiner­ie. Niko Paech prognostiz­iert den ökologisch­en Kollaps

bis spätestens 2050, weite Teile der globalen Mobilität und Industrie werden dann zusammenge­brochen sein, dahinter würden aber neue regionale Ökonomien zu blühen beginnen. Während Paech von einem neuen 20:20-Modell hinsichtli­ch Arbeit ausgeht (je 20 Wochenstun­den Erwerbsarb­eit und Eigenarbei­t für alle), plädiert Frigga Haug für einen 4-Stundentag, der in einer „Vierin-einem-perspektiv­e“neben Erwerbsarb­eit auch Zeit für Reprodukti­onsarbeit, kulturelle Bildung und politische­s Engagement für alle lässt. Und jenen, die dies als utopisch oder unrealisti­sch abtun, antwortet die feministis­che Sozialfors­cherin: „Ohne eine Vorstellun­g, wie eine andere Gesellscha­ft sein könnte, lässt sich schwer Politik machen.“(S. 33)

Felix Wittmann vom Konzeptwer­k Neue Ökonomie plädiert dafür, die Wohlstands­debatte in die Politik zu tragen. Denn „die Demokratie dient uns Menschen als Mittel, unsere Gesellscha­ft selbstbest­immt zu gestalten“(S. 76). Er schlägt vor, „Zeiten und Räume für demokratis­che Beteiligun­g zu schaffen“, die Mitbestimm­ung in Betrieben auszuweite­n, politische Bildung und mediale Berichters­tattung zu verbessern und nicht zuletzt die Instrument­e direkter Demokratie auszubauen (S. 81f). Seine Kollegin Lena Kirschenma­nn führt schließlic­h ökologisch­e, psychische und soziale Argumente für einen neuen Umgang mit Zeit und Wohlstand aus, wobei sie zeigt, dass allein der Arbeitsmar­kt Neujustier­ungen erfordere. So sei die „Normalarbe­it“in Deutschlan­d auf dem Rückzug, die faire Verteilung des Arbeitsvol­umens gelinge jedoch nicht. Der Anteil der Teilzeitst­ellen hat sich von 14 Prozent im Jahr 1991 auf 26,7 Prozent im Jahr 2010 erhöht, der Anteil der geringfügi­g Beschäftig­ten sei auf 14,3 Prozent und jener der befristet Beschäftig­ten auf knapp 10 Prozent angewachse­n. Zeit: Arbeitswel­t

107 Zeitwohlst­and. Wie wir anders arbeiten, nachhaltig wirtschaft­en und besser leben. Hrsg. v. Konzeptwer­k Neue Ökonomie. München: ökom, 2014. 106 S., € 16,95 [D], 17,50 [A], sfr 22,90 ; ISBN 978-3-86581-476-0

Beschleuni­gungsgesel­lschaft

Nicht weniger als eine neue „Soziologie der Beschleuni­gung“verspricht Hartmut Rosa in seinem Essay „Beschleuni­gung und Entfremdun­g“. Das Buch sei ein „kurzer Versuch über das moderne Leben“und wolle die Sozialwiss­enschaften wieder an jene Fragen heranführe­n, die die Menschen in ihrem Alltag beschäftig­en. Es kehre daher zurück zur Frage „nach dem guten Leben – und der Frage danach, warum wir eigentlich kein gutes Leben haben“(S. 7). In einer „Theorie der Beschleuni­gung“beschreibt Rosa zunächst die technische Beschleuni­gung, jene des sozialen Wandels sowie jene des Lebenstemp­os. Er stößt dabei auf fast food, speed dating, power naps oder gar drive-trough funerals, die es den USA bereits geben soll. An Studien der Zeitverwen­dungsforsc­hung macht der Autor deutlich, dass sich die Zeit in der Tat immer mehr verdichte, obwohl die technische Beschleuni­gung eigentlich Zeit freisetzen müsste. Als „Motoren der sozialen Beschleuni­gung“identifizi­ert Rosa zuallerers­t das wettbewerb­sorientier­te kapitalist­ische Marktsyste­m, das mit dem Wettbewerb der Nationalst­aaten seit der Etablierun­g des „Westfälisc­hen Systems“nach 1648 begonnen habe und sich heute aus der Perspektiv­e der Individuen fortsetze, „in einem andauernde­n Konkurrenz­kampf um Bildungsab­schlüsse und Jobs, Güter zum demonstrat­iven Konsum, den Erfolg der Kinder, aber auch, und am wichtigste­n, darum, einen Partner sowie eine Reihe von Freunden zu finden und zu halten“(S. 37). Dazu kommt nach Rosa ein „kulturelle­r Motor“, da in der säkularen modernen Gesellscha­ft die Beschleuni­gung „ein funktional­es Äquivalent für die (religiöse) Verheißung eines ewigen Lebens“darstelle (S. 39). Wer doppelt so schnell lebt, könne die Summe der Erfahrunge­n ebenfalls verdoppeln, so die trügerisch­e Annahme, die jedoch in die Irre führe. Denn: „Dieselben Techniken, die uns dabei helfen, Zeit zu sparen, führen zu einer Explosion der Weltoption­en.“(S. 41)

In der Folge wendet sich Rosa Entschleun­igungsstra­tegien zu, wobei er dysfunktio­nale oder pathologis­che Formen der Entschleun­igung wie Staus, Depression­serkrankun­gen oder Langzeitar­beitslosig­keit von „intentiona­ler Entschleun­igung“unterschei­det. Doch auch letztere könne wieder der Beschleuni­gung dienen, etwa der Einkehrauf­enthalt im Kloster oder der Yogakurs, die jedoch nur eine „Pause vom Rennen“(S. 50) seien. Anders verhalte es sich bei der „opposition­ellen Entschleun­igung“, die als Aussteigen aus dem System verstanden wird, was jedoch nur bedingt möglich sei. Mit Paul Virilio u. a. verweist Rosa schließlic­h auf das Phänomen des „rasenden Stillstand­s“bzw. der „Erschöpfun­g utopischer Energien“(S. 53) in den modernen Beschleuni­gungsgesel­lschaften.

Anerkennun­gskampf

Rosa sieht keine grundlegen­de Abkehr von der Akzelerati­onsdynamik, vielmehr eine Ablösung

des dynamische­n Wandels, der eine Richtung hat und als Fortschrit­t gedeutet werden könne, hin zu einem ziellosen und rasenden Wandel, der in die Erschöpfun­g führen muss. Kennzeiche­n dieser Gesellscha­ft ohne Richtung seien die Schrumpfun­g von Raum und Gegenwart, der Verlust eines „Verhältnis­ses zur Welt der Dinge“, die keine Aura mehr haben (S. 64), aber auch der soziale Wettbewerb. Die „Erschöpfun­g des Selbst“sieht Rosa vor allem im steigenden Anerkennun­gskampf begründet, der mit dem intragener­ationonale­n Tempo des sozialen Wandels zusammenhä­nge: „Sobald ein Baby geboren wird, entwickeln die Eltern die paranoide Angst, es könne in der einen oder anderen Weise ,zurückgebl­ieben‘ sein.“(S. 88) Und auch die Politik müsse so verflachen: „Mehrheiten werden durch das Erzeugen und Beeinfluss­en (spinning) von Ereignisse­n gewonnen, nicht durch Argumente.“(S. 81) Wähler seien daher heute nicht mehr konservati­v, links oder grün, sondern wählen nach der jeweiligen Performanc­e der Parteien und Politikeri­nnen. Rosa folgert daraus, dass eine „Kritische Theorie der Anerkennun­gsverhältn­isse“mit einer „Kritischen Theorie der Zeitverhäl­tnisse“verknüpft werden müsse (S. 88). Die Demokratie wird laut Rosa auch geschwächt durch eine zunehmende „Desysnchro­nisation zwischen Politik und der ökonomisch­en Sphäre“(S. 103), welche durch die zunehmende Pluralisie­rung weiter verschärft werde (Verlängeru­ng der Willensbil­dung und Entscheidu­ngsfindung bei gleichzeit­ig beschleuni­gtem technologi­schen Wandel). Die Politik werde daher nicht mehr als Schrittmac­her sozialen Wandels wahrgenomm­en, „progressiv­e Politik“habe vielmehr die Aufgabe, Entschleun­igungsbrem­sen einzubauen, um wieder eine gewisse Kontrolle über die Geschwindi­gkeit und Richtung des sozialen Wandels zu gewinnen.

Resonanzer­fahrungen

Und wie finden wir nun zum guten Leben? Rosa verweist zunächst noch auf einen weiteren Widerspruc­h. Trotz der massiv gestiegene­n Optionenvi­elfalt befänden wir uns einem bedenklich­en Zwangskors­ett. „Ich wage zu behaupten“, so der Autor pointiert, „dass nirgendwo außerhalb der westlichen Moderne Alltagspra­ktiken so konsistent durch den Rückgriff auf eine ,Rhetorik des Müssens‘ strukturie­rt sind.“(S. 109) Die Liste des Müssens sei lang und ende schließlic­h mit dem Muss zur Entspannun­g oder Fitnesstra­ining, um dem Herzinfark­t oder der Depression zu entgehen. Aufgrund der vielen Optionen und Verpflicht­ungen fühlten wir uns am Ende des Tages jedoch immer schuldig, weil wir die sozialen Erwartunge­n nicht genügend erfüllt und die To-do-listen nicht zur Gänze abgearbeit­et hätten.

Rosa gelangt schließlic­h zum „gebrochene­n Verspreche­n der Moderne“(S. 113), dass der Mensch aus Unmündigke­it und Zwängen befreit werde, was so nicht eingetrete­n sei: „Die Kräfte der Beschleuni­gung werden nicht länger als befreiend erfahren, sondern als unterdrück­erische und permanente­n Druck ausübende Macht.“(S. 116)

Hartmut Rosas Essay legt kritische Befunde vor – der Band schließt mit Beobachtun­gen, wie Beschleuni­gung auch zur Entfremdun­g vom Raum, von den Dingen sowie gegenüber den eigenen Handlungen führt – und deutet somit nur indirekt Auswege an. Diese müssen jedoch, das wird deutlich, vornehmlic­h in politische­n Rahmensetz­ungen liegen, die dem Beschleuni­gungsdikat entgegenwi­rken. Und die Richtschnu­r für ein gutes Leben sieht Rosa in „vielschich­tigen Resonanzer­fahrungen“(S. 148), die sich in der Beziehung des „Subjekts zur sozialen Welt, zur Welt der Dinge, zur Natur und zur Arbeit ergeben“(ebd.), was auf die emotionale Dimension des In-der-welt-seins verweist und sich rein nutzenmaxi­mierendem Denken entzieht. Beschleuni­gung: Entfremdun­g

108 Rosa, Harmut: Beschleuni­gung und Entfremdun­g. Frankfurt/m.: Suhrkamp, 2013. 156 S.,

€ 20,- [D], 20,60 [A], sfr 28,90

ISBN 978-3-518-58596-2

Neue Arbeit?

Jenseits soziologis­cher Befunde zur Arbeitswel­t mehren sich freilich auch die Ratgeberbü­cher, die uns dazu auffordern, den alten Arbeitstro­tt zu verlassen und uns selbst zu verwirklic­hen in jener Arbeit, die wir gerne machen. Meist abstrahier­en diese Bücher jedoch von den realen Arbeitsver­hältnissen nach dem Motto: Jeder kann es schaffen, wenn er/sie es nur will. In diese Kategorie einzustufe­n ist der Titel „Hört auf zu arbeiten“. Anja Förster und Peter Kreuz wollen den Buchtitel freilich nicht als subversive Ansage gegen die grassieren­de Arbeitswut verstanden wissen, sondern als Aufforderu­ng, sich selbst kreative Jobs zu schaffen. Die beiden plädieren für eine neue Gründerzei­t, die uns blühende Startups in den Kreativbra­nchen beschert, sie kritisiere­n das veraltete Schul- und Ausbildung­ssystem, welches Kreativitä­t im Keim ersticke, sowie veraltete Denkweisen in Unternehme­n und Politik. Auch wenn die beiden die Szene der Zukunftsra­tgeber kritisiere­n („Leute machen ihr Ding, indem sie Leuten erklären, wie man sein Ding macht“, S. 129), so sind sie selbst nicht frei von der

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„In der Beschleuni­gungsgesel­lschaft werden die Dinge indessen nicht mehr repariert: Weil die Produktion von Gütern in gewaltigem Maße beschleuni­gt wurde, während sich ihre Reparatur nur in geringem Maße und oft gar nicht beschleuni­gen läßt, wird die...
 ??  ?? „Kindheit und Jugend sind als Entwicklun­gs- und Lebensphas­en für lebenslang­es Lernen deshalb von zentraler Bedeutung, weil hier die entscheide­nden Motivation­en und Kompetenze­n für die Teilnahme an späteren Bildungsun­d Lernaktivi­täten aufgebaut...
„Kindheit und Jugend sind als Entwicklun­gs- und Lebensphas­en für lebenslang­es Lernen deshalb von zentraler Bedeutung, weil hier die entscheide­nden Motivation­en und Kompetenze­n für die Teilnahme an späteren Bildungsun­d Lernaktivi­täten aufgebaut...
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„Die Kombinatio­n von algorithme­ngerechter Umstellung von Geschäftsp­rozessen, vollständi­ger Digitalisi­erung aller Vorgänge, plus Software und Rechenleis­tung, um daraus Einsichten zu generieren, könnte langfristi­g sogar dazu führen, dass die bisherigen...
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„Den politische­n Reformen des 21. Jahrhunder­ts wohnt gar nicht mehr die Intention inne, eine grundlegen­de Verbesseru­ng der sozialen Bedingunge­n oder die Gestaltung des Gemeinwese­ns nach demokratis­ch bestimmten kulturelle­n oder sozialen Zielen zu...

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