Kräfte, die unsere Welt verändern
Zentrale Herausforderungen unserer Zeit sind Thema bei Al Gore, der nach Einschätzung von Walter Spielmann einen kenntnisreichen, differenzierten und letztlich auch ermutigenden Blick auf wahrscheinliche, mögliche und wünschenswerte Zukunftspfade wirft. Der Rat für Forschung und Technologieentwicklung beschäftigt sich damit, wie Österreich im Jahr 2050 aussehen könnte und Hans Holzinger analysiert die Auseinandersetzung mit „Energie und Utopie“bei Johannes Schmidl.
Welt AG und Weltgehirn
Während vorangegangene Publikationen Al Gores wie „Eine unbequeme Wahrheit“(2006) und „Wir haben die Wahl“(2009) auch hierzulande breit rezipiert wurden, fand sein aktuelles Buch bislang nicht die gebührende Resonanz. Ganz zu Unrecht, denn Gore gelingt es auf beeindruckende Weise, zentrale Herausforderungen unserer Zeit präzise zu benennen und zudem deutliche Handlungsempfehlungen zu geben. Sechs Kräfte nimmt er dabei in den Blick: Die „Welt AG“zeichnet er als zunehmend integriertes, „ganzheitliches Gebilde“, das an der „ungesunden Konzentration auf kurzfristige Ziele“(S. 27) und der zunehmenden Schwächung demokratischer Willensbildung leidet. „Outsourcing“und „Robosourcing“seien die treibenden Faktoren der ökonomischen Entwicklung. Abschnitt 2 („Das Weltgehirn“) hat den „revolutionären und sich rasant beschleunigenden Wandel der globalen Kommunikation“zum Thema. Von der „gemeinsamen Einsamkeit“der Smartphone-user, dem Aufstieg von „Big Data“, der „Firewall-politik“totalitärer Systeme, aber auch vom Aufschwung des Internet-journalismus und einer grundlegenden Neuorientierung des Bildungswesens durch „Online-dienste“ist die Rede. Trotz der Türken eines „cyberfaustischen Pakts, der uns im Internet grenzenloses Wissen und weltliche Vergnügungen verspricht “(S. 109), ist Gore davon überzeugt, dass „das Weltgehirn einen Einigungsdruck mit sich bringt, der zur Überwindung nationalstaatlichen Denkens und zur Herausbildung globaler Entscheidungsstrukturen beitragen wird. Eben darum geht es in dem mit „Machtfragen“überschriebenen 3. Kapitel. Von Automatisierung der Kriegsführung, von Machtverschiebung „West nach Ost“, von der zunehmend geschwächten (aber letztlich doch alternativlosen?) Rolle der USA bis hin zur Gestaltungsmacht multinationaler Konzerne und zivilgesellschaftlicher Akteure reicht das Themenspektrum. Und die EU? Gore scheut sich nicht von einem „Konstruktionsfehler“zu sprechen
und hält das Scheitern des Projekts für möglich. Die öko-sozialen Folgen einer wachstumsorientierten Welt AG verhandelt Gore unter dem Titel „Auswüchse“(Abschnitt 4): die Erschöpfung der Ressourcen oder das Wachstum der Städte sind nur einige der diskutierten Themen. Neben der „Neuerfindung von Leben und Tod“(Kapitel 5) gilt die besondere Aufmerksamkeit des Autors dem Klimawandel („Am Abgrund“, Kapitel 6). Gore diskutiert politische Strategien zur Forcierung Erneuerbarer Energien und zum Ausbau „intelligenter Stromnetze“und spricht sich dezidiert gegen Ccs-verfahren, das Festhalten an der Atomenergie und Geo-engineering-projekte aus.
Letztlich, so Gore, sind es nicht Fragen der technologischen Entwicklung, sondern Werthaltungen, die über unseren weiteren Weg entscheiden. Wird es gelingen den Kapitalismus zu zähmen und demokratische Strukturen zu stärken? Im Widerstreit von „Welt AG“und „Weltgehirn“setzt Gore auf die „Wiederherstellung unserer Fähigkeit, sich in allgemein zugänglichen Foren, klar, offen und ehrlich über die schwierigen Entscheidungen auszutauschen, die wir zu treffen haben“(S. 489). Die Wiederentdeckung des Politischen, das sich v. a. in einem breiten, weltumspannenden Engagement in internetbasierten Foren artikuliert, könnte unser Denken und Handeln verändern, die „Summe der Vernunft stärken“und somit nach und nach zur „Zurückweisung vergifteter Trugbilder“führen. Dass der Autor in diesem Kontext seinem Land eine besondere Rolle und Verantwortung beimisst, ist nicht chauvinistischer Attitüde, sondern einer pragmatischen, realpolitischen Perspektive geschuldet. Ein kenntnisreicher, differenzierter und letztlich auch ermutigender Blick auf wahrscheinliche, mögliche und wünschenswerte Zukunftspfade. Es gilt, so Gores Botschaft, die Zukunft zu entscheiden. W. Sp. Zukunftsperspektiven
123 Al Gore: Die Zukunft. Sechs Kräfte, die unsere Welt verändern. München: Siedler, 2014. 624 S.,
€ 27,80 [D], 28,60 [A], sfr 41,70 ; ISBN 978-3-8275-0042-7
Österreich 2050
Wie könnte bzw. sollte Österreich im Jahr 2050 aussehen? Nach Ansicht des Rates für Forschung und Technologieentwicklung, der in diesem großzügig gestalteten Band in insgesamt acht Kapiteln namhafte Expertinnen und Experten zu Wort kommen lässt, „muss die Welt des Jahres 2050 eine radikal andere sein“(S. 13); dementsprechend gelte es, „sich Gedanken über die Zukunft Österreichs in dieser sich verändernden Welt und in einer längerfristigen Perspektive zu machen“(ebd.). Dieser Aufgabe kommt zunächst Alfred Aiginger, Leiter des WIFO nach, indem er eine umfassende „Reformmüdigkeit“als Gefahr für das „Erfolgsmodell Österreich“herausarbeitet, sich gegen die „Maximierung kurzfristiger Gewinne als einziges Ziel erfolgreicher Unternehmen“ausspricht (S. 28) und nicht weniger als 15 Punkte einer „Reformagenda für Österreich“benennt. Drei Beiträge skizzieren Perspektiven einer grundlegenden Bildungsreform: ein klares Votum für die Ganztagsschule, die Förderung von sozialer Durchlässigkeit und Maßnahmen zur Integration von Migrantinnen und Migranten sowie eine Orientierung am finnischen Bildungssystem lassen erkennen, dass die Zeiten einer parteipolitischen Blockade in Grundfragen der Bildung obsolet sind und längst überwunden sein sollten. Insgesamt skeptisch wird die Zukunft von Wissenschaft, Forschung und Innovation gesehen. Hier verliert Österreich, so die generelle Befürchtung, zunehmend an Terrain, sofern es nicht deutlich mehr Mittel in diesen Zukunftssektor investiert und unter anderem die Abwanderung von Akademikerinnen unterbunden werden kann. Dass einerseits dafür geworben wird, „Wissenschaft, Bildung, Wirtschaft und Politik systemisch zu denken“(vgl. S. 89 ff.), den Kultur- und Geisteswissenschaften in diesem Kontext aber kein Augenmerk geschenkt wird, ist dem Zeitgeist und der Dominanz von Markt und Kapital geschuldet. Doch immerhin: ein Blick auf den weltweit erhobenen „Innovationsindikator“des Zeitraums 1995-2011 zeigt Erstaunliches: die Schweiz liegt hier permanent an der Spitze; Österreich hat sich zuletzt von Rang 15 auf Position 11 verbessert [Deutschland belegt im Jahr 2011 Position 6, China ist an 21. Stelle gereiht].
Herausforderung demographischer wandel
Kapitel 4 ist dem Thema „Generationen“gewidmet. Prognosen und Befunde lassen hier wenig Platz für Mutmaßungen: Ohne Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte ist die wirtschaftliche Entwicklung massiv gefährdet; dass „35 Prozent der 16-jährigen Männer einen einfachen Satz nicht sinnerfassend lesen können“(S. 120), macht exemplarisch auf die Defizite des Bildungssystems aufmerksam. Ebenso deutlich werden der Zusammenhang von Überalterung und Migration (Rainer Münz) und der Reformbedarf des Pensionssystems (Bernd Marin) - nicht zuletzt aufgrund markant veränderter Erkrankungsmuster angesprochen: „Die durchschnittliche Krankenstandsdauer ist 40 bei seelischen statt 11 Tagen bei körperlichen Leiden. In den beiden letzten Jahrzehnten ist die Zahl der Tatbestände infolge psychischer Beschwerden und 300 Prozent gestiegen.“(s. 150)
Strukturreformen (Kapitel 5) werden in Bezug auf Föderalismus (Theo Öhlinger) und Steuergerechtigkeit (Christian Keuschnigg / Gerhard Reitschuler) angemahnt. Bestandsaufnahmen zum Thema Energie, Umwelt und Klimawandel (Kapitel 6) machen in Anbetracht des jüngst wiederum bestätigten Ausbaus fossiler Energieträger deutlich, dass Wunsch und Wirklichkeit in diesem Bereich besonders weit auseinanderklaffen. Mit dem Blick auf global-strategische Entwicklungen sieht Generalstabschef Ottmar Commenda das zunehmende Ungleichgewicht von Arm und Reich sowie den wachsenden Bedarf an seltenen Rohstoffen als größte Herausforderungen. Anton Pelinka votiert für ein „Zulassen und Fördern der weiteren Europäisierung des Landes“sowie für eine aktive Rolle Österreichs in der „Verdichtung Europas“(S. 207).
Die Bedeutung des Unvorhersehbaren
Nach einem weiteren Plädoyer für permanente Veränderung als Bedingung von Wohlstandssicherung (Christian Keuschnigg verweist auf die Rolle innovativer Unternehmen) verdient vor allem der Beitrag „Disruptive Ereignisse und wie die Politik damit umgehen kann“besondere Aufmerksamkeit. Jenseits der üblichen Systematik dominierender Zukunftsfaktoren hat hier ein Quartett von innovativen Querdenkern (H. Leo, J. Gadner, A. Gémes, W. Geiger) „im Rahmen eines offenen, kollektiven Brainstormings“das scheinbar Undenkbare in den Blick genommen. Auf der Grundlage der Rückmeldungen von 152 registrierten Teilnehmerinnen wurden unerwartete 53 Ereignisse benannt, gewichtet und von rund 2500 Personen, die die Plattform www.oesterreich 2050.at besucht haben, kommentiert. Bei aller Unterschiedlichkeit der möglichen Risiken werden drei Problemstellungen ausgemacht: 1.) die zunehmende Dominanz politischer und ökono-
mischer Eliten reduziert die Möglichkeit individueller Entfaltung 2.) wachsender Einfluss von Partikularinteressen; 3.) die Dominanz kurzfristiger Entscheidungskalküle erhöht die Zahl irrationaler Entscheidungen (S. 240). Um hier gegenzusteuern bedürfte es – so die Autoren – eines „ernsthaften Reformprogramms in Richtung langfristiger und partizipativer Entscheidungen“. So könnte „die Politik den Eindruck korrigieren, dass sie zwar nicht handlungsunfähig, aber doch unwillig ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen, welche zu sehr auf einflussreiche Gruppen mit Partikularinteressen Rücksicht nimmt“(S. 241). Über weite Teile ein solide gestalteter Blick auf mögliche und aus heutiger Sicht wahrscheinliche Entwicklungen. Empfehlenswert vor allem auch aufgrund der sorgfältigen (grafischen) Aufbereitung aktueller Daten und nicht zuletzt wegen des zuletzt skizzierten Beitrags. W. Sp.
Zukunft: Österreich 124 Österreich 2050. FIT für die Zukunft. Hrsg. v. Rad für Forschung und Technologieentwicklung. Wien: Holzhausen Verl., 2013. 272 S., € 17,30 [D], 17,80 [A], sfr 24,20 ; ISBN 978-3-902868-92-3
Energie und Utopie
Wir brauchen keine weiteren Appelle für erneuerbare Energien und Energieeffizienz, um „in anderen Worten zu wiederholen, was schon oft gesagt worden ist“(S. 8), so die berechtigte Überzeugung des Autors eines Buches, das den schlichten Titel „Energie und Utopie“trägt. Johannes Schmidl unternimmt darin den Versuch, die „große utopische Tradition des abendländischen Denkens … mit der brennend aktuellen Energiefrage zu konfrontieren“(ebd.). Der Autor beginnt mit zwei historischen Kapiteln zu Utopie und Energie. Er skizziert darin nicht nur utopische Entwürfe etwa in Platons Politea, Thomas Morus´ Utopia, Bacons Neuatlantis, Campanellas Sonnenstaat oder die Realutopien der Frühsozialisten um Robert Owen, sondern auch die Bedeutung der Energienutzung für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt von Kulturen, von der Erfindung der Wassermühle über die ersten Windmühlen im Mittelalter bis herauf zur Nutzung der fossilen Energieträger Kohle, Erdöl und Erdgas. Die Bedeutung des Energiesektors unterstreicht Schmidl mit einer Zahl: 18 Prozent des Weltbruttosozialprodukts entfallen heute auf den Energiesektor (S. 99). Die westlichen Konsumgesellschaften seien dank dieser Energierevolutionen dort angelangt, was frühere Utopien ausmalten: in der Verfügung über eine Fülle an Gütern. Die Nutzung der fossilen Energieträger beschreibt Schmidl als materielle Basis des im reichen Teil der Welt verwirklichten Wohlstandsversprechens. Während die Verknappung der Ressourcen durch Preissignale angezeigt wird (wodurch Anpassung und zumindest eine Streckung der Frist möglich sei), würden die Folgen des Verbrennens der fossilen Energien, der menschengemachte Klimawandel, trotz aufgeregten Redens darüber letztlich negiert: „Wir wissen, dass die Erfüllung der Utopie das Leben zukünftiger Generationen bedroht, aber dieses Wissen scheint uns kaum in einer Form zu erreichen, dass wir daraus Taten ableiteten.“(S. 219) Und jene, die in unserer Wahrnehmung die kausale Macht zu Veränderungen hätten, die „vielgeschmähten nationalen und multinationalen Weltkonzerne lassen wir gewähren, weil das, was sie tun, auf heimtückische Weise geschieht, um uns die Utopie zu erfüllen.“(S. 219)
Dazu passt auch Schmidls Schilderung der Kernenergie in ihrer historischen Genese als großes „utopisches Versprechen“(an das etwa Denker wie Ernst Bloch geglaubt haben), ein Versprechen, das freilich an der ernüchternden Realität gescheitert sei und zugleich über Jahrzehnte die Erforschung der Solarenergie sowie von Energieeffizienzpotenzialen hintangehalten habe. Der Autor warnt uns aber zugleich, den Erneuerbaren Energien nun dieses utopische Potenzial zuzuschreiben. Auch ihre Möglichkeiten seien begrenzt und auch sie hinterlassen Spuren.
Zwei Gefahren bedrohen – so Schmidls Conclusio – die Welt: das utopische Denken und der Verzicht darauf. Denn utopisches Denken habe durchaus die Welt verändert, in vielem zum Positiven. In ihrer materialistischen Variante gelange dieses nun aber an seine Grenzen. Maßhalteappelle müssten in jedem Fall berücksichtigen, dass eine Mindestmenge an materiellem Umsatz unverzichtbar ist und dass dieser seinen Preis hat. Die große Transformation hin zu erneuerbaren Energieträgern sei ein Projekt von ähnlicher Dimension wie die Neolithische oder die Industrielle Revolution. Allerdings könne sie entgegen diesen Vorbildern „nicht mit der Vermehrung gesellschaftlich verfügbarer Energiemenge locken, sondern nur damit, den gegebenen Wohlstand bestenfalls zu erhalten.“(S. 344) Der wissenschaftliche Bezugspunkt sei nicht mehr die Geologie, sondern die Meteorologie. Resümee: Ein Buch mit vielen Facetten, das freilich allein wegen seines Umfangs den Leserinnen hohe Aufmerksamkeit abverlangt.
Der Autor wird am 12. März 2015 in der Jbz-reihe „Zukunftsbuch“zu Gast sein. H. H.
Energie: utopische Versprechen 125 Schmidl, Johannes: Energie und Utopie. Wien: Sonderzahl, 2014. 400 S., € 25,75 [D], 25,- [A], sfr 33,75 ; ISBN 978-385449-412-6