Das neue Bild vom Menschen
Philosophen und Hirnforscher geben den Blick frei auf unser Denken. Noch ist nicht viel zu sehen, aber ein neues Bild vom Menschen zeichnet sich schemenhaft ab. Stefan Wally skizziert, was damit gemeint sein könnte.
Wir täuschen uns
In Michael Pauens neuem Buch geht es laut Titel um „Die Natur des Geistes”. Nach der Lektüre ist man leider nicht in der Lage, die Frage zu beantworten, was denn nun die Natur des Geistes sei. Aber dafür hat man gute Argumente bei der Hand, um zu erklären, dass „extrospektive“Erkenntnis nicht prinzipiell schlechter gestellt sei als die Introspektion. Das klingt nun weniger dramatisch. Aber tatsächlich würde mit dieser Erkenntnis ein Problem gelöst werden, das im Weg stand, dem Verständnis unseres „Geistes“näherzukommen. Versuchen wir uns Pauens Argument vorzustellen: Beginnen wir damit, dass einer Person Schmerz zugefügt wird. Wie dieser Schmerz empfunden wird, sein subjektiver Charakter, entziehe sich grundsätzlich jeder objektiven wissenschaftlichen Erklärung. Wenn aber keine objektive Erklärung möglich sei, dann bedeute dies, dass eine naturalistische Erklärung des Geistes ebenfalls zum Scheitern verurteilt sei. Soweit das dominierende Argument in der Bewusstseinsforschung: „Entweder man hält an den Grenzen einer auf objektives, methodisch gesichertes Wissen verpflichteten Forschung fest, dann muss man
auf eine Erklärung subjektiver Erfahrungen verzichten. Oder man besteht auf der Erklärung dieser Erfahrungen, dann muss man die Grenzen der üblichen wissenschaftlichen Standards überschreiten“, fasst Pauen das hegemoniale Argument zusammen. (S. 19) Diese Blockade für den wissenschaftlichen Fortschritt will Pauen beheben.
Sein Versuch beginnt mit der Trennung von bewusster Erfahrung und der Erkenntnis dieser Erfahrung. Nur die bewusste Erfahrung sei subjektiv, die Erkenntnis darüber muss aber der Betroffene gar nicht besser hinkriegen als Außenstehende. Ich empfinde meinen Schmerz genauer als die Außenstehenden. Es kann aber sein, dass Außenstehende ihn besser erklären als ich dies „introspektiv“tue. Dieses Wissen der Außenstehenden nennt Pauen „extrospektives“Wissen. Die verhandelte These: „Andere können also prinzipiell genauso gut, im Einzelfall sogar besser über meine Schmerzen Bescheid wissen als ich selbst.“(S. 22)
Pauen muss freilich zur Beweisführung schreiten. Das macht er in einem ersten Schritt, in dem er die Ideengeschichte des „Bewusstseins“referiert. Dieses Kapitel ist ganz unabhängig vom Argument des Buches mit Gewinn zu lesen. Entscheidend dabei ist aber der Hinweis, dass sich unsere Ideen von Seele und Bewusstsein immer wieder wandelten.
Pauen lässt nun die Introspektion gegen die Extrospektion im Feld der Experimente antreten. Anders gesagt: Er will sehen, was wir durch Experimente erfahren, wie gut unsere eigene Erkenntnis der Erfahrung selbst entspricht. Der Autor kommt hier zu einem sehr kritischen Urteil. Die Introspektion sei schon mal sehr irrtumsanfällig. Nur ein Beispiel, das im Buch angeführt wird: Stimuliert man den Arm einer Versuchsperson innerhalb einer knappen Sekunde an mindestens zwei Stellen (z. B. fünf Impulse beim Handgelenk und fünf Impulse beim Ellenbogen), wird die Person berichten, dass sie spürte, wie der Impuls schrittweise von einem Ort zum anderen wanderte. Die Gründe für diesen Fehler liegen wahrscheinlich in der Evolution, man nahm wohl Jahrtausende lang an, so etwas muss eine Berührung durch ein Tier sein. Das Experiment heißt unter Forschern „Kaninchen auf der Haut“, was jetzt doch nach dem falschen Tier klingt, das unserem Hirn diese Interpretation nahelegt. (S. 226f.)
Besonders nett ist die Geschichte der Farben in den Träumen der Menschheit. Bis zur Erfindung des Fernsehens träumte man in Farbe, so die Berichte, die uns vorliegen. Dann träumte man in Schwarz-weiß bis das Fernsehen in Farbe sendete. Seit damals sind wir überzeugt, wieder in Farbe zu träumen. Bedeutet: Der eigene Bericht über eigenes Erleben hängt von externen Faktoren ab. (S. 238f.) Was sollen die Beispiele über Kaninchen undträumen? Sie alle sollen uns eine gehörige Portion Skepsis gegenüber unserer Fähigkeit, bewusste Erfahrung selbst richtig zu erkennen, beibringen.
Aber können wir ernsthaft von außen, extrospektiv, gegebenenfalls richtiger sagen, was der andere erfahren hat? Hier wird uns in diesem Buch das „Quality-space-modell“vorgestellt. Vereinfacht gesagt, geht es um das Unterscheiden von Farben. Versuchspersonen sehen Farben, die sich minimal unterscheiden, dann immer stärker. Sie werden gefragt, ob die Farben unterschiedlich sind. Ab einer bestimmten Stärke des Unterschieds (einer Unterschiedsschwelle) wird dieser erst wahrgenommen. Warum reden wir darüber? Um das zu verstehen, müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass es Pauen um das Verhältnis von bewusster Erfahrung und Erkenntnis über diese Erfahrung geht. In diesem Experiment sollten bewusste Erfahrung und Erkenntnis über die Erfahrung übereinstimmen. Sonst sehe ich zwei verschiedene Farben und sage, sie seien gleich; oder ich unterscheide sie und kann aber keinen Unterschied erkennen. Das bedeutet, ich kann vom Zuhören, wie jemand anderer sein Farbempfinden beschreibt, auf seine Farberfahrung rückschließen. Auf sich allein gestellt, ohne das wissenschaftliche Verfahren, wäre die Klassifizierung von Farben wesentlich ungenauer und widersprüchlicher. (S. 218)
Warum kümmert uns das? Weil, wenn dieses Argument weiter verfolgt und bestätigt wird, sich eine Tür zur Seele öffnet. Das ist übertrieben: Aber, tatsächlich wären dann der wissenschaftlichen Erforschung der subjektiven Erfahrung neue Möglichkeiten eröffnet. Und dies könnte ein neues Denken ermöglichen, wie es so oft bei der menschlichen Auseinandersetzung mit Seele, Geist und Bewusstsein der Fall war. Aber wollen wir das? Wollen wir, dass gesellschaftliche Organisationen besser wissen können als ich selbst, was ich erlebe? Ist diese Relativierung des Ich nicht ein gefährliches Einfalltor für die Korrektur des Wissens über mich selbst durch andere? Wenn ich das akzeptiere, wem kann ich vertrauen, dass er mich zurecht korrigiert, in einer Welt der Interessen? Freiheit inkludiert das Recht auf Irrtum, es inkludiert das Recht auf „falsches Bewusstsein“. Aber was immer man auch an Sorgen mit dem Vordringen der Wissenschaft in das eigene Denken verbindet: Gerade der geschichtliche Aufriss von Pauen legt nahe, dass die Abwehr des Wissens über Geist, Seele oder Bewusstsein historisch uns selten freier von außenstehenden Kräften gemacht hätte. Gedächtnis
„In jedem Falle zeigen diese Beobachtungen noch einmal, wie tiefgreifend sich die Problemvorstellungen bis in die jüngste Vergangenheit verändert haben, und sie legen nahe, dass es vergleichbare Veränderungen auch weiterhin geben wird. Es wäre einfach verwunderlich, würde die gegenwärtige intensive Forschung in den Neuro- und Kognitionswissenschaften nicht auch unser Verständnis des Zusammenhangs von Geist und Gehirn verwandeln.“(Michael Pauen in , S. 129)
Pauen, Michael: Die Natur des Geistes. Frankfurt/m.: S. Fischer, 2016. 317 S., € 24,99 [D], 25,70 [A]. ISBN 978-3-10-002408-4
Das geniale Gedächtnis
Die Auseinandersetzung mit unserem Bewusstsein treibt auch Hannah Monyer und Martin Gessmann um. In ihrem Buch widmen sie sich unserem Gedächtnis. Sie zeigen, wie unser Gedächtnis nicht nur der Archivar unserer Erlebnisse ist, sondern wie es unsere Zukunft mitgestaltet.
Wir werden in dem Buch mit der Frage begrüßt, ob wir ein bestimmtes Phänomen kennen: Manchmal weiß man intuitiv, was zu tun ist, manchmal völlig unerklärlicherweise ist uns klar, was wir heute tun wollen. Und manchmal gehen wir mit Gedanken an ein Problem ins Bett und in der Früh wissen wir die Lösung. „Über ein Problem schlafen“, heißt es im Deutschen. Warum ist das so?
Was passiert hier, welche eigenartige Macht nimmt so geräuschlos Einfluss auf unser Leben? Es sei das Gedächtnis, sagen Monyer und Gessmann. „Es gilt zu verstehen, dass seine Hauptaufgabe in der Lebensplanung besteht und es deshalb wohl kein zweites menschliches Vermögen gibt, das mit derart komplexen und ständig wechselnden Aufgaben zu tun hat. Geht es doch letztendlich darum, wie aus der vielfältigen Vergangenheit des Erlebten heraus die Aussicht auf eine erstrebenswerte Zukunft entsteht.“(S. 21) Das Gedächtnis sei kein Dienstleister, der passende Erinnerungen zu Vorhaben beisteuert, die wir uns ausdächten. Umgekehrt sei vielmehr davon auszugehen, dass die Organisation der Inhalte im Gedächtnis uns überhaupt erst auf den Weg bringt, Dinge zu wollen – Dinge, von denen wir anschließend annehmen, wir seien ganz spontan und wie von selbst darauf gekommen. „Wenn man so will, malt es das i, auf das wir dann noch den Punkt setzen müssen.“(S. 27)
Ihr Argument unterstützen die Autorin und der Autor unter anderem mit dem Hinweis auf Erkrankungen. Bei Alzheimer oder Demenz falle das Leben einfach auseinander. Sie widmen sich der Traumforschung und beschreiben die Lerneffekte in den verschiedenen Schlafphasen. Sie meinen, dass unser Gedächtnis in diesen Zeiten Optionen für anstehende Ereignisse durchspielt und durchdenkt. Wichtig ist in dem Buch dabei die Idee, dass wir unser Gedächtnis als Netzwerk verstehen müssen. Es werden von diesen Überlegungen ausgehend einige weiterführende Gedanken abgeleitet.
Wenn das Gedächtnis uns a) im Schlaf viele Entscheidungen vorwegnimmt und b) wie ein Netzwerk organisiert ist: Was bedeutet dies für den Einzelnen? Ist es ein Hinweis, dass unser Verhalten determiniert ist? Nein, so Autorin und Autor. „Denn die Ursache-wirkungszusammenhänge sind in Netzwerken (…) so komplex und so sehr auf vielschichtige Wechselwirkungen angelegt, dass eine einfache Aussage der Art, wie sie die Entscheidung zwischen Freiheit und Determinismus fordert, unsinnig erscheinen muss.“(S. 219f.)
Wenn unser Gedächtnis für uns denkt, greift es nur auf individuelle Erfahrungen zurück? Keineswegs, es gebe ein kollektives Gedächtnis einer Kultur, an dem es sich bedient. „Wie kommt es, dass man es mit Ahnungen und Vermutungen so weit bringen kann und die richtige Lösung schon auf der Zunge trägt? … Indem Erinnerungen eingelassen sind in Kontexte, die sie mitprägen, kann man im Umkehrschluss nämlich aus den Kontexten auf die Inhalte schließen.“(S. 224f.)
Wenn heute immer mehr Wissen extern des Menschen gespeichert werden kann, was bedeutet dies für das Gedächtnis? „Unser Gedächtnis wird entlastet und bekommt mehr Freiraum, den es noch nie zuvor innehatte. Die klas sischen Aufgaben der Aufbewahrung werden ausgelagert und von externen Speichersystemen übernommen. Andere Felder der Bewährung stehen nun offen.“Hier könne nun der lebenspraktische Zug unseres Gedächtnisses deutlicher zum Zug kommen. Wir müssen uns nicht daran erinnern, wie wir von A nach B kommen, wichtig ist vielmehr, was wir tun werden, wenn wir am Ort B angekommen sind. (S. 239) Gedächtnis
102 Moyner, Hannah ; Gessmann, Martin: Das geniale Gedächtnis. München: Knaus, 2015. 256 S.,
€ 19,99 [D], 29,60 [A] ; ISBN 978-3-8135-0690-7.
Säkularer Humanismus
“Und so schließen wir mit der Aussicht, dass es in einer interaktiven Gegenwartskultur vermutlich leichter ist als je zuvor, in unserem Gedächtnis einen Lebensbegleiter zu sehen - einen solchen, der uns mit kreativen Deutungen verwickelter Ausgangslagen immer wieder weiterhelfen kann.” (Monyer/gessmann in , S. 241)
Die Hirnforschung und die Verhaltensforschung entzaubern eine Vielzahl von Ideen, die wir über die Existenz haben. Sei es der Zweifel an unseren Fähigkeiten, selbst unsere eigenen Erfahrungen zu erklären, sei es am Primat des „klaren Denkens“gegenüber dem Erkenntnisgewinn im Schlaf. Und damit sind nur Beispiele von Publikationen dieser Tage genannt. Im Vergleich dazu istphilip Kitcher altmodisch. Er setzt sich noch mit Gott auseinander und versucht in sehr sachlichem und freundlichem Ton ein Argument für säkularen Humanismus vorzubringen. Auf 167 Seiten versucht er zu zeigen, dass eine Welt ohne Gottesglauben durchaus Werthaltungen und Ethik hervorbringen und aufrechterhalten kann. Er diskutiert, welche Funktionen nach dem Ende der Religionen fehlen würden, wie dies zu kompensieren sei. Seine Gesprächspartner sind Figuren der Literatur und der Philosophie. Kitcher liefert einen wichtigen Bezugspunkt für diejenigen, die sich mit moderatem Humanismus auseinandersetzen wollen. In den USA spielen seine Argumente eine re levante Rolle. Das Buch ist bislang leider auf Englisch erschienen. Religion
Kitcher, Philip: Life after Faith. The Case for Secular Humanism. Yale: University Press, 2014. 175 S.,
12,99 Pfund ; ISBN 978-0-300-21685-1