Es steht viel auf dem Spiel
Ein düsteres Bild der Gegenwart zu zeichnen, scheint gegenwärtig en vogue zu sein. Ein Warner vor der epochalen Transformation ist Philipp Blom, für den heute nichts weniger auf dem Spiel steht als die Existenz eines demokratischen, liberalen Zusammenlebens – und vielleicht unsere Zivilisation. Blom spricht von einer Verweigerung der Zukunft in Europa und in den Ländern, in denen eigentlich alles gut läuft. Die Hoffnung in die Zukunft haben wir, so der Historiker, aus gutem Grund nicht, weil wir wissen, dass sich die Gesellschaften durch Migration ändern werden, der Klimawandel kommt und die Jobs in Folge der Digitalisierung wackeln. Eine Gesellschaft aber, die keine Hoffnung mehr in eine bessere Zukunft hat, ist in einer ernsten Situation. Eine ausführliche Rezension von Bloms neuem Buch „Was auf dem Spiel steht“1) können Sie im Kapitel „Unsere Lebensweise steht zur Disposition“nachlesen. Ein weiterer Kronzeuge der Weltkrise ist der britisch-indische Schriftsteller Pankaj Mishra, der eine vielbeachtete und geradezu umjubelte Geschichte der Gegenwart schrieb, von der die renommierte Financial Times sagt: „Genau die Analyse, die die Welt gerade jetzt braucht.“In „Das Zeit- alter des Zorns“(Originaltitel: „Age of Anger: A History of the Present“)2) spricht Mishra von einer universellen Krise, von der künftige Historiker vielleicht als Beginn eines Krieges sprechen werden, der wegen seiner Allgegenwart einem globalen Bürgerkrieg nahekommt. Um die Gründe der heutigen Radikalisierung zu erforschen, ist der Autor tief in die westliche Ideengeschichte eingetaucht. Er zitiert u. a. Jean-jacques Rousseau, der einmal gesagt hat, dass eine Gesellschaft, die auf Konkurrenz und Neid beruht, die darauf aufbaut, dass Leute nach Geld und Status streben, eine Gesellschaft ist, die viele unzufrieden und unglücklich macht. Für Mishra zeigen die vergangenen 250 Jahre, dass überzogener Nationalismus und Fanatismus unweigerlich zur Moderne dazugehören. Er vertritt die These, „dass die beispiellose politische, ökonomische und soziale Unordnung, die den Aufstieg der industriekapitalistischen Wirtschaft im Europa des 19. Jahrhunderts begleitete und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Weltkriegen, totalitären Regimen und Völkermorden führte, heute weitaus größere Regionen und Bevölkerungen befallen hat; dass weite Teile Asiens und Afrikas, die durch den europäischen Imperialismus einst erstmals der Moderne ausgesetzt wurden, heute tiefer in die schicksalhafte westliche Erfahrung dieser Moderne eintauchen.“(S. 20f.) Damals wie heute war das Gefühl, von arroganten und betrügerischen Eliten gedemütigt zu werden, weit verbreitet, und zwar quer über nationale, religiöse und rassische Trennlinien hinweg.“(S. 22) Schließlich sieht der Autor im Begriff „Ressentiment“das Charakte-
ristikum einer Welt, „in der das mimetische Begehren, der Wunsch, andere nachzuahmen und sich anzupassen (...) sich grenzenlos ausbreitet und in der das moderne Gleichheitsversprechen mit massiven Unterschieden hinsichtlich Macht, Bildung, Status und Privatbesitz kollidiert” (S. 43f.). Der anspruchsvollen Analyse folgen leider keine konkreten Lösungen für die dargestellte universelle Krise unserer Zeit. Ähnlich wie Blom ist aber auch Mishra der Überzeugung, dass wir an einer Zerstörung des Glaubens an die Zukunft leiden.
An der Zukunft zweifeln könnte man freilich auch angesichts des Bildes, das das Weiße Haus in Washington bietet, da es eher einem Tollhaus gleicht als einem Regierungssitz einer Weltmacht. Noch dazu, wenn darin ein Präsident regiert, der glaubt, er sei der Größte. „Unserem Land geht es so gut, ich mach einen Super-job, seid ihr glücklich?“, so Donald Trump vor „Jungen Patrioten“in seinem Amtssitz (ZDF heute-journal v. 27.7.2017). Trotz der Selbsthuldigungen hat Trump bisher kein wichtiges Gesetz und keine neue Gesundheitsreform verabschiedet, keine Mauer gebaut und er ist so unbeliebt wie kein Präsident vor ihm. Er erträgt nur noch Jubel und braucht die Huldigung als politischen Trost vor dem Scheitern. Inzwischen distanzieren sich immer mehr Mitglieder des Kongresses von Trump, wohl aus Furcht davor, nicht mehr gewählt zu werden, wenn sie mit diesem Präsidenten in Verbindung gebracht werden.
Den Glauben an die Zukunft könnte man auch verlieren angesichts der Schlagzeilen über die deutsche Automobilindustrie. Sogar das „Erfolgsmodell Deutschland“, das Wachstum auf Kosten anderer generiert, gerät zunehmend in die Kritik und mit ihr die Politik der großen Koalition unter Führung von Angela Merkel. Ein kleines Stimmungsbild aus Deutschland vor der Bundestagswahl bietet das Kapitel „Republik am Scheideweg?“. Natürlich muss man die Zukunft nicht so unheilvoll sehen wie Mishra und Blom und auch die Regierungszeit eines Donald Trump geht vorüber. Nicht alles, was befürchtet wird, muss so eintreten. Und zweifellos sind in unserer Gesellschaft neben Gier und überhöhtem Individualismus auch Empathie und die Macht der Vernunft am Werke. Der Wunsch, in einer offenen Gesellschaft zu leben (wir haben in der Ausgabe 3/17 von Prozukunft darüber berichtet), ist präsent und spiegelt sich in vielen Initiativen jenseits der Wählerdemokratie wider. Im Kapitel „Beteiligung am gelingenden Wandel“geht es u. a. darum, diese Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger wissenschaftlich zu untermauern. Alternativen zur gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung kommen in diesem Heft ebenso zur Sprache wie die Frage danach, wie sich Werte und Normen ändern bzw. mit welcher Bedeutung Begriffe und Handlungen aufgeladen sind. Bücher über Geschmack, Kunst und Gefühle komplettieren die Themenvielfalt dieser Ausgabe.
Eine erkenntnisreiche und spannende Lektüre wünscht, auch im Namen des Jbz-teams,