Geschmacksveränderungen
Unserem Geschmack sollen weder unsere Freunde noch wir selbst zu große Bedeutung beimessen. Er ändert sich. Wie auch die Kunst, die wir konsumieren. Stefan Wally hat Bücher über Geschmack, Kunst und Gefühle gelesen. Die Autorinnen aller drei Bücher wollen
Geschmack misstrauen
Warum gefällt uns, was uns gefällt? Diese Frage steht am Anfang des Buches von Tom Vanderbilt über „Geschmack“. Der Journalist Vanderbilt, der unter anderem für das New York Times Magazine schreibt, hat sich auf die Suche gemacht, um Antworten auf diese Frage zu finden. Am Ende des Buches hat man Erfahrungen gesammelt, die abschließende Erklärung freilich kann auch der Autor nach 300 Seiten nicht bieten.
Dafür bietet er abschließend eine Reihe von Erkenntnissen an, „winzige Wegweiser“, wie er sie nennt. Einige Beispiele: Zum einen entscheiden wir Menschen in Millisekunden, ob uns etwas gefällt
oder nicht. Das hat seinen Preis, dieser effiziente Filter sortiert oft Dinge aus, die uns bei längerer Auseinandersetzung lieb werden könnten. Wir sollten unserem instinktiven Geschmack also misstrauen. Genauso wie wir nicht übersehen dürfen, dass viele unserer Urteile in Wahrheit durch den Kontext bestimmt sind. (Der Geschmack des Weines war nur so gut, weil es ein warmer Abend am Meer war!) Manchmal ist es auch Sprachlosigkeit, die uns dazu bringt, Vorlieben nicht anzuerkennen. „Manchmal erklären wir etwas zur Vorliebe, weil es sich leichter begründen lässt als eine Abneigung oder weil die Qualitäten von dem, was uns eigentlich gefällt, schwer zu beschreiben sind.“Damit geht auch einher, dass wir dazu neigen Dinge mehr
zu mögen, die unseren Kategorien besser entsprechen. Was nicht in Schubladen passt, sortieren wir zu schnell aus.
Im Kern freilich ist Geschmack nicht etwas, was man in sich trägt und dort „findet“. „Geschmack ‘an sich’ ist ein Märchen. Was wir für unsere ‘natürlichen’ Vorlieben halten, ist oft kulturell erworben und kommt bloß im biologischen Gewand daher.“(S. 275) Interessanter als die Frage, was einem gefällt, sei darum die Frage, warum einem etwas gefällt, so Vanderbilt (S. 276). Geschmack
144 Vanderbilt, Tom: Geschmack. Warum wir mögen, was wir mögen. München: Hanser, 2016. 365 S., € 24,00 [D], 24,70 [A]
ISBN 978-3-518-58693-8
Analoges Comeback
Einst liebten wir Vinyl-schallplatten, dann vergaßen wir sie, jetzt lieben wir sie wieder. Was war geschehen? Schallplatten, Papierprodukte, Fotografie und Brettspiele. Das sind analoge Produkte. Sie stehen in Konkurrenz zu Streamingdiensten, Touchscreens, Mobilkameras mit Fotolinse und der Playstation. Zuletzt holten die analogen Produkte wieder auf: Jeder, der in Elektromärkte geht, sieht heute mehr Schallplatten. Und rund um Schreibblocks ist eine neue, kreative Industrie entstanden. Kommt das Analoge zurück? Und wenn ja: Warum? Diesen Fragen geht David Sax in seinem Buch „Die Rache des Analogen“nach. Er teilt das Buch in zwei Hälften. Zuerst redet er über die Rache der analogen Dinge. Dann folgt die Hälfte mit der Rache der analogen Ideen. „Die Rache des Analogen findet jetzt statt, eben genau weil die digitale Technologie so verdammt gut geworden ist.“Die Übermacht des Digitalen habe das Analoge wertlos erscheinen lassen und habe eine Entwertung der andern Technologien bewirkt. Aber im Lauf der Zeit habe sich das Werteverständnis geändert. „Die inhärente Ineffizienz des Analogen ist auf einmal begehrt, seine Schwäche wird wieder als Stärke gesehen.“(S. 17) „Analoge Erfahrungen bieten uns nicht nur die Freunden und Belohnungen der wirklichen Welt – das kann Digitales nicht –- , manchmal sind sie auch ganz einfach leistungsfähiger. Wenn man etwa einem Gedanken ungehindert freien Lauf lassen möchte, ist der Stift immer noch mächtiger als die Tastatur und der Touchscreen.“(S. 18) Das Argument wird auch plausibel, wenn man an das Bildungswesen denkt. Die Digitalisierung macht Wissen immer mehr Menschen zugänglich, Kurse sind auf Youtube zu hören und zu sehen, jeder kann sich fortbilden, sobald er Zugang zur digitalen Welt hat. Fast jeder, der aber sowohl Kurse in der analogen als auch Kurse in der digitalen Welt erlebt hat, weiß um die Vorteile, die sich im Analogen ergeben. Was immer die Ursache ist (Die eingeschränkte Möglichkeit sich abzulenken? Die Aufmerksamkeit fördernde Tatsache, selbst gesehen zu werden?), die Erfahrungen mit Digitalem schufen die Voraussetzungen für einen gerechten Vergleich. Wie in diesem Beispiel so geht es in vielen zu: Keineswegs ist die Digitalisierung eine Sackgasse, aus der man sich nun wieder herausbewegt. Aber es zeichnet sich ab, dass wir nicht nur diesen Weg gehen wollen, da auch der Weg des Analogen viel zu bieten hat. Es kommt darauf an, wie man sich fortbewegen und wo man hin will.
Sax verdichtet sein Argument am Ende des Buches: „Überall dort, wo das digitale Leben zu einer realen und dauerhaften Einrichtung geworden ist, entscheiden sich mehr und mehr Menschen ganz bewusst für das Analoge, das mehr verlangt, sowohl materiell als auch in Bezug auf unsere Zeit und unsere intellektuellen Fähigkeiten. Und dennoch entscheidet sich eine steigende Anzahl der Menschen dafür.“(S. 289) Die Gründe seien Vergnügen (echte Dinge anfassen), Gewinn (es entsteht ein postdigitaler Markt), das wachsende Wissen über die negativen Auswirkungen omnipräsenter digitaler Technologien und die Möglichkeit uns mit analogen Werkzeugen viel tiefer mit anderen Menschen zu verbinden. Leben: analoges
145 Sax, David: Die Rache des Analogen. Warum wir uns nach realen Dingen sehnen. Salzburg/wien: Residenz-verl., 2017. 272 S., € 24,- [D, A]
ISBN 978-3-701734078
Nachpopuläre Künste
Unser Geschmack ändert sich in der Dialektik von technischen Möglichkeiten, deren Vermarktung und unseren Erfahrungen. Auch die Kunstproduktion und -rezeption empfängt entscheidende Impulse aus technischen Neuerungen und deren Anwendung.
Diedrich Diederichsen ist Professor für Theorie, Praxis und Vermittlung von Gegenwartskunst an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Darüber hinaus ist er seit vielen Jahren eine feste Größe in den Debatten über Populärkultur und Kunst seit. In seinem neuen Buch „Körpertreffer“analysiert er die Entwicklung der Künste in den vergangenen Jahren und stellt dazu die These auf, dass der letzte entscheidende Bruch sich in Europa auf die 1960er-jahre datieren lässt.
Einst dominierten die bürgerlichen Künste. Ihnen
sei es seit der Aufklärung primär um die „Einmaligkeit des mentalen Lebens ihrer Charaktere“gegangen. Diese Einmaligkeit habe sich in der Rezeption der Adressaten als reflexiv realisierte Individualität entfaltet.
Auf diese Phase seien die traditionellen populären Künste gefolgt, in denen dagegen „die körperliche Präsenz und Co-präsenz von Personen in einer öffentlichen oder halböffentlichen, festlichen bis ekstatischen Live-situation (dominiert), in deren Fokus eine trickreich-verblüffende oder erotisch-verführerische Körperlichkeit steht“. (S. 17) Der letzte Bruch bringt nun die „nachpopulären Künste“. Diese basieren auf der Verfügbarkeit von Aufzeichnungstechnologien. In diesen „wird das Leben des Geistes, der Individualität der bürgerlichen Seele, durch die Übertragung oder das Auslesen einer aufgezeichneten körperlichen Präsenz beschworen. Dabei wird die Seele jedoch weniger geschichtlich oder sequentiell entfaltet, sondern erscheint vielmehr so dicht, verblüffend und präsent wie der Körper, aus dem die Übertragung, das Recording sie herausholt.“(S. 17)
Um die These des Buches zu verstehen, muss man wissen, was der Autor mit dem Begriff „Index“meint. „Index“bedeutet in Diskursen wie dem Vorliegenden, dass etwas ein Anzeichen für etwas anderes ist. Das Stöhnen eines Gitarristen ins Mikrofon nach einem Solo ist ein Anzeichen für seine Verausgabung. Klar, dass in den Zeiten der Aufzeichnungstechnologien der Begriff des Indexes somit an Bedeutung gewinnt.
Ein weiterer Schlüsselbegriff, um Diederichsen zu verstehen, ist die „Verursachung“. Damit bezeichnet er „ein Machen unterhalb oder neben aller Intentionen, bisweilen auch dagegen – also Stolpern, Kleckern, Absorbiert- oder auch Süßsein.“(S. 10)
„Phonographie und Photographie zeichnen nicht nur organisierte Klänge und Bilder auf, sondern immer auch ein Stück Welt. Dieses unkontrollierte und nie ganz beherrschbare Stück Welt rückt im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts ins Zentrum der Attraktivität von Kunstwerken und unterwandert dabei die subjektiven, intentionalen Pläne von Künstlern und Autoren.“(S. 142) Unsere Aufzeichnungen, Aufnahmen, Fotographien leben gerade durch diese Verursachungen, also die ungeplanten Geschehnissen, deren Anzeichen man in den Aufzeichnungen erkennt. „Das Ereignis ist jetzt die Person per se und nicht mehr sein Können, Wollen oder Meinen – und damit womöglich etwas ganz und gar Außerkünstlerisches.“(S. 12) Für den Autor fällt in den nachpopulären Künsten auch der Unterschied zwischen U und E, zwischen „hoher“und „niedriger“Kunst. „Bloß dreht sich nun nicht länger alles entweder um leichte Unterhaltung, Mitsingen, Tanzen, Schmunzeln und Rührung oder um Reflexivität, Katharsis und Erschütterung, sondern stets und vor allem (…) um den Index, also gleichsam um die Direktübertragung einer anderen Menschenseele vermittels der technischen Aufzeichnung ihres Körpers, zumal in dessen unwillkürlichen Momenten.“(S. 11)
Und auch die Vervielfältigungsmöglichkeit führt nicht zur Nivellierung. Ganz im Gegenteil. „Entscheidend für den besonderen Folgenreichtum dieser Form von künstlerischer Arbeit ist vielmehr auch das der Singularität und Kontingenz von Person und Situation gerade entgegengesetzte (Massen-)medium, dessen standardisierter und standardisierender, vervielfältigter und vervielfältigender Rahmen die indexikal hervorgebrachte Einmaligkeit wirkungsvoll hervorhebt und verstärkt. Erst das Massenmedium schafft den einmaligen Star (...).“(S. 14f.)
Diese Einmaligkeit, die durch die Massenmedien mit hervorgebracht wird, unterliegt freilich einem Gegentrend. Diederichsen deswegen direkt folgend auf die soeben zitierte Feststellung: Des einmaligen Stars massenmediale Feier markiere schon eine Domestizierung dieses Effekts vom Indexikalen zum Ikonischen, „eine Vergesellschaftung vom Schock des Singulären zu einer Syntax und Systematik von Maske und Typus” (S. 15). Ästhetik
146 Diederichsen, Diedrich: Körpertreffer. Zur Ästhetik der nachpopulären Künste. Berlin: Suhrkamp, 2017. 148 S., € 17,- [D], 17,50 [A] ISBN 978-3-518-58693-8
Musik mit Marx
Andreas Domann hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, was die Philosophie von Karl Marx uns über die Musik sagen kann. Domann leistet dabei keinen Beitrag zu marxistischer Theorie, er untersucht sie von außen. „Marx und die an ihm orientierten Autoren leiten ihre Begriffe und Konzepte aus einer bewusst wertenden Einstellung gegenüber der Wirklichkeit ab, die ihre Methoden, die Wahl ihrer Forschungsgegenstände und die Diagnosen über die Wirklichkeit bestimmen.“(S. 200)
Aus der Verbindung zwischen wissenschaftlichem Anspruch und der bewussten Verneinung eines wertneutralen Blicks auf die Wirklichkeit leiteten sich die marxistischen Zugriffe auf die Musik und ihre Geschichte ab. Das Fundament sei dabei die
Symbiose aus einer materialistisch begründeten Ästhetik und einem stark teleologisch ausgerichteten historischen Denken. Die Betrachtung des Kunstwerks als bloßes Dokument oder Zeugnis seiner Gegenwart werde in marxistischem Denken um die ideologiekritische Untersuchung des Werkes auf seinen Gehalt in Bezug auf den historischmaterialistischen gesellschaftlichen Fortschritt erweitert. Musikphilosophie
147 Domann, Andreas: Philosophie der Musik nach Karl Marx. Freiburg: Alber, 2016. 222 S., € 30,- [D], 30,90 [A] ; ISBN 978-3-495-48786-0
Berechnende Affekte
Nicht nur unser Geschmack und unsere Kunst sind nur im Zusammenhang mit technischen und gesellschaftlichen Veränderungen zu verstehen. Auch wann und wie wir lächeln ist nicht immer spontan, sondern gesellschaftlich notwendig determiniert. Man kann es den notwendigen Einsatz affektiven Kapitals in unseren Dienstleistungsökonomien nennen.
„Affektives Kapital“von Otto Penz und Birgit Sauer ist ein politikwissenschaftliches Werk, das die Ökonomisierung der Gefühle im Arbeitsleben untersucht. Die Autorin und der Autor haben beobachtet, wie Gefühle in der Arbeitswelt nicht nur nicht mehr verboten sind, sondern sogar erwartet werden. „Menschen sollen ermuntert werden, ihre Gefühle nicht mehr als ‘privat’ zu betrachten, sondern sie zu äußern, zu veröffentlichen.“Wer keine Gefühle zeige, verliere und sei somit höchstens am Rande der neuen (Arbeits-) Welt verortet. In ihrem Buch analysieren sie diese Instrumentalisierung von Gefühlen in der Arbeitswelt und versuchen dies theoretisch zu verankern.
Wie kam es dazu? Das Buch legt nahe, dass wir neue ökonomische, soziale und politische Verhältnisse erleben. Industriell geprägte Ökonomien wandel(te)n sich zu Dienstleistungs- und Wissensökonomien. Das hat Folgen: Arbeitsprozesse konzentrieren sich immer stärker auf immaterielle Arbeit, Dienstleistungen, die im weit überwiegenden Maße in Kommunikation mit anderen Menschen, Mitarbeiterinnen oder Kundinnen durchgeführt werden. Parallel dazu stellen die Autorin und der Autor fest, dass öffentliche Dienstleistungen privatisiert werden, was einen anderen Imperativ hinter die Erbringung der Dienstleistungsarbeit setzt (Kommodifizierung der Dienstleistungen). Drittens wird eine Ent- und Resolidarisierung festgestellt, wo traditionelle Formen des Zusammenhalts (wie Familie, Gewerkschaften u. a.) an Bedeutung verlieren, während neue Formen des Zusammenhelfens („Commons“) an Bedeutung gewinnen.
„Alle drei Entwicklungen, so unsere These, lassen die Arbeitskräfte, die berufstätigen Menschen also, nicht unberührt. Viel mehr noch: Sie tragen zur Formung von Subjekten bei, die das für Dienstleistungen notwendige affektive Vermögen und die konkurrenzgeleitete (Kundinnen-) Orientierungen verinnerlicht haben und dies als ihr Talent und ihre persönliche Kompetenz betrachten. Dem Gefühlsmanagement kommt dabei eine zentrale Rolle zu, erweist sich die Qualität von kundinnenorientierter, interaktiver Dienstleistungsarbeit doch am Einfühlungsvermögen und an der Vertrauensbildung im Umgang mit Kundschaft, sodass die Subjektivierung am Arbeitsplatz und Vorstellungen von Professionalität ganz wesentlich die Gefühle tangieren.“(S. 10f.).
Die Entwicklung zur Nutzbarmachung des „affektiven Kapitals“ist keineswegs an ihrem Höhepunkt angelangt. Die Prekarisierung der Arbeit und die Wiederkehr sozialer Ungleichheit fördern die Ausbeutung aller Ressourcen, also auch der Emotion.
Penz und Sauer haben die Entwicklung durch Befragungen von Mitarbeiterinnen der österreichischen Post AG abgestützt. Anhand der dortigen Erfahrungen reflektieren sie auch über die Genderverhältnisse. Die affektbezogene neue Arbeit fordere zwar die Zweigeschlechtlichkeit des Fordismus mit den traditionellen Rollenbildern heraus, weil nun auch von Männern gewöhnlich Frauen zugeschriebene Eigenschaften im Servicebereich gefordert werden. Aber dies führe nicht zu einer Auflösung der Rollen, sondern entwickle neue Formen und Hierarchien einer „hegemonialen Männlichkeit“. (S. 201)
Beide Autoren sprechen von einem Konzept der „Affizierung“im Anschluss an Gilles Deleuze, Brian Massumi und Arlie Hochschild. „Affizierung als Prozess denken, erlaubt es, moderne Binarisierungen zu überwinden und zugleich deutlich zu machen, dass neoliberale Herrschaft gerade auf dieser Überwindung basiert, indem ein zentrales Prinzip dieses Herrschaftsmodus die Integration der ‘ganzen Person’, ihre Geistes und ihres Körpers, in den ökonomischen Verwertungsprozess ist.“(S. 220) Arbeitsleben: Gefühle
148 Penz, Otto; Sauer, Birgit: Affektives Kapital. Die Ökonomisierung der Gefühle im Arbeitsleben. Frankfurt/m.: Campus-verl., 2016. 245 S.,
€ 34,95 [D], 36,- [A] ; ISBN 978-3-518-58693-8
Unvernünftiges Handeln
Man kann mit Geld immer Probleme haben. Mit seinem Fetischcharakter, mit seiner Rolle in der Wirtschaft und mit dem Verdienen und Ausgeben. Egal welches Problem das Ihre ist, Claudia Hammonds Buch hat Ihnen etwas zu sagen.
In ihrem Buch „Erst denken, dann zahlen“hat sie 263 Studien verarbeitet, die sich um das Thema Geld ranken. Dabei haben wir erfahren, wieviel wir falsch machen, wenn wir mit unserem Geld unterwegs sind. Ganz nebenbei haben wir aber auch mitbekommen, dass unser Umgang mit Geld nicht wirklich rational ist, und dass das eigentlich bedeutet, dass eine der Grundannahmen unserer vorherrschenden Wirtschaftslehre, die des rationalen Entscheiders, besser in der relativierten Form weiter diskutiert werden sollte.
Zuerst zum Praktischen. „Nennen Sie bei Geldverhandlungen einen Betrag, bevor Ihr Gegenüber das tut, außer Sie haben keine Ahnung, was angemessen sein könnte.“„Wenn Sie ein nukleares Endlager bauen wollen, versuchen Sie nicht, das durch Entschädigung der Anwohner zu erreichen.“„Wenn Sie mit Freunden ins Restaurant gehen, stimmen Sie der gemeinsamen Rechnung erst zu, wenn alle bestellt haben.“32 Schlussfolgerungen dieser Art hat die Autorin am Ende des Buches zusammengefasst. Hinter jedem der Sätze steht eine wissenschaftliche Studie, was sie kombiniert über unsere Welt aussagen, ist nicht ausgewertet.
Will man selbst über die Rolle des Geldes und unseren Umgang damit Schlussfolgerungen ziehen, sind viele der referierten Studien nützlich. Da wäre zum Beispiel die Studie mit dem 3D-puzzle. Drei Gruppen hatten ein Puzzle zu erledigen. Nach 13 Minuten ging der Versuchsleiter das „Spiel“unterbrechend aus dem Raum, mit dem Hinweis, dass die Teilnehmer jetzt Anderes tun könnten (Zeitschriften lagen zum Beispiel auf). Die Gruppen arbeiteten trotzdem weiter. Ein anderes Mal wählte man eine Gruppe aus, der man für das Fertigstellen des Puzzles Geld versprach. Diese Gruppe reagierte dann anders auf die Pause: Viele Ihrer Mitglieder nahmen die Pause nun als Pause wahr. Am fleißigsten auch in der Pause war freilich eine Gruppe, der man kein Geld bot, die man aber zu Beginn der Pause mit Lob überschüttete. Hammond: „Wir lassen zu, dass Geld unser Denken kontrolliert, und das immer wieder auch in kontraproduktiver, wenn nicht gar zerstörerischer Art und Weise.“(S. 18) Ihr Buch will uns im Alltag helfen, besser zurecht zu kommen. Man kann es aber auch lesen, um unser Denken über unser Wirtschaftssystem grundsätzlich zu hinterfragen.
Geld: Psychologie 149 Hammond, Claudia: Erst denken, dann zahlen. Die Psychologie des Geldes und wie wir sie nutzen können. Stuttgart: Klett-cotta, 2017. 432 S.,
€ 18,95 [D], 19,60 [A] ; ISBN 978-3-608-96116-4
Wie der Zufall die Zukunft unvorhersehbar macht
Gibt es den Zufall? Hat nicht alles eine Ursache in unserer Welt in Zeiten nach der Aufklärung? Mit solchen Fragen ist man konfrontiert, wenn man sich das neue Buch von Florian Aigner zu Gemüte führt. Vorweg: Das Buch ist sehr gut lesbar, was bei jemandem, der über theoretische Quantenphysik promoviert hat, nicht unbedingt zu erwarten ist. Pierre-simon Laplace forschte im 18. Jahrhundert in Frankreich an der Akademie der Wissenschaften. Berühmt wurde er für den nach ihm benannten Dämon. Dieser Laplacesche Dämon ist, so das Gedankenexperiment, in der Lage, unendlich viel Information aufzunehmen und unendlich schnell zu rechnen. Dieser Dämon wüsste dann alles über die Gegenwart und die Vergangenheit und könnte so, in einer Welt von Ursache und Wirkung, auch alles über die Zukunft sagen. Der Laplacesche Dämon ist die radikalste Formulierung des Wissenschaftsbildes der Aufklärung im 18. Jahrhundert.
Aigner nimmt die Idee als Ausgangspunkt. „Wie kann ein berechenbares Universum so etwas wie Zufall überhaupt zulassen? Gar nicht, haben viele Leute vor hundertfünfzig Jahren noch gesagt, und den Zufall als bloße Illusion abgetan. Die moderne Wissenschaft eröffnet uns heute allerdings einen etwas differenzierteren Blick auf diese Frage: Die Chaostheorie erklärt, wie dramatisch sich winzige Zufälle auswirken können, und die Quantenphysik sagt uns, dass der Zufall in der ungewohnten Welt der winzig kleinen Teilchen eine ganz besondere Bedeutung hat.“(S. 8) Damit steckt Aigner früh in seinem Buch ab, welche Wissenschaftszweige für die Frage nach dem Zufall besonders interessant sind.
Zuerst wendet sich Aigner der Chaostheorie zu. Wenn man ein Zündholz ausbläst, bildet der Rauch im Luftzug immer neue Kräusel oder andere Formen. Diese Turbulenzen haben eine derart hohe Komplexität, dass sie nicht einmal für einige Sekunden vorhersagbar sind. Der Rauch des Zündholzes ist ein „chaotisches System“. Bemerkenswert ist aber auch, dass das scheinbar aus großen und trägen Himmelskörpern bestehende Universum ebenfalls ein chaotisches System ist. Die vielen aufeinander wirkenden Himmelskörper haben unterschiedliche Auswirkungen auf die Bahnen vieler anderer Sterne und Planeten, sodass nur geringste
Falschinformationen über Bahn, Ort und Größe von Sternen dem gesamten Universum eine andere Richtung geben können, als wir vorberechnen würden. „Alles, was wir tun oder nicht tun, kann einen Einfluss auf alles andere im Universum haben – aber bloß auf rein zufällige, unvorhersehbare und unplanbare Weise.“(S. 49)
Ein Uranatom ist ein radioaktives Element, es kann jederzeit zerfallen. Trotzdem, auch wenn wir alles über ein vor uns liegendes Uranatom wissen, können wir diesen Zeitpunkt nicht bestimmen. (Wir können nur die Wahrscheinlichkeit nennen, welcher Anteil von vielen Millionen Uranatomen in einer bestimmten Zeit zerfallen wird.) In der Quantenphysik reden wir vom Quantenzufall. Dieser kommt zum Zeitpunkt von Messungen ins Spiel. Ein Quantensystem zu messen, bedeute, es in Kontakt mit etwas Größerem zu bringen: mit einem Messgerät, mit uns selbst oder mit der Welt.
Auch die physikalischen Erkenntnisse der Thermodynamik sind für uns interessant, wenn wir den Zufall verstehen wollen. Im Gegensatz zur Energie, die nach den Gesetzen der Thermodynamik immer gleich bleiben muss, nimmt die Entropie in einem abgeschlossenen System laufend zu. Anders gesagt: „Am Ende gewinnt die Unordnung.“(S. 51) „Ist es denkbar, dass wir irgendwann eine Rechenmaschine bauen, mit der man die Zukunft vorhersagen kann? Newton und seine Zeitgenossen hätten das vielleicht für möglich gehalten – heute wissen wir, dass es solche Maschinen niemals geben wird.“(S.111) Wir könnten ziemlich sicher sein, dass die Grenzen von Chaostheorie und Quantenphysik auch von den besten Rechenmaschinen nicht überwunden werden, schreibt Aigner. Der Autor reflektiert dann über die Bedeutung des Zufalls. Ausführlich widmet er sich der Evolution („beruht auf unzähligen zufälligen Ereignissen“S. 141), kürzer dem Thema Wallfahrten („Wenn man ausreichend viele kranke Leute an einem Ort versammelt, dann werden manche von ihnen auf unerklärliche Weise gesund.“S. 194).
Gegen Ende des Buches entsteht beim Leser oder der Leserin trotz aller Solidität der Argumentation ein Unbehagen. Die beschriebenen Phänomene als Abhandlung des „Zufalls“zu verhandeln, ist sicher nicht an den Haaren herbeigezogen, aber immer klarer wird, dass die besprochenen Erkenntnisse sehr unterschiedliche Bezüge haben: Komplexität, Unberechenbarkeit, Unkontrollierbarkeit, Unmessbarkeit. Alle Phänomene greifen den Laplaceschen Dämon an, die Idee, die Zukunft kennen zu können. Aber konstituieren sie das, was wir Zufall nennen? Genau darauf antwortet der Autor im letzten Kapitel und das in einer Weise, die schlüssig ist. Denn er stutzt den Begriff „Zufall“zurecht. „Nicht wir Menschen sind da, weil uns der Zufall hervorgebracht hat, sondern der Zufall ist da, weil wir Menschen ihn hervorgebracht haben. Von einem zufälligen Ereignis kann man nur sprechen, wenn es jemanden gibt, der dieses Ereignis als zufällig empfindet.“(S. 228) Und schließlich kommt Aigner zu dem Satz: „Zufall bedeutet, dass etwas Unvorhergesehenes passiert, über das man eine Geschichte erzählen kann.“(S. 239). Dann ist der Zufall überall, die ganze Zeit. Zufall
150 Aigner, Florian: Der Zufall das Universum und du. Wien: Brandstätter, 2017. 247 S., € 22,90 [D, A] ISBN 978-3-7106-0074-6