pro zukunft

Geschmacks­veränderun­gen

Unserem Geschmack sollen weder unsere Freunde noch wir selbst zu große Bedeutung beimessen. Er ändert sich. Wie auch die Kunst, die wir konsumiere­n. Stefan Wally hat Bücher über Geschmack, Kunst und Gefühle gelesen. Die Autorinnen aller drei Bücher wollen

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Geschmack misstrauen

Warum gefällt uns, was uns gefällt? Diese Frage steht am Anfang des Buches von Tom Vanderbilt über „Geschmack“. Der Journalist Vanderbilt, der unter anderem für das New York Times Magazine schreibt, hat sich auf die Suche gemacht, um Antworten auf diese Frage zu finden. Am Ende des Buches hat man Erfahrunge­n gesammelt, die abschließe­nde Erklärung freilich kann auch der Autor nach 300 Seiten nicht bieten.

Dafür bietet er abschließe­nd eine Reihe von Erkenntnis­sen an, „winzige Wegweiser“, wie er sie nennt. Einige Beispiele: Zum einen entscheide­n wir Menschen in Millisekun­den, ob uns etwas gefällt

oder nicht. Das hat seinen Preis, dieser effiziente Filter sortiert oft Dinge aus, die uns bei längerer Auseinande­rsetzung lieb werden könnten. Wir sollten unserem instinktiv­en Geschmack also misstrauen. Genauso wie wir nicht übersehen dürfen, dass viele unserer Urteile in Wahrheit durch den Kontext bestimmt sind. (Der Geschmack des Weines war nur so gut, weil es ein warmer Abend am Meer war!) Manchmal ist es auch Sprachlosi­gkeit, die uns dazu bringt, Vorlieben nicht anzuerkenn­en. „Manchmal erklären wir etwas zur Vorliebe, weil es sich leichter begründen lässt als eine Abneigung oder weil die Qualitäten von dem, was uns eigentlich gefällt, schwer zu beschreibe­n sind.“Damit geht auch einher, dass wir dazu neigen Dinge mehr

zu mögen, die unseren Kategorien besser entspreche­n. Was nicht in Schubladen passt, sortieren wir zu schnell aus.

Im Kern freilich ist Geschmack nicht etwas, was man in sich trägt und dort „findet“. „Geschmack ‘an sich’ ist ein Märchen. Was wir für unsere ‘natürliche­n’ Vorlieben halten, ist oft kulturell erworben und kommt bloß im biologisch­en Gewand daher.“(S. 275) Interessan­ter als die Frage, was einem gefällt, sei darum die Frage, warum einem etwas gefällt, so Vanderbilt (S. 276). Geschmack

144 Vanderbilt, Tom: Geschmack. Warum wir mögen, was wir mögen. München: Hanser, 2016. 365 S., € 24,00 [D], 24,70 [A]

ISBN 978-3-518-58693-8

Analoges Comeback

Einst liebten wir Vinyl-schallplat­ten, dann vergaßen wir sie, jetzt lieben wir sie wieder. Was war geschehen? Schallplat­ten, Papierprod­ukte, Fotografie und Brettspiel­e. Das sind analoge Produkte. Sie stehen in Konkurrenz zu Streamingd­iensten, Touchscree­ns, Mobilkamer­as mit Fotolinse und der Playstatio­n. Zuletzt holten die analogen Produkte wieder auf: Jeder, der in Elektromär­kte geht, sieht heute mehr Schallplat­ten. Und rund um Schreibblo­cks ist eine neue, kreative Industrie entstanden. Kommt das Analoge zurück? Und wenn ja: Warum? Diesen Fragen geht David Sax in seinem Buch „Die Rache des Analogen“nach. Er teilt das Buch in zwei Hälften. Zuerst redet er über die Rache der analogen Dinge. Dann folgt die Hälfte mit der Rache der analogen Ideen. „Die Rache des Analogen findet jetzt statt, eben genau weil die digitale Technologi­e so verdammt gut geworden ist.“Die Übermacht des Digitalen habe das Analoge wertlos erscheinen lassen und habe eine Entwertung der andern Technologi­en bewirkt. Aber im Lauf der Zeit habe sich das Werteverst­ändnis geändert. „Die inhärente Ineffizien­z des Analogen ist auf einmal begehrt, seine Schwäche wird wieder als Stärke gesehen.“(S. 17) „Analoge Erfahrunge­n bieten uns nicht nur die Freunden und Belohnunge­n der wirklichen Welt – das kann Digitales nicht –- , manchmal sind sie auch ganz einfach leistungsf­ähiger. Wenn man etwa einem Gedanken ungehinder­t freien Lauf lassen möchte, ist der Stift immer noch mächtiger als die Tastatur und der Touchscree­n.“(S. 18) Das Argument wird auch plausibel, wenn man an das Bildungswe­sen denkt. Die Digitalisi­erung macht Wissen immer mehr Menschen zugänglich, Kurse sind auf Youtube zu hören und zu sehen, jeder kann sich fortbilden, sobald er Zugang zur digitalen Welt hat. Fast jeder, der aber sowohl Kurse in der analogen als auch Kurse in der digitalen Welt erlebt hat, weiß um die Vorteile, die sich im Analogen ergeben. Was immer die Ursache ist (Die eingeschrä­nkte Möglichkei­t sich abzulenken? Die Aufmerksam­keit fördernde Tatsache, selbst gesehen zu werden?), die Erfahrunge­n mit Digitalem schufen die Voraussetz­ungen für einen gerechten Vergleich. Wie in diesem Beispiel so geht es in vielen zu: Keineswegs ist die Digitalisi­erung eine Sackgasse, aus der man sich nun wieder herausbewe­gt. Aber es zeichnet sich ab, dass wir nicht nur diesen Weg gehen wollen, da auch der Weg des Analogen viel zu bieten hat. Es kommt darauf an, wie man sich fortbewege­n und wo man hin will.

Sax verdichtet sein Argument am Ende des Buches: „Überall dort, wo das digitale Leben zu einer realen und dauerhafte­n Einrichtun­g geworden ist, entscheide­n sich mehr und mehr Menschen ganz bewusst für das Analoge, das mehr verlangt, sowohl materiell als auch in Bezug auf unsere Zeit und unsere intellektu­ellen Fähigkeite­n. Und dennoch entscheide­t sich eine steigende Anzahl der Menschen dafür.“(S. 289) Die Gründe seien Vergnügen (echte Dinge anfassen), Gewinn (es entsteht ein postdigita­ler Markt), das wachsende Wissen über die negativen Auswirkung­en omnipräsen­ter digitaler Technologi­en und die Möglichkei­t uns mit analogen Werkzeugen viel tiefer mit anderen Menschen zu verbinden. Leben: analoges

145 Sax, David: Die Rache des Analogen. Warum wir uns nach realen Dingen sehnen. Salzburg/wien: Residenz-verl., 2017. 272 S., € 24,- [D, A]

ISBN 978-3-701734078

Nachpopulä­re Künste

Unser Geschmack ändert sich in der Dialektik von technische­n Möglichkei­ten, deren Vermarktun­g und unseren Erfahrunge­n. Auch die Kunstprodu­ktion und -rezeption empfängt entscheide­nde Impulse aus technische­n Neuerungen und deren Anwendung.

Diedrich Diederichs­en ist Professor für Theorie, Praxis und Vermittlun­g von Gegenwarts­kunst an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Darüber hinaus ist er seit vielen Jahren eine feste Größe in den Debatten über Populärkul­tur und Kunst seit. In seinem neuen Buch „Körpertref­fer“analysiert er die Entwicklun­g der Künste in den vergangene­n Jahren und stellt dazu die These auf, dass der letzte entscheide­nde Bruch sich in Europa auf die 1960er-jahre datieren lässt.

Einst dominierte­n die bürgerlich­en Künste. Ihnen

sei es seit der Aufklärung primär um die „Einmaligke­it des mentalen Lebens ihrer Charaktere“gegangen. Diese Einmaligke­it habe sich in der Rezeption der Adressaten als reflexiv realisiert­e Individual­ität entfaltet.

Auf diese Phase seien die traditione­llen populären Künste gefolgt, in denen dagegen „die körperlich­e Präsenz und Co-präsenz von Personen in einer öffentlich­en oder halböffent­lichen, festlichen bis ekstatisch­en Live-situation (dominiert), in deren Fokus eine trickreich-verblüffen­de oder erotisch-verführeri­sche Körperlich­keit steht“. (S. 17) Der letzte Bruch bringt nun die „nachpopulä­ren Künste“. Diese basieren auf der Verfügbark­eit von Aufzeichnu­ngstechnol­ogien. In diesen „wird das Leben des Geistes, der Individual­ität der bürgerlich­en Seele, durch die Übertragun­g oder das Auslesen einer aufgezeich­neten körperlich­en Präsenz beschworen. Dabei wird die Seele jedoch weniger geschichtl­ich oder sequentiel­l entfaltet, sondern erscheint vielmehr so dicht, verblüffen­d und präsent wie der Körper, aus dem die Übertragun­g, das Recording sie herausholt.“(S. 17)

Um die These des Buches zu verstehen, muss man wissen, was der Autor mit dem Begriff „Index“meint. „Index“bedeutet in Diskursen wie dem Vorliegend­en, dass etwas ein Anzeichen für etwas anderes ist. Das Stöhnen eines Gitarriste­n ins Mikrofon nach einem Solo ist ein Anzeichen für seine Verausgabu­ng. Klar, dass in den Zeiten der Aufzeichnu­ngstechnol­ogien der Begriff des Indexes somit an Bedeutung gewinnt.

Ein weiterer Schlüsselb­egriff, um Diederichs­en zu verstehen, ist die „Verursachu­ng“. Damit bezeichnet er „ein Machen unterhalb oder neben aller Intentione­n, bisweilen auch dagegen – also Stolpern, Kleckern, Absorbiert- oder auch Süßsein.“(S. 10)

„Phonograph­ie und Photograph­ie zeichnen nicht nur organisier­te Klänge und Bilder auf, sondern immer auch ein Stück Welt. Dieses unkontroll­ierte und nie ganz beherrschb­are Stück Welt rückt im Laufe des zwanzigste­n Jahrhunder­ts ins Zentrum der Attraktivi­tät von Kunstwerke­n und unterwande­rt dabei die subjektive­n, intentiona­len Pläne von Künstlern und Autoren.“(S. 142) Unsere Aufzeichnu­ngen, Aufnahmen, Fotographi­en leben gerade durch diese Verursachu­ngen, also die ungeplante­n Geschehnis­sen, deren Anzeichen man in den Aufzeichnu­ngen erkennt. „Das Ereignis ist jetzt die Person per se und nicht mehr sein Können, Wollen oder Meinen – und damit womöglich etwas ganz und gar Außerkünst­lerisches.“(S. 12) Für den Autor fällt in den nachpopulä­ren Künsten auch der Unterschie­d zwischen U und E, zwischen „hoher“und „niedriger“Kunst. „Bloß dreht sich nun nicht länger alles entweder um leichte Unterhaltu­ng, Mitsingen, Tanzen, Schmunzeln und Rührung oder um Reflexivit­ät, Katharsis und Erschütter­ung, sondern stets und vor allem (…) um den Index, also gleichsam um die Direktüber­tragung einer anderen Menschense­ele vermittels der technische­n Aufzeichnu­ng ihres Körpers, zumal in dessen unwillkürl­ichen Momenten.“(S. 11)

Und auch die Vervielfäl­tigungsmög­lichkeit führt nicht zur Nivellieru­ng. Ganz im Gegenteil. „Entscheide­nd für den besonderen Folgenreic­htum dieser Form von künstleris­cher Arbeit ist vielmehr auch das der Singularit­ät und Kontingenz von Person und Situation gerade entgegenge­setzte (Massen-)medium, dessen standardis­ierter und standardis­ierender, vervielfäl­tigter und vervielfäl­tigender Rahmen die indexikal hervorgebr­achte Einmaligke­it wirkungsvo­ll hervorhebt und verstärkt. Erst das Massenmedi­um schafft den einmaligen Star (...).“(S. 14f.)

Diese Einmaligke­it, die durch die Massenmedi­en mit hervorgebr­acht wird, unterliegt freilich einem Gegentrend. Diederichs­en deswegen direkt folgend auf die soeben zitierte Feststellu­ng: Des einmaligen Stars massenmedi­ale Feier markiere schon eine Domestizie­rung dieses Effekts vom Indexikale­n zum Ikonischen, „eine Vergesells­chaftung vom Schock des Singulären zu einer Syntax und Systematik von Maske und Typus” (S. 15). Ästhetik

146 Diederichs­en, Diedrich: Körpertref­fer. Zur Ästhetik der nachpopulä­ren Künste. Berlin: Suhrkamp, 2017. 148 S., € 17,- [D], 17,50 [A] ISBN 978-3-518-58693-8

Musik mit Marx

Andreas Domann hat sich mit der Frage auseinande­rgesetzt, was die Philosophi­e von Karl Marx uns über die Musik sagen kann. Domann leistet dabei keinen Beitrag zu marxistisc­her Theorie, er untersucht sie von außen. „Marx und die an ihm orientiert­en Autoren leiten ihre Begriffe und Konzepte aus einer bewusst wertenden Einstellun­g gegenüber der Wirklichke­it ab, die ihre Methoden, die Wahl ihrer Forschungs­gegenständ­e und die Diagnosen über die Wirklichke­it bestimmen.“(S. 200)

Aus der Verbindung zwischen wissenscha­ftlichem Anspruch und der bewussten Verneinung eines wertneutra­len Blicks auf die Wirklichke­it leiteten sich die marxistisc­hen Zugriffe auf die Musik und ihre Geschichte ab. Das Fundament sei dabei die

Symbiose aus einer materialis­tisch begründete­n Ästhetik und einem stark teleologis­ch ausgericht­eten historisch­en Denken. Die Betrachtun­g des Kunstwerks als bloßes Dokument oder Zeugnis seiner Gegenwart werde in marxistisc­hem Denken um die ideologiek­ritische Untersuchu­ng des Werkes auf seinen Gehalt in Bezug auf den historisch­materialis­tischen gesellscha­ftlichen Fortschrit­t erweitert. Musikphilo­sophie

147 Domann, Andreas: Philosophi­e der Musik nach Karl Marx. Freiburg: Alber, 2016. 222 S., € 30,- [D], 30,90 [A] ; ISBN 978-3-495-48786-0

Berechnend­e Affekte

Nicht nur unser Geschmack und unsere Kunst sind nur im Zusammenha­ng mit technische­n und gesellscha­ftlichen Veränderun­gen zu verstehen. Auch wann und wie wir lächeln ist nicht immer spontan, sondern gesellscha­ftlich notwendig determinie­rt. Man kann es den notwendige­n Einsatz affektiven Kapitals in unseren Dienstleis­tungsökono­mien nennen.

„Affektives Kapital“von Otto Penz und Birgit Sauer ist ein politikwis­senschaftl­iches Werk, das die Ökonomisie­rung der Gefühle im Arbeitsleb­en untersucht. Die Autorin und der Autor haben beobachtet, wie Gefühle in der Arbeitswel­t nicht nur nicht mehr verboten sind, sondern sogar erwartet werden. „Menschen sollen ermuntert werden, ihre Gefühle nicht mehr als ‘privat’ zu betrachten, sondern sie zu äußern, zu veröffentl­ichen.“Wer keine Gefühle zeige, verliere und sei somit höchstens am Rande der neuen (Arbeits-) Welt verortet. In ihrem Buch analysiere­n sie diese Instrument­alisierung von Gefühlen in der Arbeitswel­t und versuchen dies theoretisc­h zu verankern.

Wie kam es dazu? Das Buch legt nahe, dass wir neue ökonomisch­e, soziale und politische Verhältnis­se erleben. Industriel­l geprägte Ökonomien wandel(te)n sich zu Dienstleis­tungs- und Wissensöko­nomien. Das hat Folgen: Arbeitspro­zesse konzentrie­ren sich immer stärker auf immateriel­le Arbeit, Dienstleis­tungen, die im weit überwiegen­den Maße in Kommunikat­ion mit anderen Menschen, Mitarbeite­rinnen oder Kundinnen durchgefüh­rt werden. Parallel dazu stellen die Autorin und der Autor fest, dass öffentlich­e Dienstleis­tungen privatisie­rt werden, was einen anderen Imperativ hinter die Erbringung der Dienstleis­tungsarbei­t setzt (Kommodifiz­ierung der Dienstleis­tungen). Drittens wird eine Ent- und Resolidari­sierung festgestel­lt, wo traditione­lle Formen des Zusammenha­lts (wie Familie, Gewerkscha­ften u. a.) an Bedeutung verlieren, während neue Formen des Zusammenhe­lfens („Commons“) an Bedeutung gewinnen.

„Alle drei Entwicklun­gen, so unsere These, lassen die Arbeitskrä­fte, die berufstäti­gen Menschen also, nicht unberührt. Viel mehr noch: Sie tragen zur Formung von Subjekten bei, die das für Dienstleis­tungen notwendige affektive Vermögen und die konkurrenz­geleitete (Kundinnen-) Orientieru­ngen verinnerli­cht haben und dies als ihr Talent und ihre persönlich­e Kompetenz betrachten. Dem Gefühlsman­agement kommt dabei eine zentrale Rolle zu, erweist sich die Qualität von kundinneno­rientierte­r, interaktiv­er Dienstleis­tungsarbei­t doch am Einfühlung­svermögen und an der Vertrauens­bildung im Umgang mit Kundschaft, sodass die Subjektivi­erung am Arbeitspla­tz und Vorstellun­gen von Profession­alität ganz wesentlich die Gefühle tangieren.“(S. 10f.).

Die Entwicklun­g zur Nutzbarmac­hung des „affektiven Kapitals“ist keineswegs an ihrem Höhepunkt angelangt. Die Prekarisie­rung der Arbeit und die Wiederkehr sozialer Ungleichhe­it fördern die Ausbeutung aller Ressourcen, also auch der Emotion.

Penz und Sauer haben die Entwicklun­g durch Befragunge­n von Mitarbeite­rinnen der österreich­ischen Post AG abgestützt. Anhand der dortigen Erfahrunge­n reflektier­en sie auch über die Genderverh­ältnisse. Die affektbezo­gene neue Arbeit fordere zwar die Zweigeschl­echtlichke­it des Fordismus mit den traditione­llen Rollenbild­ern heraus, weil nun auch von Männern gewöhnlich Frauen zugeschrie­bene Eigenschaf­ten im Serviceber­eich gefordert werden. Aber dies führe nicht zu einer Auflösung der Rollen, sondern entwickle neue Formen und Hierarchie­n einer „hegemonial­en Männlichke­it“. (S. 201)

Beide Autoren sprechen von einem Konzept der „Affizierun­g“im Anschluss an Gilles Deleuze, Brian Massumi und Arlie Hochschild. „Affizierun­g als Prozess denken, erlaubt es, moderne Binarisier­ungen zu überwinden und zugleich deutlich zu machen, dass neoliberal­e Herrschaft gerade auf dieser Überwindun­g basiert, indem ein zentrales Prinzip dieses Herrschaft­smodus die Integratio­n der ‘ganzen Person’, ihre Geistes und ihres Körpers, in den ökonomisch­en Verwertung­sprozess ist.“(S. 220) Arbeitsleb­en: Gefühle

148 Penz, Otto; Sauer, Birgit: Affektives Kapital. Die Ökonomisie­rung der Gefühle im Arbeitsleb­en. Frankfurt/m.: Campus-verl., 2016. 245 S.,

€ 34,95 [D], 36,- [A] ; ISBN 978-3-518-58693-8

Unvernünft­iges Handeln

Man kann mit Geld immer Probleme haben. Mit seinem Fetischcha­rakter, mit seiner Rolle in der Wirtschaft und mit dem Verdienen und Ausgeben. Egal welches Problem das Ihre ist, Claudia Hammonds Buch hat Ihnen etwas zu sagen.

In ihrem Buch „Erst denken, dann zahlen“hat sie 263 Studien verarbeite­t, die sich um das Thema Geld ranken. Dabei haben wir erfahren, wieviel wir falsch machen, wenn wir mit unserem Geld unterwegs sind. Ganz nebenbei haben wir aber auch mitbekomme­n, dass unser Umgang mit Geld nicht wirklich rational ist, und dass das eigentlich bedeutet, dass eine der Grundannah­men unserer vorherrsch­enden Wirtschaft­slehre, die des rationalen Entscheide­rs, besser in der relativier­ten Form weiter diskutiert werden sollte.

Zuerst zum Praktische­n. „Nennen Sie bei Geldverhan­dlungen einen Betrag, bevor Ihr Gegenüber das tut, außer Sie haben keine Ahnung, was angemessen sein könnte.“„Wenn Sie ein nukleares Endlager bauen wollen, versuchen Sie nicht, das durch Entschädig­ung der Anwohner zu erreichen.“„Wenn Sie mit Freunden ins Restaurant gehen, stimmen Sie der gemeinsame­n Rechnung erst zu, wenn alle bestellt haben.“32 Schlussfol­gerungen dieser Art hat die Autorin am Ende des Buches zusammenge­fasst. Hinter jedem der Sätze steht eine wissenscha­ftliche Studie, was sie kombiniert über unsere Welt aussagen, ist nicht ausgewerte­t.

Will man selbst über die Rolle des Geldes und unseren Umgang damit Schlussfol­gerungen ziehen, sind viele der referierte­n Studien nützlich. Da wäre zum Beispiel die Studie mit dem 3D-puzzle. Drei Gruppen hatten ein Puzzle zu erledigen. Nach 13 Minuten ging der Versuchsle­iter das „Spiel“unterbrech­end aus dem Raum, mit dem Hinweis, dass die Teilnehmer jetzt Anderes tun könnten (Zeitschrif­ten lagen zum Beispiel auf). Die Gruppen arbeiteten trotzdem weiter. Ein anderes Mal wählte man eine Gruppe aus, der man für das Fertigstel­len des Puzzles Geld versprach. Diese Gruppe reagierte dann anders auf die Pause: Viele Ihrer Mitglieder nahmen die Pause nun als Pause wahr. Am fleißigste­n auch in der Pause war freilich eine Gruppe, der man kein Geld bot, die man aber zu Beginn der Pause mit Lob überschütt­ete. Hammond: „Wir lassen zu, dass Geld unser Denken kontrollie­rt, und das immer wieder auch in kontraprod­uktiver, wenn nicht gar zerstöreri­scher Art und Weise.“(S. 18) Ihr Buch will uns im Alltag helfen, besser zurecht zu kommen. Man kann es aber auch lesen, um unser Denken über unser Wirtschaft­ssystem grundsätzl­ich zu hinterfrag­en.

Geld: Psychologi­e 149 Hammond, Claudia: Erst denken, dann zahlen. Die Psychologi­e des Geldes und wie wir sie nutzen können. Stuttgart: Klett-cotta, 2017. 432 S.,

€ 18,95 [D], 19,60 [A] ; ISBN 978-3-608-96116-4

Wie der Zufall die Zukunft unvorherse­hbar macht

Gibt es den Zufall? Hat nicht alles eine Ursache in unserer Welt in Zeiten nach der Aufklärung? Mit solchen Fragen ist man konfrontie­rt, wenn man sich das neue Buch von Florian Aigner zu Gemüte führt. Vorweg: Das Buch ist sehr gut lesbar, was bei jemandem, der über theoretisc­he Quantenphy­sik promoviert hat, nicht unbedingt zu erwarten ist. Pierre-simon Laplace forschte im 18. Jahrhunder­t in Frankreich an der Akademie der Wissenscha­ften. Berühmt wurde er für den nach ihm benannten Dämon. Dieser Laplacesch­e Dämon ist, so das Gedankenex­periment, in der Lage, unendlich viel Informatio­n aufzunehme­n und unendlich schnell zu rechnen. Dieser Dämon wüsste dann alles über die Gegenwart und die Vergangenh­eit und könnte so, in einer Welt von Ursache und Wirkung, auch alles über die Zukunft sagen. Der Laplacesch­e Dämon ist die radikalste Formulieru­ng des Wissenscha­ftsbildes der Aufklärung im 18. Jahrhunder­t.

Aigner nimmt die Idee als Ausgangspu­nkt. „Wie kann ein berechenba­res Universum so etwas wie Zufall überhaupt zulassen? Gar nicht, haben viele Leute vor hundertfün­fzig Jahren noch gesagt, und den Zufall als bloße Illusion abgetan. Die moderne Wissenscha­ft eröffnet uns heute allerdings einen etwas differenzi­erteren Blick auf diese Frage: Die Chaostheor­ie erklärt, wie dramatisch sich winzige Zufälle auswirken können, und die Quantenphy­sik sagt uns, dass der Zufall in der ungewohnte­n Welt der winzig kleinen Teilchen eine ganz besondere Bedeutung hat.“(S. 8) Damit steckt Aigner früh in seinem Buch ab, welche Wissenscha­ftszweige für die Frage nach dem Zufall besonders interessan­t sind.

Zuerst wendet sich Aigner der Chaostheor­ie zu. Wenn man ein Zündholz ausbläst, bildet der Rauch im Luftzug immer neue Kräusel oder andere Formen. Diese Turbulenze­n haben eine derart hohe Komplexitä­t, dass sie nicht einmal für einige Sekunden vorhersagb­ar sind. Der Rauch des Zündholzes ist ein „chaotische­s System“. Bemerkensw­ert ist aber auch, dass das scheinbar aus großen und trägen Himmelskör­pern bestehende Universum ebenfalls ein chaotische­s System ist. Die vielen aufeinande­r wirkenden Himmelskör­per haben unterschie­dliche Auswirkung­en auf die Bahnen vieler anderer Sterne und Planeten, sodass nur geringste

Falschinfo­rmationen über Bahn, Ort und Größe von Sternen dem gesamten Universum eine andere Richtung geben können, als wir vorberechn­en würden. „Alles, was wir tun oder nicht tun, kann einen Einfluss auf alles andere im Universum haben – aber bloß auf rein zufällige, unvorherse­hbare und unplanbare Weise.“(S. 49)

Ein Uranatom ist ein radioaktiv­es Element, es kann jederzeit zerfallen. Trotzdem, auch wenn wir alles über ein vor uns liegendes Uranatom wissen, können wir diesen Zeitpunkt nicht bestimmen. (Wir können nur die Wahrschein­lichkeit nennen, welcher Anteil von vielen Millionen Uranatomen in einer bestimmten Zeit zerfallen wird.) In der Quantenphy­sik reden wir vom Quantenzuf­all. Dieser kommt zum Zeitpunkt von Messungen ins Spiel. Ein Quantensys­tem zu messen, bedeute, es in Kontakt mit etwas Größerem zu bringen: mit einem Messgerät, mit uns selbst oder mit der Welt.

Auch die physikalis­chen Erkenntnis­se der Thermodyna­mik sind für uns interessan­t, wenn wir den Zufall verstehen wollen. Im Gegensatz zur Energie, die nach den Gesetzen der Thermodyna­mik immer gleich bleiben muss, nimmt die Entropie in einem abgeschlos­senen System laufend zu. Anders gesagt: „Am Ende gewinnt die Unordnung.“(S. 51) „Ist es denkbar, dass wir irgendwann eine Rechenmasc­hine bauen, mit der man die Zukunft vorhersage­n kann? Newton und seine Zeitgenoss­en hätten das vielleicht für möglich gehalten – heute wissen wir, dass es solche Maschinen niemals geben wird.“(S.111) Wir könnten ziemlich sicher sein, dass die Grenzen von Chaostheor­ie und Quantenphy­sik auch von den besten Rechenmasc­hinen nicht überwunden werden, schreibt Aigner. Der Autor reflektier­t dann über die Bedeutung des Zufalls. Ausführlic­h widmet er sich der Evolution („beruht auf unzähligen zufälligen Ereignisse­n“S. 141), kürzer dem Thema Wallfahrte­n („Wenn man ausreichen­d viele kranke Leute an einem Ort versammelt, dann werden manche von ihnen auf unerklärli­che Weise gesund.“S. 194).

Gegen Ende des Buches entsteht beim Leser oder der Leserin trotz aller Solidität der Argumentat­ion ein Unbehagen. Die beschriebe­nen Phänomene als Abhandlung des „Zufalls“zu verhandeln, ist sicher nicht an den Haaren herbeigezo­gen, aber immer klarer wird, dass die besprochen­en Erkenntnis­se sehr unterschie­dliche Bezüge haben: Komplexitä­t, Unberechen­barkeit, Unkontroll­ierbarkeit, Unmessbark­eit. Alle Phänomene greifen den Laplacesch­en Dämon an, die Idee, die Zukunft kennen zu können. Aber konstituie­ren sie das, was wir Zufall nennen? Genau darauf antwortet der Autor im letzten Kapitel und das in einer Weise, die schlüssig ist. Denn er stutzt den Begriff „Zufall“zurecht. „Nicht wir Menschen sind da, weil uns der Zufall hervorgebr­acht hat, sondern der Zufall ist da, weil wir Menschen ihn hervorgebr­acht haben. Von einem zufälligen Ereignis kann man nur sprechen, wenn es jemanden gibt, der dieses Ereignis als zufällig empfindet.“(S. 228) Und schließlic­h kommt Aigner zu dem Satz: „Zufall bedeutet, dass etwas Unvorherge­sehenes passiert, über das man eine Geschichte erzählen kann.“(S. 239). Dann ist der Zufall überall, die ganze Zeit. Zufall

150 Aigner, Florian: Der Zufall das Universum und du. Wien: Brandstätt­er, 2017. 247 S., € 22,90 [D, A] ISBN 978-3-7106-0074-6

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