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Der Seneca-effekt

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Ugo Bardi ist Chemiker und hat als Club of Rome-mitglied mit seinem Bericht „Der geplündert­e Planet“weit über seine Disziplin hinausgehe­nd Aufmerksam­keit erreicht. In seiner neuen Publikatio­n wendet auch er sich den Systemwiss­enschaften zu und erforscht an unterschie­dlichen Beispielen den Zusammenbr­uch von komplexen Systemen. Genauer genommen, den Umstand, dass dem kontinuier­lichem Wachstum bei Erreichen einer kritischen Grenze der rasche Kollaps folgen könne. Was bereits der griechisch­e Philosoph Seneca mit den Worten ausdrückte: „Das Wachstum schreitet langsam voran, während der Weg zum Ruin schnell verläuft.“Daher „Seneca-effekt“.

Bardi geht diesem Prinzip des überrasche­nden Kollaps, wissenscha­ftlich erforscht im Konzept der „tipping points“und gut illustrier­bar mit dem Bild der Lawine oder eines Bergsturze­s, anhand unterschie­dlicher Phänomene nach. Was aus der Physik bekannt sei, etwa das Platzen des Luftballon­s bei Erreichen einer bestimmten Größe oder – schlimmer – das Bersten eines Flugzeug mit einem Materialfe­hler bei einer bestimmten Belastungs­grenze, das sei auch auf gesellscha­ftliche Systeme sowie das Ökosystem anzuwenden, so die Ausgangsth­ese des Autors. Dabei seien es nicht immer vordergrün­dige Dinge, die zum Kollaps führten. Das römische Imperium ist an seiner ökonomisch­en und militärisc­hen Überdehnun­g zu Grunde gegangen. Der Auslöser könnte aber, so Bardi, in der Verknappun­g von Edelmetall­en für die Münzgeldpr­oduktion und in der Folge der nicht mehr gewährleis­teten Auszahlung der Söldner gelegen sein, was deren Kampfmoral geschwächt habe. Die große irische Hungersnot im 19. Jahrhunder­t wird mit der Ausbreitun­g der Kartoffelf­äule begründet, doch gab es trotz Ernteausfä­llen genügend Kartoffel, nur die betroffene­n Bauern konnten sich diese nicht leisten, und es fehlte an Transportk­apazitäten, die Lebensmitt­el an die richtigen Orte zu bringen. Ein Beispiel, das auf die Hungerprob­leme heute verweist, die nicht mit zu geringer Nahrungsmi­tteprodukt­ion, sondern mit Marktversa­gen zusammenhä­ngen.

Am Beispiel der Leerfischu­ng der Meere, der Zerstörung der Bienenpopu­lationen durch Pestizide, die somit nicht mehr als Pflanzenbe­stäuber zur Verfügung stehen, sowie am Klimawande­l mit seinen lauernden „tipping points“zeigt der Autor, wie komplexe Ökosysteme irreversib­el zerstört und chaotische Wirkungen ausgelöst werden können. Die Verknappun­g der Ressourcen werde, so ein weiterer Befund von Bardi, nicht erst mit dem Versiegen der Vorkommen zum Problem, sondern mit der zunehmende­n Verteuerun­g der Förderung von Lagern schlechter­er Qualität. Die ökonomisch­e Grenze zum möglichen Kollaps liege daher im sogenannte­n EROI, dem „Energy Return on Investment“.

Was ist zu tun? Bardi sieht mehrere Strategien. Eine liegt für ihn in der Erhöhung der Resilienz, also der Verringeru­ng der Abhängigke­it von nicht beinflussb­aren Faktoren durch Autonomie und Vielfalt. Transition Towns nennt der Autor dabei als Beispiel. Ein anderer Weg liege jedoch darin, „kreativ zu kollabiere­n“(S. 267), was bedeute, nicht mehr leistungsf­ähige Systeme, etwa die privat organisier­te Automobili­tät in Städten, zusammenbr­echen zu lassen und durch innovative­re Ansätze zu ersetzen. Bardi denkt auch an einen „Seneca-kollaps der Fossilindu­strie“als Segen für die Menschheit. Doch der Übergang müsse gesteuert werden. Der Autor plädiert dafür, Restmengen fossiler Rohstoffe für nicht oder schwer substituie­rbare Prozesse zu horten. Ähnlich sei dies bei der Abkehr vom Wachstumsd­enken. Resilienzs­trukturen bzw. Hebelwirku­ngen in der Wirtschaft sieht Bardi etwa in der Einführung von Regionalwä­hrungen, in der Rückkehr zu periodisch­en Entschuldu­ngen oder in der steuerlich­en Abschöpfun­g der überdimens­ionierten Vermögen.

„Systeme neigen dazu, Potenziale mit höchstmögl­icher Geschwindi­gkeit zu zerstreuen. Wenn das System einen Weg findet zu kollabiere­n, wird es das tun – auch mit der Folge eines (Seneca-)ruins.“(S. 275) Dies schreibt der Autor auf einer der letzten Seiten des Buches und lässt die Leserin und den Leser mit einer doch umstritten­en und auch fatalistis­chen Sichtweise zurück; wenn er folgende „Regeln” zum Besten gibt: „Meide Extreme“(Weg des Buddhisten), „Verzehre nicht dein Saatgut“(Weg des Sämanns) und „Mache Gebrauch von dem, was in deiner Macht liegt, und nimm den Rest gelassen hin“(Weg des Stoikers).

Kollaps: Wandel

26 Bardi, Ugo: Der Seneca-effekt. Warum Systeme kollabiere­n und wie wir damit umgehen können. München: oekom, 2017. 312 S., € 25,- [D], 25,70 [A] ; ISBN 978-3-96060-010-9

„Es macht durchaus Sinn, Entscheidu­ngen größerer Tragweite zusammen zu fällen, um der Fehleranfä­lligkeit von Einzelents­cheidungen zu begegnen.“(Ugo Bardi in 26 , S. 237)

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