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Über Wörter und Lesen

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Ernst Müller und Falko Schmieder haben ein Kompendium über Begriffsge­schichte und historisch­e Semantik vorgelegt. „Das vorliegend­e Buch reagiert auf ein Desiderat. Es gibt bis heute keine monographi­sche Darstellun­g, die die mannigfalt­igen historisch­en, nationalen und disziplinä­ren Ansätze der Begriffsge­schichte und historisch­en Semantik komparativ in ihrer ganzen Breite darzustell­en versucht.“(S. 16) Die Autoren stellen sich der Aufgabe mit offensicht­licher Gründlichk­eit. Mehr als 1000 Seiten umfasst schließlic­h die Darstellun­g, die aber keineswegs langatmig ist. Wen 1000 Seiten zu historisch­er Semantik nicht hinter dem Ofen hervorlock­en, dem sei berichtet, dass das Kompendium sehr gut in kleineren Teilen mit Gewinn gelesen werden kann. Das Buch möchte, bezogen auf Gegenstand und Geschichte, die wichtigste­n Forschungs­stränge historisie­rend und interdiszi­plinär darstellen. Die meisten Kapitel behandeln die Genese der Begriffsge­schichte und historisch­e Semantik, die in den Diszipline­n heterogene Ursprünge haben, so die Autoren. Es gibt Kapitel zur Philosophi­e, Geschichts­wissenscha­ft, Sprachwiss­enschaft, Wissenscha­ftsgeschic­hte und Kulturwiss­enschaft. Die Kapitel folgen einer historisch­en Logik, sie markieren in ihrer Abfolge Paradigmen­wechsel. Im sechsten Abschnitt werden Projekte und Institutio­nen der Begriffsge­schichte dargestell­t.

Auch die Begriffsge­schichte der Zukunft wird in dem Buch angesproch­en. In der Neuzeit habe sich die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung zunehmend vergrößert. Ein wichtiger Grund dafür waren die Entdeckung­en der Neuen Welt und die Erfindunge­n dieser Zeit, die sich nicht mit Erfahrunge­n in Einklang bringen ließen. Selbst der Begriff Neuzeit ist nur denkbar, nachdem Erfahrung und Erwartung sich voneinande­r entfernt haben. Karl Mannheim wird mit seinem Begriff des „Erwartungs­horizonts“vorgestell­t. Der gesellscha­ftliche Umbruch hatte entscheide­nde Folgen

für die Begriffsbi­ldungen: Begriffe für Zukünftige­s waren natürlich nicht aus der Gegenwart abzuleiten, sondern stellten „Vorgriffe“dar. Als Beispiele werden der „Völkerbund“oder „Kommunismu­s“genannt. Aber auch diese Vorgriffe konnten nur auf der Basis der jeweils verfügbare­n Begriffe formuliert werden. Der wichtige Begriffsge­schichtler, Reinhard Kosseleck, sieht deswegen den utopischen Roman als ein wichtiges Genre der kollektive­n Imaginatio­n und der Formulieru­ng von Zukunftsen­twürfen. S. W.

Semantik: historisch­e 6 Müller, Ernst; Schmieder, Falko: Begriffsge­schichte und historisch­e Semantik. Ein kritisches Kompendium. Berlin: Suhrkamp, 2016. 1027 S.,

€ 30,- [D], 30,90 [A] ; ISBN 978-3-518297179

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