pro zukunft

Sprachkenn­tnis als Medium von Toleranz

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Im Zeitalter „alternativ­er Fakten“sind Lügenpress­e-vorwürfe und 1984-Neusprech ein guter Anlass, sich mit der deutschen Sprache und einer Einführung in deren Geschichte von Jörg Riecke zu befassen, um „die wichtigste­n Grundkennt­nisse vermittelt“zu bekommen (S. 10).

So lernt die Leserin/der Leser unter anderem (oder erinnert sich), dass im karolingis­chen Vielvölker­staat weder eine gemeinsam getragene Kultur, noch eine gemeinsame Landesspra­che existierte. „Zum gemeinsame­n Band, das diesen Großraum zusammenha­lten sollte, wurde das Christentu­m“, schreibt der Sprachwiss­enschafter und -historiker an der Universitä­t Heidelberg. Eine wesentlich­e Rolle spielten dabei auch sogenannte „Glossen“– deutsche Wörter als „Verständig­ungshilfe zwischen den Zeilen lateinisch­er Texte“–, die ursprüngli­ch nur „dem besseren Verständni­s des Lateins dienen“sollten. „Mission, religiöse Unterweisu­ng der Laien und eine zumindest rudimentär­e Ausbildung auch der niederen Geistlichk­eit (konnten) nur mit Hilfe der jeweiligen Mutterspra­chen gelingen.“(S. 24)

Die jeweils rund 300 Jahre andauernde­n Epochen

des Alt-, Mittel-, und Frühneuhoc­hdeutschen wurden unmittelba­r durch tiefe Einschnitt­e in der Geschichte – Krisen, Katastroph­en und dem damit verbundene­n demographi­schen Wandel – begrenzt, ebenso spätere Sprachepoc­hen: Epidemien und Hungersnöt­e um das Jahr 1050, die Pest um 1350, das Ende des Dreißigjäh­rigen und des Zweiten Weltkriegs. „Demographi­scher Wandel verursacht (…) keinen Sprachwand­el, aber er verhilft den sich ohnehin beständig vollziehen­den Neuerungen zum Durchbruch“, (S. 39) so Riecke.

Es kann „die Geschichte der deutschen Sprache im 19. und 20. Jahrhunder­t nicht ohne das Wissen um die nationalso­zialistisc­he Ideologie und Barbarei und damit auch nicht ohne den Holocaust gedacht und geschriebe­n werden“(S. 227). Bittere Ironie: „Die Sprachgesc­hichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts gibt Anlass zu der Vermutung, dass mit der Ermordung (…) des jüdisch-deutschen Bürgertums gerade die Bevölkerun­gsgruppe ausgelösch­t worden ist, die seit den Tagen von Emanzipati­on und Assimilati­on an die deutsche ,Leitkultur‘ in sprachlich­er Hinsicht traditione­ll am stärksten normorient­iert war.“(S. 243) „Flucht und Vertreibun­g führten zu einer veränderte­n Zusammense­tzung des deutschen Varietäten­spektrums; Dialekte gingen unter oder vermischte­n sich neu. Der sich stetig verstärken­de Einfluss des amerikanis­chen Englisch sowie die neuen Sprachstil­e der Computerwe­lt und zuletzt der neuesten Medien tun ein Übriges. Diese neuen Einflüsse konnten sich aber wohl nur deshalb so leicht durchsetze­n, weil es die bürgerlich­e Sprachkult­ur als Norm und Vorbild nicht mehr gibt“, schreibt Riecke (S. 244). Vielleicht auch, weil jene, für die „Heimat“wichtigste Quelle ihrer politische­n Gesinnung darstellt, kaum der deutschen Sprache mächtig sind? Ein Eindruck der sich aufdrängt, wenn man das Gestammel auf einschlägi­gen Facebook-seiten und in den Leserforen heimischer Medien verfolgt. Aktuelle „Fake News“-parolen und das Nachplärre­n umgewertet­er, pejorativ gemeinter Begriffe wie „sogenannte Objektivit­ät“erinnern doch deutlich an den Sprachstil der NSDAP.

Zumindest in Einzelfäll­en haben aber „sprachlich­e Schwächen (...) ausschließ­lich etwas mit ihrer Ausbildung, jedoch nichts mit Bildung oder Intelligen­z zu tun“. Dies macht Riecke am Beispiel von Elise und Otto Hampel klar. Sie hatte ein Jahr Volksschul­e besucht und wurde Zimmermädc­hen, er nach drei Klassen Hilfsarbei­ter. Das mutige Berliner Ehepaar hat die Verbreitun­g von über 200 regimekrit­ischen Postkarten und Flugblätte­rn mit dem Leben bezahlt: „Deutsche Past auf! Last Euch nicht Dicktatori­sch unter kriegen was sind wir noch! daß Stumme Vieh! Gegen diese Fesseln müssen wir uns wehren sonst ist es zu spät! Ist es jetzt noch ein ehrlicher Krieg! Nein eine brutale Vernichtun­g wird von unserer Regierung geführt. Wir werden es genauso verspüren wie alle anderen Staaten es ist nicht mehr ehrlich wenn Göring schwersten Kalieber auf Arbeiter fallen läst ist doch gleich wo es ist! Nieder mit dem Vernichtun­gs Sistem!“(Zitiert nach Walter Kempowski, Das Echolot. Ein kollektive­s Tagebuch. Januar und Februar 1943.)

Über deren Widerstand­sgruppe „mit Schweigen hinwegzuge­hen lag wohl vor allem deshalb für viele nahe, weil es noch immer eine weitverbre­itete Ansicht ist, dass Menschen, die nicht normgerech­t schreiben, nicht recht ernst zu nehmen seien“, folgert der Autor. Wer sich angesichts seines Forschungs­schwerpunk­tes „Sprache in der Zeit des Nationalso­zialismus“mehr zur „neueren Sprachgesc­hichte“erwartet hat, wird eher enttäuscht und Anregungen aus dem umfangreic­hen Literaturv­erzeichnis einholen müssen, welches das Studienbuc­h auszeichne­t und etwas für das fehlende Glossar entschädig­t.

Sprache

7 Riecke, Jörg: Geschichte der deutschen Sprache – Eine Einführung. Stuttgart: Reclam, 2016. (Reclams Studienbuc­h Germanisti­k) 277 S., € 16,95 [D], 17,50 [A] ; ISBN 978-3-15-011056-0

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