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Der letzte Zeitungsle­ser

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„Der letzte Zeitungsle­ser“ist eine wehmütige Liebeserkl­ärung an ein Medium, das seine besten Zeiten mit Reportagen, Fotos, Glossen und einem umfangreic­hen Feuilleton­teil hinter sich hat. Und das vermutlich schon seit rund 80 Jahren. Der Text ist aber auch eine Würdigung an dessen Connaisseu­rs, vor allem den „idealen Zeitungsle­ser“Thomas Bernhard. Dieser soll auf der Jagd nach einer aktuellen Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung quer durch Oberösterr­eich bis nach Steyr (sic!) gekommen sein. Man ahnt, dass es Michael Angele in seinem Feuilleton ursprüngli­ch um die Ergründung von Bernhards legendärer Zeitungssu­cht ging – ein (zu) schwierige­s Unterfange­n, weil „noch keiner über das Zeitungsle­sen bei Bernhard geforscht“hat. Nebenbei bemerkt: Auch Robert Jungk galt die tägliche Lektüre von gut einem Dutzend Zeitungen als selbstvers­tändlich, ja war ihm unverzicht­bar.

„Heute kann man die NZZ praktisch überall bekommen, zur Not digital“schreibt der gebürtige Schweizer (S. 11). Sein „kleines Buch“ist in der Breite einer Zeitungssp­alte gesetzt. Wie das Leben so spielt: Der Rezensent liest das Buch genau zu jenem Zeitpunkt, als nzz.at eingestell­t wird. Wir erfahren, dass ein Café in Berlin-char-

lottenburg nicht mit einem klassische­n Wiener Kaffeehaus mithalten kann, es sich dort aber dennoch gut Zeitung lesen lässt. Mit Verweis auf einen 1987 publiziert­en Text – Zeitungsle­sen im Wirtshaus – erfahren wir auch, dass Peter Handke im Gasthaus „Überfuhr“Zeitung gelesen hat. „Um den Klassenfei­nd zu studieren, haben viele Achtundsec­hziger die FAZ gelesen. Der Wirtschaft­steil war Pflichtlek­türe. Allerdings studierten sie dann den Wirtschaft­steil und noch anderes so lange, bis in vielen Fällen aus der rein instrument­ellen Beziehung echte Zuneigung entstanden ist“(S. 62f.). Thomas Bernhard im Interview mit Krista Fleischman­n (1979 – bereits vor den berühmten beiden Mallorca-interviews der 1980er Jahre!): „Die eigentlich­e Natur und Welt ist in den Zeitungen. Die boulevarde­sken Zeitungen: Je primitiver, desto mehr ist eigentlich drin. Je scheußlich­er die Zeitung ist, desto mehr Gewinn ziehe ich daraus.“Zeitungsle­ser

8 Michael Angele: Der letzte Zeitungsle­ser. Berlin: Galiani, 2016. 153 S., € 16,- [D], 16,50 [A] ISBN 978-3-86971-128-7

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