Europa Was ist los mit Europa?
Gegenwärtig gibt es eine weit verbreitete Ratlosigkeit über den künftigen Weg der EU. Alfred Auer wirft einen Blick auf einige Analysen der Misere bzw. auf Vorschläge zur Lösung der Krise. Hans Holzinger ergänzt mit Yanis Varoufakis’ Sicht der Schuldenkrise Griechenlands, einem Attac-band sowie Reportagen zur Eu-abschottungspolitik.
Gegenwärtig gibt es eine weit verbreitete Ratlosigkeit über den künftigen Weg der Europäischen Gemeinschaft. Unstrittig ist, dass sich die europäische Integration aktuell in der schwierigsten Phase seit Inkrafttreten der Römischen Verträge befindet. Die Gemeinschaft zeigt sich auch nicht in der Lage, die Strukturmängel der Maastrichter Wirtschaftsund Währungsunion zu korrigieren. In der Flüchtlingsfrage ist es nicht gelungen, einen Verteilungsschlüssel für Migrantinnen zu entwickeln. Alfred Auer wirft einen Blick auf einige Analysen der Misere bzw. auf Vorschläge, die helfen können, die Krisen zu meistern. Hans Holzinger ergänzt das Kapitel mit Yanis Varoufakis’ Sicht der Schuldenkrise Griechenlands, einem Attac-band sowie Reportagen zur Eu-abschottungspolitik.
Europa, was nun?
Der Jurist Andreas Wehr ist überzeugt, dass sich die EU gegenwärtig in einer Phase der Stagnation befindet und hält auch die vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron angestrebte Vertiefung der Integration für wenig wahrscheinlich. Es sind v.a. drei Probleme, die seiner Einschätzung nach zu lösen sind. 1) Die s. E. seit 2010 anhaltende Eurokrise, die nach wie vor nicht gelöst, sondern nur aufgeschoben ist. „Seit Eintritt der Zahlungsunfähigkeit Griechenlands im Frühjahr 2010 versuchen die Euroländer, die Krise des gemeinsamen Währungsraums nur noch einzudämmen.“(S. 172) In Griechenland hat die von der Regierungspartei Syriza abgespaltene Partei Volkseinheit bereits einen Vorschlag für den Austritt des Landes aus der Eurozone vorgelegt. 2) Der Austritt Großbritanniens verlangt ein konstruktives Herangehen an die Verhandlungen über den Scheidungsvertrag, denn der Brexit ist bereits für das Frühjahr 2019 vorgesehen.
3) Der Hauptstreitpunkt ist bekanntermaßen die Flüchtlings- und Migrationspolitik und wie sich gezeigt hat, ist eine Verpflichtung aller Eu-staaten zur Aufnahme von Flüchtlingen vorerst nicht durchsetzbar. Hinzu kommen auch Entfremdungsprozesse zwischen der Gruppe der Visegrád-staaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn auf der einen und den kerneuropäischen Ländern unter Führung Deutschlands auf der anderen Seite.
Kein Ausweg in Sicht?
Macron hat mit der Idee einer „europäischen Asylbehörde“bzw. einer „europäischen Grenzpolizei“ein ehrgeiziges Programm vorgelegt. In den Bestrebungen zu einer gemeinsamen Sicherheitsund Verteidigungspolitik seien aber bisher keine wesentlichen Fortschritte zu sehen. Einzig von einer Stärkung bzw. einer demokratischen Legitimierung der zur Bewältigung der Griechenlandkrise
geschaffenen Institution „Europäischer Stabilitätsmechanismus“(ESM) verspricht sich Andreas Wehr einen Erfolg. Der Autor betont immer wieder auch den eigentlichen Charakter der EU, die nämlich keine mit eigener Souveränität ausgestattete Institution und schon gar nicht ein Staat ist, sondern eine supranationale Einrichtung. Deshalb hängt es seiner Ansicht nach in der gegenwärtigen Krise mehr und mehr von den politischen Entscheidungen der Mitgliedsländer ab, was aus der EU wird. In Anbetracht der gegenwärtigen politischen Konstellation vieler Mitgliedsstaaten sei hier kaum Anlass zur Hoffnung gegeben. Europa: Migration
113 Wehr, Andreas: Europa, was nun? Trump, Brexit, Migration und Eurokrise. Köln: Papyrossaverl., 175 S. (Neue Kleine Bibliothek; 252)
€ 13,90 [D], 14,30 [A] ; ISBN 978-3-89438-653-5
Was ist los mit dir, Europa?
Friedhelm Hengsbach, Doyen der Wirtschaftsund Sozialethik in Deutschland, beschäftigt sich ebenfalls mit dem Zustand Europas in Zeiten des Brexit, des Aufkommens nationalistischer Strömungen und einer zunehmenden Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten. Er fragt sich, wie es so weit kommen konnte, „dass die Grundsätze der europäischen Verträge, die Solidarität unter den Mitgliedsländern zu stärken und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern, in ihr Gegenteil verkehrt wurden?“(S. 10) Er sucht Antworten auf die Fragen, wie ein Europa „für mehr Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität“, wie ein Neustart aus der aktuellen Misere aussehen könnte.
Eines der großen Probleme der EU sieht Hengsbach in einem „Schlammassel der Strukturen und Verfahren“, die kaum einer mehr durchschaut. Da sind zum einen das europäische Par-
lament, die Eu-kommission und der Ministerrat, zum anderen die verschiedenen Gipfel der Staatsund Regierungschefs und schließlich die zahlreichen völkerrechtlichen Verträge, die einzelne Mitgliedsländer untereinander geschlossen haben. Zwischen all diesen Institutionen herrschten Kompetenzgerangel, unklare Zuständigkeiten und Machtverhältnisse. „Im schleichenden Abschmelzen des politischen Profils der Union sehe ich die Ursache des Unbehagens, der inneren Distanz und Ablehnung eines großen Teils der Bevölkerung, die sich gegen einen monströs erscheinenden Apparat richtet, der von bürokratischer und finanzwirtschaftlicher Geschäftigkeit beherrscht wird“, schreibt der Autor. (S.105) Vehement kritisiert er auch Ideen eines Kerneuropas und eines Europas zweier Geschwindigkeiten. Insgesamt sind es fünf Themenfelder, die sich der Herausgeber näher ansieht: erstens die sozialen Schieflagen, die sich innerhalb und zwischen den Mitgliedsländern aufgetan haben; zweitens die Frage, ob die EU eine Sozialunion ist; drittens die Asylpolitik im Kontext der Parole „Wir schaffen das“der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel; viertens das Wirrwarr der Institutionen und Zuständigkeiten auf der Ebene der Europäischen Union; fünftens die Frage, wie nach dem Brexit-schock ein Neustart der EU aussehen könnte.
Sein Resümee lautet: Nur mit radikalem Umdenken ist der freie Fall der EU aufzuhalten. Konkret sollten sich die „erkennbaren Institutionen und Verfahren der EU (…) ernsthaft auf die Ebene der Nationen, Regionen und Lebenswelten der Bürgerinnen und Bürger ausrichten und sie beteiligen“(S. 121). Außerdem sollten sich die Eueliten nicht in eine erregte Rhetorik und Umtriebigkeit stürzen, sondern die Herausforderungen geduldig angehen. Eine Reform der Institutionen und Verfahren scheint für Hengsbach unvermeidbar. „Nur eine egalitäre Abstimmung großer und kleiner Länder kann bisherige Animositäten oder Rivalitäten ausschalten und den wechselseitigen Respekt festigen.“(S. 119)
Europa: Solidarität 114 Hengsbach, Friedhelm: „Was ist los mit dir, Europa?“Für mehr Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität! Frankfurt/m.: Westend-verl., 2017. 126 S., € 14,- [D], 14,40 [A] ; ISBN 978-3-86489-166-3
Europa und der Westen
Populisten feiern in Europa Erfolge, Diktaturen breiten sich aus, Demokratien geraten in die Krise. Was ist los mit der Wertegemeinschaft des sogenannten „Westens“? Diese Fragen diskutiert der italienische Historiker Luciano Canfora, Mitglied der „Partito di Comunisti Italiani“und engagierter Intellektueller der italienischen Linken. Er hat 2005 das äußerst kontrovers aufgenommene Buch „Kurze Geschichte der Demokratie“(nachzulesen auf www.perlentaucher.de) veröffentlicht. Nunmehr legt er mit diesem Büchlein eine ebenfalls umstrittene Einschätzung der zwei Utopien vor, die sich auf der Weltbühne gegenüberstehen, die der Brüderlichkeit und die des Egoismus. Genauer gesagt unternimmt er einen Ausflug in die Begriffsgeschichte des so genannten „Westens“und präsentiert neben einigen anderen, darunter auch unbekannten Autoren, zuallererst Voltaires Position dazu anhand zweier Artikel, die vor allem von einem Rezensenten auf „Correspondance Voltaire“heftigst kritisiert werden. (vgl. www.correspondance-voltaire.de) Abgesehen von Voltaire-zitaten fällt die Analyse über den Zustand Europas vernichtend aus. Canfora spricht davon, dass die EU die Utopie des Egoismus in einem Moment der Bewährungsprobe repräsentiert. (vgl. S. 82) Er bezeichnet Europa als monetäre Festung, die der „türkischen Diktatur, Türsteher und Rausschmeißer des Westens, Milliarden Euro“(S. 83) schenkt. Auf der anderen Seite der Utopie, jener der Brüderlichkeit, sind es die armen Regionen (Griechenland, Italien), die versuchen diese ins Werk zu setzen. Gleichzeitig erinnert Canfora daran, dass der sich selbst als frei, entwickelt und freizügig betrachtende Westen die afghanischen Taliban aufgerüstet hat, um den schon wankenden „realen Sozialismus“zu besiegen. War also alles vergeblich, so der streitbare Linke, von der „Bergpredigt“bis zur Einnahme der Bastille, von Luthers Thesen bis zur Befreiung von Saigon? Der Autor behauptet, die Geschichte verlaufe in Spiralen, und wir könnten nicht vorhersehen, welche neuen Mythen und neuen Begriffe sich in Zukunft noch einmal als Interpreten anbieten werden. „Wir können uns nur vorstellen, dass auch sie nicht auf Dauer herrschen werden: angesichts (…) eines schnellen und unaufhörlichen technologischen Wandels, der eilig jede Sicherheit wanken lässt.“(S. 91) Auch erinnert Canfora an eine Bemerkung Tocquilles, für den die Freiheit ein Ideal mit Unterbrechungen, die Gleichheit dagegen eine Notwendigkeit ist, „die immer da ist wie der Hunger“(ebd.). Europa: Wertegemeinschaft
115 Canfora, Luciano: Europa, der Westen und die Sklaverei des Kapitals. Köln: Papyrossa-verl., 2018. 107 S., € 9,90 [D], 10,20 [A]
ISBN 978-3-89438-663-4
„Das marktradikale Erbgut, das in den vergangenen 30 bis 40 Jahren weltweit die wirtschaftliche und politische Arena beherrscht hat, ist in die Konstruktion des Europäischen Binnenmarkts und der Währungsunion eingeflossen und hat dort große Schäden verursacht.“
(F. Hengsbach in 114 , S. 10)
Die ganze Geschichte
„Eine Pflichtlektüre für Europäer“– so übertitelte DIE ZEIT ihre Besprechung des Buchs „Die ganze Geschichte“. Darin beschreibt der Ökonom Yanis Varoufakis detailgenau seine Zeit als Kurzzeitfinanzminister Griechenlands und die Verhandlungen mit der sogenannten Troika. „Nein, die ganze Geschichte um die Auseinandersetzung um die Griechenlandhilfe im ersten Halbjahr 2015 ist das nicht“, meint die FAZ, die dennoch konstatiert, Varoufakis’plan sei „im Grundsatz realistisch“gewesen. Dieser sah eine nachhaltige Umschuldung Griechenlands durch neue Anleihen mit 30 Jahren Laufzeit vor, deren Zinsen an die Wachstumsraten gekoppelt werden sollten und deren Rückzahlung erst bei anhaltendem Wachstum einsetzen würde. Verbunden werden sollte dies mit einer „realistischen Fiskalpolitik“– Varoufakis plädierte für die Senkung von Unternehmenssteuer, um die Wirtschaft anzukurbeln, jedoch für eine strikte Eintreibung von Steuerschulden; Reformen, die die griechische Oligarchie ins Visier nahmen.
Sollte die Troika, die Gruppe aus Euro-finanzministern, EZB und IWF, diesen Plan nicht annehmen, würde „Plan B“in Kraft treten, den Varoufakis von einem Expertinnenteam ausarbeiten ließ. Um den erwartbaren politischen Widerstand gegen eine Umschuldung zu überwinden, würde die Syrizaregierung der drohenden Bankenschließung mit der Androhung eines „Haircuts“der griechischen Staatsanleihen begegnen, die die EZB von privaten Investoren aufgekauft hatte, um den griechischen Staat flüssig zu halten. Im Falle eines Grexit, den Varoufakis – anders als der ganz linke Flügel von Syriza und der deutsche Finanzminister Schäuble – keineswegs anstrebte, sollte eine vorbereitete Online-währung ausgegeben werden.
Varoufakis stützt sich auf mit seinem Handy aufgezeichnete Gespräche sowie seinen regen Emailverkehr. Deutlich wird in den protokollarisch wiedergegebenen Geschehnissen, dass durchaus praktikable Alternativen zur Austeritätspolitik als Bedingung für weitere Kredite (diese lehnte Varoufkais als Fortsetzung der Schuldknechtschaft strikt ab) zur Diskussion standen. Hinter den Kulissen herrschte keineswegs Einigkeit über die Ablehnung von Schuldenschnitten, die etwa der IWF befürwortete. Deutlich wird ebenso, wie fahrlässig die Kreditvergabe innerhalb der EU funktionierte und Griechenland auch Opfer der Kapitalmärkte wurde, die im Zuge der Finanzkrise die Zinsen in die Höhe trieben. So diente das erste „Rettungspaket“für Griechenland vor allem dafür, die drohenden Ausfälle deutscher und französischer Banken abzuwenden. Varoufakis’ Plan war der Versuch, die internationalen Gläubiger in die Pflicht zunehmen. Doch man wollte keinen Präzedenzfall schaffen – in Portugal stand ein Wahlsieg des Linksbündnisses Podemus in Raum, in Italien war die Staatsverschuldung gigantisch hoch. Zahlungsunfähigkeit gilt als rotes Tuch der Kapitalmärkte, da sie einem Eingeständnis gleichkommt, dass Schulden nicht immer zurückbezahlt werden.
Deutlich wird schließlich der Wandel der linken Partei Syriza, die mit dem Versprechen kein weiteres Spardiktat der EU mehr zu akzeptieren, die Wahl und dann sogar noch ein Referendum gewonnen hatte, sich letztlich aber doch dem Diktat der Gläubiger unterwarf. Manche sagen, unterwerfen musste, weil sonst die Banken schließen und der Geldverkehr zum Erliegen gekommen wäre. Varoufakis hätte es darauf ankommen lassen. Sein Buch gibt Auskunft darüber, dass die EU über keine kohärente gemeinsame Steuer-, Finanz- und Wirtschaftspolitik verfügt. Was weiters eine nicht unerhebliche Rolle spielte: persönliche Animositäten (etwa zwischen Merkel und ihrem Finanzminister, der Eu-kommission und der von Schäuble dominierten Gruppe der Euro-finanzminister), Heucheleien und Intrigen (etwa von Sozialdemokraten wie Gabriel oder Moscovici, die Syriza in Einzelgesprächen Unterstützung zusagten um dann in der Öffentlichkeit die Linie der Troika zu verfolgen). All das wirft kein gutes Licht auf die europäische Demokratie. Wichtiger noch sind grundsätzliche Fragen: wie es kommen konnte, dass leichtfertig Kredite vergeben wurden; warum Staaten immer stärker in die Abhängigkeit der Finanzmärkte geraten; wie die Schuldenökonomie des modernen Finanzkapitalismus überwunden werden kann; schließlich wie in einer Währungsunion mit Volkswirtschaften unterschiedlicher Produktivität verfahren werden soll und wie allzu ungleiche Zahlungsbilanzen unterbunden werden können, was John Meynard Keynes bereits nach 1945 gefordert hatte. Dabei ist zu fragen, ob eine Transferunion in Zeiten des zurückkehrenden Nationalismus überhaupt noch Realisierungschancen besitzt.
Diese Themen sind über den „Fall Griechenland“hinaus von Relevanz. Eine Eu-politik jenseits von Re-nationalisierung kann nur gelingen, wenn transnationale Konzerne und die Gewinner des Finanzkapitalismus in die Steuerpflicht genommen werden. In Griechenland sei dies, so ein bitteres Fazit von Varoufakis, letztlich gescheitert. Die Privilegien der Oligarchie bestehen offensichtlich weiter, die tatsächliche Erholung der griechischen Wirtschaft ist nicht in Sicht. Nachdem Ende August 2018 das dritte „Hilfsprogramm“auslief, ist
prozukunft 2018 | 4
„Dass ein europäisches Land, Teil des großen Experiments des Kontinents mit einer gemeinsamen Währung, am Ende wie eine Bananen republik herumgestoßen wurde, ist eine Anklage gegen eine Gemeinschaft, die angeblich auf dem Versprechen gemeinsamen Wohlstands und gegenseitigen Respekts gegründet wurde.” (Yanis Varoufakis in 116 , S. 64)