Transformationsforschung Konsum in der Leistungsgesellschaft
Eine kollektive Überforderung in unserer Leistungsgesellschaft sowie der Zusammenhang von Narzissmus, Macht und Unterwerfung sind Themen in diesem Kapitel. Außerdem geht es um die Transformation von Konsumgesellschaften und den Mut zur Faulheit. Hans
Holzinger hat sich umgesehen und bietet Einblicke.
Eine kollektive Überforderung in unserer Leistungsgesellschaft ortet der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer. Den Zusammenhang von Narzissmus, Macht und Unterwerfung untersucht die bekannte Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki. Das neue Jahrbuch Bildung für nachhaltige Entwicklung fordert auf zum Perspektivenwechsel und skizziert systemische Fallen. Die Chancen und Grenzen der Transformation von Konsumgesellschaften sind schließlich Thema des Nachhaltigkeitsökonomen Fred Luks, und das Philosophicum Lech plädiert für den Mut zur Faulheit. Hans Holzinger hat sich umgesehen und bietet Einblicke.
Raubbau an der Seeele
Was ist genug, fragt Wolfgang Schmidbauer in seinem neuen Buch „Raubbau an der Seele“. In den archaischen Kulturen des Hungers sei dieser Zustand einfach zu finden gewesen: „Wer satt ist, kann aufhören, nach Essbarem zu suchen. In den Zivilisationen aber dominiert der Wunsch nach Sicherheit und in ihm die Angst. Dieses Bedürfnis ist unersättlich.“(S. 23) Damit verweist der Psychoanalytiker auf die Dynamiken des Leisten-müssens und dessen Kehrseite, die Angst vor dem Versagen in der modernen Anspruchsund Optimierungsgesellschaft. Schon früh würden Kinder dazu angehalten, sich genügend anzustrengen, wenn sie „etwas werden wollen“. Dies setze sich fort im Erwachsenenalter, gefordert seien „ehrgeizige, tüchtige, allseitig funktionierende Individuen“(S. 25). Doch die menschliche Psyche mache hier nur bedingt mit, so eine zentrale These von Schmidbauer: „Seelische Ressourcen gehorchen den Grenzen der Ökologie: Sie regenerieren sich, wenn wir sie mäßig ausbeuten. Wenn aber die Grenze zum Raubbau überschritten wird, kippt das System, schon minimale Belastungen überfordern es.“(ebd.) Das Ergebnis kennen wir: Burnout.
Die Analogie zur Überforderung unserer Ökosysteme, dem Überschreiten der planetarischen Grenzen in der kapitalistischen Raubbaugesellschaft, liegt nahe. Schmidbauer spricht daher von der „Ökologie der Depression“und verweist dabei auf die Ambivalenz unseres Konsumwohlstands. Leistungserwartung werde kombiniert mit Verwöhnung, die Reglementierung gekoppelt mit dem schnellen Genuss in Form von Konsumhäppchen, was mittlerweile auch auf den Medienkonsum zutreffe. Dies macht für den Psychoanalytiker die ökologisch geforderte Begrenzung schwierig und erkläre auch die simplifizierenden „Welterlösungsversprechen“(S. 228) der neuen Rechten. An vielen Beispielen demonstriert Schmidbauer die Fallen der modernen Leistungsgesellschaft sowie ihren Optimierungswahn. Der stoischen Haltung, dass Probleme und Scheitern eben zum Leben dazu gehörten, sei die permanente Angst vor dem Versagen gewichen. Die Schuld am Scheitern werde dabei nicht mehr in gesellschaftlichen Umständen gesehen, sondern allein dem scheiternden Individuum zugeschrieben. Schmidbauer geht noch einen Schritt weiter, indem er auf die der Konsumgesellschaft korrespondierende Antwort auf psychische Probleme verweist, nämlich die rasant steigende Verschreibung von Psychopharmaka: „Man dringt nicht zur Wurzel des Übels vor und ändert dort etwas, sodass die Regeneration wieder eine Chance hat. Sondern man vermarktet mit hohem Aufwand und komplizierter Rhetorik ein Mittel gegen die Folgen.“(S. 25)
Wo liegen Auswege? Die Sehnsucht nach vorindustriellen Zeiten sei weltfremd, so der Psychologe und Therapeut, doch gehe es darum, den falschen Versprechen der Konsumgesellschaft zu entkommen. Er sieht es als Aufgabe der Politik an, die „destruktive Verführungskraft von Waren zu regulieren, welche Körper und Psyche der Menschen schädigen“(S. 229). Zudem müsse menschliche Arbeit neu definiert werden: es brauche wieder mehr manuelle, haptische Tätigkeiten, den Übergang in eine Gesellschaft, in der neben dem Erwerbsberuf auch die anderen Verrichtungen des Alltags wieder geschätzt würden („gerechte Verteilung von Berufsund Familienarbeit“, S. 237), außerdem schließlich die Abkehr vom permanenten Optimierungszwang bzw. die Fähigkeit, „sich von dem Lebensentwurf eines steten Aufstiegs zu verabschieden“(ebd.).
In seinem Buch „Helikoptermoral“, das sich dem Thema „öffentliche Erregung“widmet, plädiert Schmidbauer ebenfalls für Begrenzung, Entschleunigung und Abkehr von zu vielen Prothesengütern. Er problematisiert darin u.a. die zunehmende Neigung in der Wohlstandsgesellschaft, sich über alles Mögliche zu beschweren und Forderungen an „Verantwortliche“zu stellen. Anstatt die Welt durch noch mehr moralische Regeln und Erregungen komplizierter zu ma-
„Unser Ziel muss sein, nicht in Wut, Angst, Verweigerung und Resignation stecken zu bleiben, sondern Alternativen zu erarbeiten.“
(Bärbel Wardetzki in 144 , S. 159)
chen, müssten wir sie „wieder übersichtlicher, stabiler, durchschaubarer gestalten“(S. 144), so eine der Thesen. Gesellschaftskritik
142 Schmidbauer, Wolfgang: Raubbau an der Seele. Psychogramm einer überforderten Gesellschaft. München: oekom, 2017. 247 S., € 22,- [D], 22,70 [A] ISBN 978-3-96006-009-3
143 Schmidbauer, Wolfgang: Helikoptermoral. Hamburg: Murmann, 2017. 207 S., € 20,- [D], 20,60 [A] ISBN 978-3-946514-56-5
Narzissmus, Verführung, Macht
Die Frage, warum gerade narzisstische Persönlichkeiten sehr häufig in Führungspositionen gelangen und warum wir der Verführungskraft solcher Menschen häufig unterliegen, beantwortet Bärbel Wardetzki in ihrem Essay über „Narzissmus, Verführung und Macht“. Die Psychotherapeutin denkt dabei nicht nur an Politiker wie Trump, Putin oder Erdogan, sondern an die vielen, die in Ämtern, Unternehmen oder auch Familien ihre narzisstische Position ausnutzen. Und sie sieht eine Wechselwirkung am Werk: „Narzisstische Strukturen in unserer Gesellschaft unterstützen die Entwicklung narzisstischer Auswüchse, aber auch umgekehrt: Je narzisstischer die Führung in Politik und Wirtschaft, umso hoffähiger wird narzisstisches Gebaren.“(S. 14)
Was ist also problematisch am Narzissmus? Als Wesensmerkmal narzisstischer Menschen macht Wardetzki deren Unfähigkeit zur Empathie und deren Abgeschnittensein von der eigenen Identität aus. Das (Über-)leben narzisstischer Menschen hänge an deren „grandioser Fassade“(S. 15). Dabei unterscheidet sie „positiven“Narzissmus im Sinne eines gesunden Selbstwertgefühls von „negativem“bzw. malignem Narzissmus. Narzisstische Führung habe gerade in Krisenzeiten Hochkonjunktur und darin liege ihre Gefahr: „Sie punktet durch einfache Lösungen und lässt uns glauben, dass es allein an der eigenen Person läge, die Dinge wieder zurechtzurücken.“(S. 22) Personenkult und grandiose Rettungsvorstellungen endeten aber häufig in Großmachtphantasien. Schwindet der Rückhalt in der Bevölkerung, könne es zu Aufständen kommen: „Die letzte Rettung ist dann das diktatorische Verhalten.“(S. 23)
Wir lebten in einer Welt des „Alles-machbaren und des Besser-seins“(S. 27) – da schließt Wardetzki an Schmidbauer an –, und dies fördere das Auseinanderfallen von Sein und Schein. Es entstehe eine „Entleerung, die wir mit immer mehr Gütern auszufüllen suchen“(S. 28). Die Anhäufung von Macht oder Geld zerstöre dabei den Gemeinsinn. Widerstand dagegen werde gelähmt, solange sich die Ausgeschlossenen mit den Mächtigen identifizieren: „Die Narzissten werden zur Projektionsfläche für all die unerfüllten Sehnsüchte der Feigen, Ängstlichen, Vergessenen, Abgehängten.“(S. 38) Die Zugehörigkeit zu Gruppen wie Pegida wiederum habe eine selbstverstärkende Wirkung. Mithilfe der Gruppe und ihrer Ideologie werde das individuelle Selbstbild konstruiert, so Wardetzki: „Steht man auf der untersten Stufe in der Gesellschaft oder fühlt man sich zumindest so, muss man eine andere Gruppe finden, die noch weiter unten ist als man selbst. Dazu eignen sich Flüchtlinge und Zuwanderer aus anderen Nationen.“(S. 120) Dabei kreuzten sich die Ängste der Fremdenhasser mit denen der Migranten. Denn auch Flüchtlinge oder Asylanten fühlten sich entwertet, am Rande der Gesellschaft und als Opfer der Verhältnisse, was den gegenseitigen Hass schüre und der Radikalisierung auch unter diesen Gruppen Vorschub leiste. Auch der „Islamische Staat“verleihe jungen Menschen Omnipotenzgefühle und gleiche den Minderwertigkeitsstatus aus.
Was wären Antworten? Wardetzki plädiert für systemische Ansätze. Nicht Verurteilung und (weitere) Demütigung, sondern „Akzeptanz, Verstehen und Verständnis“(S. 125) seien gefragt. Sich ausgeschlossen und abgewertet fühlende Menschen müssten darin unterstützt werden, Spannungen auszuhalten. Spaltungsmechanismen, wie sie derzeit verstärkt auch in vormals offenen Gesellschaften Platz greifen, bergen nach Wardetzki ein gefährliches „destruktives Gewaltpotenzial“(S. 130). Es gäbe aber auch positive Effekte der Polarisierung: „Innerhalb der unterschiedlichen Lager rücken die Menschen, Parteien oder Staaten näher zusammen.“(S. 131) Zudem gäbe es auch „förderliche Macht“, die nicht auf Unterwerfung aus sei, sondern das „Wohl und die Interessen der Gemeinschaft“(S. 144) fördern wolle. Merkmale dieser positiven Macht: „Das große Ganze im Auge haben“, „Demut im Sinne von Sich-nicht-so-wichtig-nehmen“, „Dialog- und Kompromissbereitschaft“, „ein Selbstwertgefühl, das auch ohne Anhäufung von Macht, Bewunderung und Rampenlicht Stabilität besitzt“(S. 145f.).
Wardetzki schließt ihren Essay in diesem Sinne mit „drei Plädoyers“für ein starkes Selbstbewusstsein, für die Demokratie und ein einiges Europa sowie für die Gemeinschaft. Mit letzterer meint sie das gemeinsame Reden über Ängste ebenso wie das gemeinsame Suchen nach Lösungen; beides habe eine „beruhigende Wirkung“(S. 163).
Der am Ende der Ausführungen zitierte Satz von Jimi Hendrix „Wenn die Macht der Liebe über die Liebe zur Macht siegt, wird die Welt Frieden finden“, ist noch nicht die Lösung, aber er könnte die Richtung andeuten. Machtmissbrauch
144 Wardetzki, Bärbel: Narzissmus, Verführung und Macht in Politik und Gesellschaft. Berlin u.a.: Europaverl., 2017. 174 S., € 12,90 [D], 13,20 [A] ISBN 978-3-95890-234-6
Systemische Fallen
„Für Nationalistinnen ist Heimat das, was für Kosmopolitinnen das Klima ist: etwas Schützenswertes.“(S. 119) Damit beginnt der Klimageograf Mathis Hampel seinen Beitrag für das aktuelle „Jahrbuch BNE“des Forum Umweltbildung. Er spricht darin von der „globalen Co2falle“. Weil das Klima der Verortung entzogen und nur mehr als abstraktes, in Computermodellen berechnetes System behandelt und diskutiert wird, falle es schwer, so die zentrale These des Autors, politisch mit Klimaschutz zu punkten. „Der Klimawandel, eine im Kern ethische, ökonomische und vor allem demokratiepolitische Herausforderung, wurde als administrativ-buchhalterisches Co2-problem gedeutet: Wie können Emissionen bei gleichzeitiger Maximierung des Bruttoglobalprodukts (BGP) am effizientesten reduziert werden, um ein optimales Verhältnis zwischen BGP und Klimaschäden zu erreichen?“(S. 121) Für die Menschen sei „Klima“aber immer noch „das Wetter in unserer Erinnerung“(S. 124), das abstrakte 2-Gradziel schaffe es daher nicht, Mehrheiten für eine Klimaschutzpolitik zu mobilisieren. Und noch mehr: Rechte Populisten punkten nun mit der Leugnung des Klimawandels: „Sie sind den Klimaaktivistinnen einen entscheidenden Schritt voraus, denn sie ahnen, dass CO2 nie ein ausschlaggebendes Wahlmotiv sein wird.“(S. 125) Anders formuliert: Wegen der steigenden Co2konzentration in der Atmosphäre gehen wohl wenige auf die Straße, gegen weitere Flüchtlinge wären es derzeit wahrscheinlich viele.
Hier setzt der Philosoph Thomas Mohrs mit seinem Beitrag über die „Nahbereichsfalle“an. Wir seien eingeklemmt, so seine These, „in der Falle zwischen der Erblast unserer Nahbereichsprägung einerseits und der globalisierten Lebenswelt, die wir uns selbst geschaffen haben, andererseits“(S. 112). Auch wenn uns eine „langfristig kalkulierende Klugheitsethik“(ebd.) nahelegen würde, unseren Wirtschafts- und Lebensstil zu ändern, treffen wir unsere Entscheidungen nach anderen Kriterien: „Wir reden über Nachhaltigkeit und alle damit zusammenhängenden Probleme, sind uns der Dramatik der Situation durchaus bewusst, freuen uns aber, wenn unsere Kinder mit den Enkeln an Weihnachten von ihren leider so schrecklich fernen Wohnorten nach Österreich fliegen oder mit dem Auto fahren, um uns zu besuchen.“(ebd.) Mit dem Psychologen Kohlberg formuliert: Kognitiv seien wir auf der höchsten (sechsten) Moralstufe angelangt, praktisch handelten wir aber nach unseren Emotionen, Wünschen und Begierden (Stufe drei). Dazu komme das sogenannte „Yolo-argument“, die „You live once only“-haltung: „Wenn sowieso alles zu spät ist und die Titanic unweigerlich auf den Eisberg krachen wird, wieso dann nicht an der Bar und beim üppigen Buffet bleiben, solange es nur irgendwie möglich ist?“(S. 115) Mohrs Schlussfolgerung: Wir sind offensichtlich „unfit für Nachhaltigkeit“von unserer evolutionären Prägung her, die Chance bestünde daher allein darin, in Anbetracht dieses Befundes die richtigen Fragen zu stellen, was die genuine Aufgabe von Philosophie sei.
Eine weitere Barriere für den Wandel thematisiert der Erziehungswissenschaftler Hans Karl Peterlini, wenn er danach fragt, was Umwelt- und Friedenserziehung ausrichten sollen „in einer Welt, die von ihren ökonomischen und politischen Strukturen auf Konkurrenz, Konsum, Krieg ausgerichtet ist“(S. 94). Peterlini verweist dabei auf die nur „zögerlich umgesetzten oder boykottierten Maßnahmen zum Klimaschutz“ebenso wie auf die „zynische Kälte der europäischen Asylpolitik“oder die „ungenierte Profitbeteiligung am internationalen Waffengeschäft“(S. 95). Beiträge der Pädagogik zur Veränderung sieht der Autor lediglich in der „Erziehung zur Mündigkeit“nach Adorno. Notwendig sei hierfür eine „Akzentverschiebung vom Lehren des guten Lebens auf ein Umlernen im Gebrauch der Werkzeuge“(S. 97) nach dem Motto „Democracy cannot be taught, it only can be learned“, d.h. Demokratie könne nur in konkreter Praxis erfahren werden.
Das Jahrbuch bietet zahlreiche spannende Beiträge zur „Klimakommunikation“, auch solche, die weiterhin auf Aufklärung setzen, wie etwa das Bildungsportal www.klimafolgenonline-bildung.de, vorgestellt von Ines Blumenthal vom Potsdam-institut. Den Schlusspunkt setzt jedoch erneut ein ernüchterndes Interview des Jahrbuch-redakteurs Michael Schöppl mit dem Club of Rome-mitgründer Dennis Meadows, der für die Zukunft viel grö-
„Wir sind eingeklemmt in der Falle zwischen der Erblast unserer Nahbereichsprägung einerseits und der globalisierten Lebenswelt, die wir uns selbst geschaffen haben, andererseits. Was über den Nahbereich hinausgeht, ist uns – sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher und erst recht in sozialer Hinsicht – in aller Regel egal, es geht uns nichts an.“
(Thomas Mohrs in 145 , S. 112)
ßere Schocks prognostiziert als wir sie heute kennen. Seine Empfehlung lautet daher Anpassung an die neuen Verhältnisse im Sinne von Resilienz, ein Paradigmenwechsel, der in der Klimadebatte ohnehin bereits vonstatten gehe. Transformation
145 Perspektive wechseln. Jahrbuch Bildung für nachhaltige Entwicklung. Michael Schöppl (Red.). Wien: Forum Umweltbildung, 2018. 156 S., € 10,- [A, D] ; ISBN 978-3-900717-92-6
Ausnahmezustand
„Die Lage ist – für sich genommen und zugespitzt in räumlichen und zeitlichen Zusammenballungen und Verbindungen – kompliziert. Sie wird von vielen Menschen offensichtlich als sehr bedrohlich empfunden.“(S. 12) Damit beschreibt Fred Luks den „Ausnahmezustand“, so der Titel seines Buchs, in dem wir uns befänden – sozial, ökologisch und politisch. Populismus, Migration, Klimapolitik, Digitalisierung oder Verteilungsfragen nennt er als Stichworte. Die Paradoxie der Herausforderung bestehe nun darin, „unsere (westliche) Art zu leben gleichzeitig zu verteidigen und radikal zu ändern“(ebd.). Der Ausnahmezustand sei gekennzeichnet durch Zuspitzung, hohe Ereignisdichte und das Gefühl, „dass es so nicht weitergehen könne“(S. 16), der Erfolg des Populismus zumindest in Teilen als Antwort auf diese komplizierte Lage beschreibbar: „Er ist sozusagen Problemauslöser und Problemreaktion.“(S. 13) Luks bezieht sich dabei auf Autoren wie David Goodhart, der von einem „populistischen Aufstand“spricht, oder Ivan Krastev, der in der Migrationsfrage die zentrale Herausforderung für den europäischen Liberalismus sieht. Dazu kämen die ökologischen Bedrohungen, die bislang freilich keine „substanziellen politischen Reaktionen“(S. 21) gezeitigt hätten, und das stockende Wirtschaftswachstum, wiewohl dieses weiterhin als „zentrales Erfolgskriterium jeder Wirtschaftspolitik“(ebd.) angesehen werde.
Luks plädiert dafür, Denkverbote – auch unter den Linken – aufzubrechen, etwa durch offene Debatten über Migration und Versäumnisse eines elitären Kosmopolitismus. Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“nennt er dabei u.a. als Kronzeugen. Auch gibt Luks zu bedenken, dass die Erwartungen an die politische Steuerbarkeit von Gesellschaften häufig überzogen würden. Hier beruft er sich auf den Soziologen Armin Nassehi, ohne freilich all dessen Schlüsse zu teilen. Mit einem anderen Soziologen, Harald Welzer, teilt Luks die Wertschätzung von Pionierprojekten und positiven Zukunftsbildern: „Kleine Erfolgsgeschichten und große Zukunftsvisionen sind zentrale Faktoren für die Möglicheit(en) der Zukunft.“(S. 294) Eine entsprechende „Erwartungspolitik“, die auch den Kapitalismus groß gemacht habe, könne daher ein „Hebel für die Überwindung der aktuellen Krisen sein“(ebd.).
Das Spannungsverhältnis von (wirtschafts)liberalen Gesellschaften und den erforderlichen ökologischen Begrenzungen sieht Luks als zentrale Herausforderung. Wie in seinen früheren Büchern nähert sich der Autor dabei dem Thema assoziativ, indem er die Kapitel mit Überschriften nach dem Alphabet reiht – von „Anomalie“bis „Zukunftsbilder“. Das hat einen gewissen Charme, verführt aber auch dazu, zu möglichst vielen Aspekten etwas sagen zu wollen. Den eingeforderten Anspruch an einen seriösen Diskurs löst Luks leider dort nicht ein, wo er offensichtlich seine „Feindbilder“ausmacht, etwa in der „Gemeinwohlökonomie“von Christian Felber, der er „Esoterik, Kommandowirtschaft und Plebiszitpopulismus“(S. 37) vorwirft, oder den Freihandelskritikern, denen er Verschwörungstheorien nachsagt. Auch Abwertungen wie „Weltrettungstruppen“(S. 300) oder „Erlösung von den Erlösern“(S. 299) im Zusammenhang mit ökosozialen Basisbewegungen tun der Sache keinen guten Dienst. Luks ist belesen, das zeigt sein Buch. Unklar bleibt am Ende aber, was er selbst zur Auflösung der Paradoxie zwischen Liberalität und notwendigen Begrenzungen vorschlägt. Populismus
146 Luks, Fred: Ausnahmezustand. Unsere Gegenwart von A bis Z. Marburg: Metropolis, 2018. 379 S., € 28,- [D], 28,80 [A] ; ISBN 978-3-7316-1302-2
Mut zur Faulheit
Wir haben das Kapitel begonnen mit der Diagnose der erschöpften Gesellschaft. Schließen wollen wir mit einem Band des aktuellen Philosophicum Lech, das diesmal dem „Mut zur Faulheit“gewidmet war. „Wie wäre es, die soziale Anerkennung nicht den Müßiggängern und Faulen zu verweigern, sondern den Hektikern, Beschleunigern und Rund-um-dieuhr-erreichbaren?“(S. 17f.), fragt Herausgeber Konrad Paul Liessman provokant in der Einleitung zum Band. „Zu faul, um mitzumachen. Auch das könnte eine zeitgemäße Maxime sein“(S. 19), fordert er im Hinblick auf Trends wie den Konsumismus, die „überbordende Informationsflut“oder die sozialen Medien.
Gedanken wie diese könne sich nur ein Philosoph leisten, könnte man einwenden. In der Tat: die Bei-
„Wir müssen, wenn wir auch in Zukunft in Freiheit, Wohlstand und Frieden leben wollen, unsere Lebensweise mit allen Mitteln verteidigen – und gleichzeitig eben diese Lebensweise radikal verändern, wenn sie sozial, ökologisch und ethisch vertretbar und zukunftsfähig sein soll.“
(Fred Luks in 146 , S. 11)
träge des Bandes bewegen sich auf einem Niveau, das dem gegenwärtigen Wirtschaftsleben diametral entgegensteht. Und doch findet man wertvolle Anregungen. Ulrich Körtner etwa zeigt die Herleitung des modernen Berufs- und Arbeitsethos aus dem Calvinismus und aus Max Webers Denken auf. Er kommt dabei zum Schluss, dass Arbeit und Muße seit Beginn an zusammengedacht wurden, heute jedoch zwischen Beruf und „Job“unterschieden und Freizeit immer mehr als Aktivsein wahrgenommen werde. Aus ökonomischer Perspektive basiere der Sozialstaat auf Erwerbsarbeit, aus theologischer Sicht sei dies nicht so eindeutig: „Die Würde des Menschen und das Recht auf Leben bestehen unabhängig von allen Leistungen. Arbeit ist bestenfalls das halbe Leben.“(S. 47)
Nassima Sahraoui plädiert angesichts der Hyperproduktivität und permanenten Beschleunigung im modernen Kapitalismus für eine „Philosophie der Faulheit“(S. 69). Ausgehend von Marx‘ Diktum „Reichtum ist verfügbare Zeit und sonst nichts – wealth is disposable time and nothing more“fordert sie die „Verfügbarmachung von Zeit“als Wohlstandsziel. Dabei gehe es nicht um passive Trägheit, sondern um eine notwendige Bedingung für die Entwicklung innerer Potenziale. Das Sich-zurücknehmen aus ökonomischen Zwängen könne so als „Moment der Tätigkeit in Untätigkeit, als aktives Moment im Inaktiven gelesen werden.“(S. 88) Der Soziologe Stephan Lessenich fokussiert in seinem Beitrag auf den von Daniel Bell in den 1960erjahren diagnostizierten und auch befürchteten Paradigmenwechsel von der „industriellen Leistungszur postindustriellen Spaßgesellschaft“(S. 170), in der nicht mehr ehrliche Leistung, sondern „anstrengungsloser“Erfolg zähle. Dem setzt Lessenich den „neosozialen Geist des Kapitalismus“(S. 173) im Kontext des „aktivierenden Sozialstaats“ab den 1980er-jahren entgegen. Selbst-verwirklichung sei in dieser Lesart umgedeutet worden zur Selbst-aktivierung: Das Soziale werde somit privatisiert bzw. subjektiviert, „zum Gegenstand selbstdisziplinierender Selbstverwirklichung des Aktivbürgers erklärt“(S. 176). In diesem Sinne müsse nicht nur vom neuen Geist des Kapitalismus, sondern könne auch von einem neuen „Geist des Laboralismus“(S. 178) gesprochen werden.
Sophie Loidolt erinnert an Hannah Arendts „Vita activa“und deren Dreiteilung in „Arbeit“– verstanden als Verrichten der alltäglichen Erledigungen im Haus –, „Herstellen“von Dingen in der Welt der Produktion sowie „Tätig-sein“als politisches Handeln. Die Logik von „Produzieren“, „Konsumieren/vernichten“und „Mehrwert“(S. 134) sei nun zum bestimmenden Maßstab des Kapitalismus mit all seinen ökologischen Folgen geworden und habe mit dem Herstellen der zum Leben nötigen Güter nur mehr bedingt zu tun, so Loidolt. Und Politik werde nicht mehr verstanden als „Sorge um die Welt“in einem „existenziellen Grundverhältnis des aktiven Selbstseins mit anderen“(S. 135), wie Arendt gemeint habe, sondern als pragmatische „Haushaltsorganisation“, „Kommunikationsstrategie“, „Selbstvermarktung“der politischen Akteure – und vor allem als „Aufgabe von denen da oben“. Freiheit bedeute in diesem Sinne „eher Freiheit von Politik als zu Politik“. Sinn suche das „animal laborans“der Konsumgesellschaft in der Zerstreuung, während es Arendt bei sinnvollem Tätigsein „um die Welt“gegangen sei (S. 137). Weitere Beiträge widmen sich dem Thema „Konsum als Arbeit“, bekannt auch als Ikea-prinzip (Wolfgang Ullrich), sowie einer ebenfalls aus Skandinavien stammenden neuen Lebensform namens „Hygge“, die – so der Leiter des Goethe-instituts Warschau Christoph Bartmann – auf einer pragmatischen Einstellung basiere: „Beschränkung ohne Verzicht, Einfachheit ohne Askese, Komfort ohne Aufwand“(S. 221), was ebenso dem propagierten Lifestyle von IKEA zugeschrieben werde.
Einen politisch pragmatischen Kontrapunkt zu den philosophischen und sozialwissenschaftlichen Ausführungen setzt schließlich der österreichische Arbeitsrechtler und Berater verschiedener österreichischer Regierungen, Wolfgang Mazal. Anders als manche prognostizieren, würde auch trotz Digitalisierung die Arbeit nicht ausgehen, so seine Meinung. Der demografische Wandel erfordere das Füllen der demografischen Lücke am Arbeitsmarkt, die alternde Gesellschaft werde zudem zu bedeutend größerem Betreuungsaufwand führen. Mazal plädiert für einen erweiterten Arbeitsbegriff, der Sorgetätigkeiten aufwertet, und – als Sofortmaßnahme gegen Arbeitslosigkeit – für den Abbau von Überstunden. Allein für Österreich beziffert der Autor jährlich gut 200 Millionen geleistete Überstunden, die etwa 200.000 Vollarbeitsplätzen entsprächen. (vgl. S. 201)
Die gegenwärtige Konsumgesellschaft ist keineswegs der Endpunkt kultureller Entwicklung, das Leistungsethos in seiner Ambivalenz alles andere als überwunden – so ließe sich der Band zusammenfassen. Leistungsethos
147 Mut zur Faulheit. Die Arbeit und ihr Schicksal. Philosophicum Lech. Hrsg. v. Konrad P. Liessmann. Wien: Zsolnay, 2018. 270 S., € 22,- [D], 22,60 [A] ISBN 978-3-552-05889-7
„In dem Maße, in dem die Arbeit verschwindet oder zumindest ihren Charakter verändert, müssen die Fragen des guten Lebens und die Organisation des Zusammenlebens neu gestellt werden.“
(Paul Liessman in 147 , S. 15)