Was diskutiert Frankreich
Griechenland wieder auf Kredite des Finanzmarkts angewiesen. Die Schuldenlast könne jedoch, sagt selbst der IWF, nur geschultert werden, wenn die Zinsen moderat und die Laufzeiten lange sein werden. So wird das Problem vor sich hergeschoben. Schuldenkrise: Eu-politik
116 Varoufakis, Yanis: Die ganze Geschichte. Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment. München: Kunstmann, 2018. 661 S.,
€ 30,- [D], 30,90 [A] ; ISBN 978-3-95614-202-4
Entzauberte Union
Ebenfalls kritisch mit der Europäischen Union setzt sich ein Band von Attac Österreich auseinander, in dem unterschiedliche Politikbereiche der EU analysiert werden. Zur Sprache kommen in diesem Buch Agrarpolitik (Carl Weinzierl), Flüchtlingspolitik (Fabiane Baxewanos), Gleichstellungspolitik (Elisabeth Klatzer, Christa Schlager), Handelspolitik (Alexandra Strickner), Lohnpolitik (Markus Koza), Militärpolitik (Thomas Roithner), Sozialpolitik (Christine Mayrhuber), Steuerpolitik
(David Walch) sowie Umwelt- und Klimapolitik
(Manuel Grebenjak, Michael Torner).
Exemplarisch sei auf die Beiträge zur Eu-finanzmarktund Geldpolitik eingegangen. Peter Wahl,
Mitbegründer von Attac Deutschland, beschreibt die Eu-verträge als Ausdruck einer „Kapitalunion“. Mit dem freien Kapitalverkehr sei in die rechtliche Konstruktion der EU von vornherein eine „grundlegende Asymmetrie“eingebaut: „Kapitalinteressen, und hier an erster Stelle die des Finanzkapitals, werden systematisch und rechtlich privilegiert und quasi in den Verfassungsrang erhoben, während andere Interessen demgegenüber zurückstehen müssen.“(S. 39) Wahl pointiert: „Die Wirtschaftsverfassung der EU ist ein Mechanismus zur Verhinderung emanzipatorischer Finanz-, Wirtschaftsund Sozialpolitik.“(S. 40) Die völlige Deregulierung der Eu-finanzmärkte habe die Finanzkrise von 2008 mitbefeuert, den Renditedruck auf die Wirtschaft erhöht und die öffentlichen Haushalte belastet: „Die Steuersysteme wurden an die Kapitalinteressen angepasst – mit dem Resultat, dass der Finanzsektor generell unterbesteuert und die öffentliche Hand chronisch unterfinanziert ist.“(S. 41) Neben einer strikten Regulierung der Finanzmärkte plädiert Wahl dafür, über Alternativen zum Euro nachzudenken, etwa einen Nord- und Süd-euro, der den Südländern die Abwertung ihrer Währung erlaubte ohne erneut Währungsspekulationen Vorschub zu leisten, oder durch Kontrakte im Rahmen der Europäischen Währungsunion wie
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sie etwa mit Dänemark bestehen, das den Beitritt zum Euro per Volksentscheid abgelehnt hatte. Der Ökonom Stefan Ederer konzediert, dass der Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB in großem Umfang im Gefolge der Finanzkrise 2008 die Kapitalmärkte beruhigt habe, problematisiert aber, dass dies rechtlich nur auf dem Umweg über private Finanzinstitutionen möglich war, „die damit gute Geschäfte machten“(S. 53). Eine bedingungslose Garantie für Staatsanleihen, wie sie in den USA oder Großbritannien (zumindest implizit) selbstverständlich sei, fehle im Euroraum nach wie vor. Damit seien „spekulative Angriffe auf Staatsanleihen und die daraus resultierenden Staatsschuldenkrisen weiterhin vorprogrammiert“(ebd.). Ederer, der die unrühmliche Rolle der EZB in der Griechenlandkrise ebenfalls kritisiert, fordert „öffentliche Finanzinstitute, die sich auf die eigentlichen Kernaufgaben von Banken beschränken“(S. 55) sowie die Redimensionierung der Großbanken. Eu-mitgliedstaaten könnten ihre Abhängigkeit von den Finanzmärkten verringern, indem sie „ihre Einnahmenbasis – beispielsweise durch Steuern auf immobiles Vermögen – verbreitern.“(ebd.) Im zweiten Teil des Bandes werden Konsequenzen aus den Analysen sowie Strategien für ein solidarisches und soziales Europa diskutiert. Ein Thema ist die Abgrenzung emanzipatorischer Eu-kritik vom Nationalismus der Rechten. Joachim Becker, Außenwirtschaftsexperte der WU Wien, meint pointiert: „Wer glaubt, die EU wäre die Antwort auf die Rechte, hat schon verloren“(S. 145). Becker sieht die EU vor dem Zerfall, ähnlich jenem der Sowjetunion und Jugoslawiens in den 1990erjahren. Eine Reformierung ist für ihn nicht möglich, es gehe lediglich darum, „Spielräume für eine stärker sozial und ökologisch ausgerichtete Politik zu gewinnen“(S. 145), die auf unterschiedlichen Politikebenen anzustreben seien. Wie diese aussehen können, zeigen Lisa Mittendrein von Attac und Etienne Schneider in ihren Vorschlägen für „strategischen Ungehorsam“. Neben bestehenden Freiräumen für Staaten und ihre Gebietskörperschaften gegenüber dem strengen Wettbewerbsrecht in den Bereichen Umwelt und Öffentliche Beschaffung plädieren sie auch für bewusste Vertragsüberschreitungen, um politisch Druck zu erzeugen – etwa durch Rücknahme der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen.
Zukunftspotenziale werden in der Vernetzung lokaler und regionaler Initiativen gesehen, etwa in den Ttip-freien Kommunen, den Initiativen für Ernährungssouveränität oder den Bewegungen eines „Munizipalismus“, die Selbstorganisation und Demokratie von unten praktizieren, dabei auch lokale Wahlbündnisse bilden wie etwa in Barcelona oder Madrid. Es handele sich hier, so Manuela Zechner, um einen Ansatz, „Politik im Alltagsleben und Umfeld der Menschen zu verankern“, also „demokratische Politik jenseits des Nationalstaats zu denken“(S. 243). Diese Re-lokalisierung sei auch die beste Strategie gegen den rechten Nationalismus, so Bue Rübner Hansen von der Universität Aarhus: es geht darum, neue Formen zu entwickeln, „um Solidarität zu bilden, die den Menschen Vertrauen zu einander gibt“(S. 251).
In den abschließenden „zehn Vorschlägen, wie wir in die Offensive kommen“der Herausgeberinnen geht es neben einer „gemeinwohlorientierten Finanzwirtschaft“um eine „Glokalisierung der Wirtschaft“, um „Ernährungssouveränität“und „Energiedemokratie“, die Ausweitung der Commons, eine „menschengerechte Arbeit“sowie eine „umfassende Demokratisierung“(S. 255ff.).
Europa: Kritik 120 Entzauberte Union. Warum die EU nicht zu retten und ein Austritt keine Lösung ist. Hrsg. v. Attac. Wien: Mandelbaum, 2017. 271 S., € 15,- [A, D]
ISBN 978-3-85476-669-8
Eu-grenzschutz-politik
Wenn man die EU an den von ihr propagierten Idealen misst, ist die Flüchtlingspolitik kein Ruhmesblatt. Die Aussage, dass der freie Personenverkehr einen gemeinsamen Grenzschutz braucht, ist nachvollziehbar. Dass der Migrationsdruck auf Europa zunimmt, wissen wir nicht erst seit dem Krieg in Syrien. Eine stark wachsende Bevölkerung in den Staaten Afrikas, verschärfte Umweltkonflikte, auch steigende internationale Mobilität aufgrund ökonomischer Entwicklung (das wird meist übersehen) führen zu mehr Migration (wer ganz arm ist, kann sich Auswanderung gar nicht leisten). Christian Jakob und Simone Schlindwein von der Berliner taz beschreiben in ihrem Buch „Diktatoren als Türsteher Europas“detailliert, wie die Staaten der Europäischen Union seit Jahrzehnten daran arbeiten, diesen Migrationsdruck aufzuhalten und sich gegenüber dem afrikanischen Kontinent abzuschotten. Nicht nur über den Ausbau der eigenen Grenzschutzeinheiten durch Frontex wird berichtet, auch über die immer stärkere Kopplung von Entwicklungszusammenarbeit an die Bereitschaft der Regierungen der Empfängerländer, Migration zu unterbinden. Die Ausrüstung der Staaten an den Flucht- bzw. Wanderrouten mit modernen Überwachungsund Sicherheitsinfrastrukturen wird als „Entwicklungshilfe“deklariert. Zusammenarbeit mit Diktatoren – darauf verweist der Titel des Bu-
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„Die aktuelle Eudebatte wird von der Polarisierung zwischen ‚pro-europäischen‘ und ‚europafeindlichen‘ Kräften dominiert. Doch diese allgegenwärtige Inszenierung ist ein geschicktes Manöver, um von sozialen Fragen und der Verteilung zwischen Arm und Reich abzulenken.“(Attac Österreich in 120 , S. 10)
ches – wird vor den Schutz der Menschenrechte gestellt, kritisieren die Autoren.
Jakob und Schlindwein haben genau recherchiert und verfügen als Journalistinnen über zahlreiche Informationsquellen. Sie zeichnen die Anstrengungen der Regierungen der wohlhabenden Eustaaten nach, sich gegen den befürchteten Ansturm an Migrantinnen zu wappnen. Dass das lukrative Geschäft mit dem Schlepperunwesen unterbunden gehört und eine Politik des alleinigen „Grenzen auf“keine Lösung ist, steht auch für die beiden Autorinnen außer Frage. Sie plädieren jedoch dafür, strukturelle Hemmnisse für Entwicklung, etwa unfaire Handelsabkommen oder Eu-agrarexportförderungen, die in Afrika lokale Märkte zerstören, abzustellen und legale Fluchtkorridore und Migrationsprozesse zu ermöglichen. Deutlich wird, dass in Afrika Migration als Entwicklungschance wahrgenommen wird, während die reichen Eu-staaten Wohlstandsmauern errichten. Die Menschen vor Ort bräuchten keine Hightech-zäune, die sie einsperren, sondern die Möglichkeit, ihre Lebenssituation zu verbessern, so die Autorinnen. Migration sei eine der Möglichkeiten. Immerhin übersteigen die Rücküberweisungen von Migrantinnen in ihre Herkunftsländer die Entwicklungshilfezahlungen um ein Mehrfaches. Das Autorenduo schließt sein aufrüttelndes Buch daher wie folgt: „Von geschützten Grenzen und der Öffnung der Märkte träumt die EU. Von geschützten Märkten und offenen Grenzen träumt Afrika. Solange dieses Interessensdilemma nicht gelöst ist, wird es keine echte Partnerschaft geben.“(S. 261)
Europa: Migrationspolitik 121 Jakob, Christian; Schlindwein, Simone: Diktatoren als Türsteher Europas. Wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert. Berlin: Ch. Links, 2017. 317 S., € 18,- [D], 18,50 [A] ; ISBN 978-3-86153-959-9
„Der Kampf gegen Armut als Bekämpfung irregulärer Migration – das ist das neue Paradigma der Entwicklungszusammenarbeit.“(Jakob/schlindwein in 121 , S. 159)
nen raffinierten Mechanismus gemacht, der Kritik ins Leere laufen lässt. (vgl. S. 48)
Schwer wiegt die eigene Zerrissenheit der Chinesen. Durch das rasante Wachstum seit 1990 ist das Land einer der zentralen Akteure der wirtschaftlichen Globalisierung geworden. Heute sind fast 300 Millionen Wanderarbeiterinnen am Aufschwung beteiligt, die wenigsten von ihnen mit Arbeitsverträgen, die meisten nahezu rechtlos und getrennt von ihren Familien. (vgl. FAZ v. 12/2017) Nicht zuletzt deshalb fühlen sich immer mehr Menschen inmitten der Globalisierung fremd im eigenen Land. (vgl. S. 139) Da kommt der lange verpönte Konfuzianismus als Quelle der Sinngebung gerade recht. „Die Kommunistische Partei fördert die Belebung der Tradition auf verschiedenen Ebenen, gleichzeitig aber warnt sie davor.“(S. 90) Was den Marxismus betrifft, scheint dieser zu einem Gehäuse mutiert zu sein, „in dem sich so ziemlich jede Art Politik unterbringen lässt, solange sie nur als Einheit der Gegensätze unter dem Dach einer autoritären Partei interpretiert werden kann – und insofern auch als Gegenmodell zu westlichen Demokratien taugt“(S. 93). Der vom Westen insgeheim für unumkehrbar gehaltene Trend zu mehr Liberalismus, Demokratie und Gewaltenteilung in einer durch die Marktwirtschaft immer pluralistischer werdenden Gesellschaft hat sich offensichtlich nicht erfüllt. Hingegen lockt das „Reich der Mitte“als der größte Markt der Welt. Der Umgang mit China wird wohl auch in absehbarer Zukunft schwierig bleiben. Eine gemeinsame Strategie der Europäer ist nicht in Sicht. Systemkritik
122 Siemons, Mark: Die chinesische Verunsicherung. Stichworte zu einem nervösen System. München: Hanser, 2017. 192 S. (Ed. Akzente)
€ 22,- [D], 22,70 [A] ; ISBN 978-3-446-25537-1
Freundliche Übernahme
Wie der Titel vermuten lässt, ist China auf Einkaufstour – nicht nur in Afrika, sondern auch in Europa. Seit der Wirtschaftskrise 2008 wurden wichtige Unternehmen in Europa im großen Stil aufgekauft. Wie intensiv und folgenreich China hierzulande investiert, davon berichten Juan Pablo Cardenal und Heriberto Araújo.
Nach wie vor bestehen ungleiche Investitionsbedingungen: Restriktionen in China und offene Märkte in Europa. Nicht nur die Autoren meinen deshalb, man müsse die chinesischen Aktivitäten in Europa genauer in den Blick nehmen, ja vielleicht auch strenger kontrollieren. Ein erstes Wachrütteln fand im Herbst 2017 statt, als der damalige deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel überraschend die Übernahme des deutschen Elektroniktechnikunternehmens Aixtron durch einen chinesischen Investor gestoppt und im gleichen Atemzug faire Investitionsbedingungen gefordert hatte.
China stürzt, so die Autoren, die westliche Welt in ein echtes Dilemma. „Wie soll man mit einem Land umgehen, das nicht nur autoritär regiert wird, sondern finanziell übermächtig ist und über die am rasantesten wachsenden Zukunftsmärkte verfügt?“(S. 11) Fakt ist, dass China seit der Finanz- und Wirtschaftskrise gewaltig an Macht gewonnen hat. Das Engagement sei vielfältig, berichten Cardenal/araújo und reiche vom Erwerb von Anteilen in strategischen Sektoren über den Ausgleich von Staatsschulden bis hin zu Investitionen in hochwertige Technologien oder bankrotte westliche Unternehmen. In den Entwicklungsländern engagiert sich Peking ohnehin seit anderthalb Jahrzehnten, um seinen Bedarf an Rohstoffen für einen Markt mit 1,4 Mrd. Menschen zu sichern, Infrastrukturen zu finanzieren und aufzubauen. China nimmt längst jede Chance wahr, die sich bietet: darunter millionenschwere Übernahmen im Energiesektor und von Bergwerken in Kanada sowie Australien, die Kontrolle über den wichtigsten Hafen im östlichen Mittelmeer oder den Erwerb kleiner Betriebe und mittelständischer Unternehmen in Deutschland, die dank ihrer hochentwickelten Technologie in Nischenmärkten weltweit führend sind. Außerdem hat das „Reich der Mitte“mithilfe von Finanzspritzen „europäische Automobilhersteller gerettet, die in Bedrängnis geraten sind oder Konkurs angemeldet haben“(S. 12f.).
Die Gesamtsumme der Investitionen Chinas in Europa innerhalb des letzten Jahrzehnts beträgt laut der konservativen Us-denkfabrik „Heritage Foundation“60 Milliarden Dollar. Insgesamt hat China von 2005 bis Ende 2014 mehr als 257 Milliarden Dollar in Europa, Nordamerika und Australien investiert. Bei allen positiven Effekten dieses Engagements sprechen Cardenal/araújo davon, dass die auf die Märkte strömenden Unternehmen zum größten Teil Staatsunternehmen sind und es deshalb auch die Einflussmöglichkeiten zu bedenken gilt, die der chinesische Staat auf unsere Regierungen und Gesellschaften in Zukunft nehmen wird.
Auf dem internationalen Parkett gebärdet sich China zunehmend arrogant, wie die Autoren berichten. Ein Treffen mit dem Dalai Lama hatte zur Folge, dass die diplomatischen Beziehungen zwischen China und Großbritannien für anderthalb Jahre auf Eis gelegt wurden. Ähnliches passierte Norwegen, nachdem im Jahr 2010 der Friedensnobelpreis an einen bekannten chinesischen Dissidenten verliehen wurde. Im Gro-
„Wenn der Glaube an den Marxismus zugleich eingefordert und durch einen immer weiter forcierten Kapitalismus täglich unterlaufen wird, wie soll man ihn dann überhaupt in der Geschichte des Kommunismus unterbringen, mit der sich Europa auskennt?“(Mark Siemons in 122 , S. 21)
ßen und Ganzen kennzeichnet aber nach Einschätzung von Cardenal/araújo der „Kotau“, das Ritual zu Kaiserzeiten, sich vor dem Herrscher niederzuwerfen und zu erniedrigen, den heutigen Umgang westlicher Politiker mit den kommunistischen Führern. In jedem Fall fordert der Aufstieg eines autoritären Chinas die verbindlichen internationalen Normen und auch unsere demokratischen Gewohnheiten heraus, sind beide überzeugt. Ökonomie
123 Cardenal, Juan Pablo; Araújo, Heriberto: Freundliche Übernahme. Chinas Griff nach Europa. München: Hanser, 2017. 349 S., € 26,- [D], 26,80 [A] ISBN 978-3-446-25500-5
Chinas neue Seidenstraße
China hat das Großprojekt „Neue Seidenstraße“2013 durch Staatspräsident Xi Jinping verkündet. Für umgerechnet 113 Mrd. Euro soll die Infrastruktur für neue Handelsrouten nach Europa, Asien und Afrika geschaffen werden. Skeptikerinnen warnen davor, dass die Volksrepublik damit den Einfluss auf die Weltwirtschaft ausweiten will. Die Autoren, allesamt promovierte Hochschullehrer, meinen, dass viele „Beobachter im Westen befürchten, dass mit der neuen Seidenstraße eine Entwicklungsdiktatur der Chinesen exportiert werden soll“(S. 150). Bisher haben sich dessen ungeachtet mehr als 100 Länder und 30 Anrainerstaaten der Seidenstraßen-initiative angeschlossen. Nach offizieller chinesischer Lesart ist es „die global größte, praktisch begonnene Entwicklungsinitiative zur Veränderung des Zivilisationszustandes“(S. 159).
Die Vision einer neuen Welthandelsroute in Anlehnung an die historische Seidenstraße ist zentraler Bestandteil der chinesischen Neuorientierung im freien Welthandel. Dabei geht es um eine äußerst ambitionierte Verbindung durch Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan und den Iran. Gedacht ist dabei aber auch an eine Ausdehnung des Seehandels durch maritime Routen. China selbst spricht dabei von wechselseitigen Vorteilen, Wirtschaftswachstum und Aufschwung. „Dass die Sicherung der großen Öl-, Edelmetall- und Gasvorkommen sowie sonstigen Rohstoffe in Zentralasien ein weiteres wesentliches Motiv darstellen“(S. 9), liegt für die Autoren auf der Hand.
In weiterer Folge geht es detailliert um die Dimensionen der „One Belt One Road“-initiative (OBOR), deren Verlauf und strukturelle Herausforderungen zu Lande und an den Küsten auf dem Seeweg. Finanziert werden soll das Projekt durch die Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) mit Sitz in Peking. Neben diesem Mammut-projekt steht China aber unverändert
schenrechtsverletzungen, am Umgang mit Anwältinnen, Journalistinnen und Dissidentinnen in allen westlichen Ländern in Grenzen hält (siehe die Anmerkung über den „Kotau“Rez. Nr. ). In China selbst sind ohnehin die persönliche Karriere, das familiäre Glück und regierungsseitig gewährte Reisemöglichkeiten wichtiger als Freiheit und Demokratie oder ein nicht zensiertes Internet. (vgl. S. 159) Abschließend halten die Autoren fest, dass es gerade „in Zeiten großer Verunsicherung hinsichtlich des weiteren Fortschritts im Freihandel und der Globalisierung“geraten sei, aktiver über neue Formen der globalen Kooperation nachzudenken. (S. 151) Diesbezüglich bleibt festzuhalten, dass die EU eher getrieben als agierend wirkt. Den Europäerinnen fällt es mangels oder gescheiterter eigener Ideen sowie vor allem interner Herausforderungen offensichtlich schwer, „über den eigenen Schatten zu springen und der Initiative jene Dimension zuzuerkennen, die sie international zunehmend gewinnt“(ebd.). Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat bei seinem China-besuch Anfang 2017 allerdings eine europäisch-chinesische Zusammenarbeit beim Aufbau der neuen Seidenstraße beschworen und betont, dass eine Straße per Definition nur gemeinsam genutzt werden kann. Im Mai 2017 gab die Deutsche Bank das Versprechen, gemeinsam mit der China Development Bank in den kommenden fünf Jahren drei Milliarden Dollar für Infrastruktur auf der „Neuen Seidenstraße“zu investieren. (vgl. FAZ online v. 31.5.2017) Schön langsam scheint Europa aufzuwachen. Gleichzeitig warnen Autoren der Berliner Denkfabriken „Mercator Institute for China Studies“(Merics) und „Global Public Policy Institute“(GPPI) vor „Chinas rasant zunehmenden Bemühungen um politischen Einfluss in Europa“(F. Böge: Lohnende Ziele für Pekings Propagandaapparat. FAZ, 6.2.2018, S. 3), die eine ernstzunehmende Herausforderung für liberale Demokratien sowie Europas Werte und Interessen darstellen. Wie der Westen diesen Bestrebungen begegnen wird, bleibt eine spannende Frage. Welthandel
127 Hartmann, Wolf D.; Maennig, Wolfgang; Wang, Run: Chinas neue Seidenstraße. Kooperation statt Isolation. Der Rollentausch im Welthandel. Frankfurt/m.: Frankfurter Allgemeine, 2017. 214 S., € 19,90 [D], 20,50 [A]
ISBN 978-3-95601-224-2
Wachablöse
Mit Vorbehalt habe ich das im Verlag der „Team Stronach Akademie“publizierte Büchlein der neuen, von der FPÖ berufenen österreichischen Außenministerin Karin Kneissl zur Hand genommen. Bedenken sind durchaus angebracht ob der Frage, was eine ausgewiesene Nahostexpertin für ein Ministeramt auf Vorschlag dieser Partei qualifiziert. Es waren wohl Aussagen Kneissls zur Flüchtlingskrise und zur berüchtigten Kölner Silvesternacht sowie in früher publizierten Büchern (z.b. „Testosteron macht Politik“, 2012), in denen sich die studierte Arabistin als „Expertin für Geopolitik“einen Namen machte und Flüchtlinge immer wieder als „Testosteronbomben“bezeichnete.
„Europa steht am Abstellgleis“(S. 5), ist Karin Kneissl überzeugt. Die globalen Machtverhältnisse und Einflusssphären verschieben sich gerade. Das bevölkerungsreichste Land der Welt schickt sich an, in jenes Vakuum vorzustoßen, das ein nur mit sich selbst beschäftigtes Europa und eine auf Rückzug bedachte USA preisgeben. China geht längst in Afrika und im Mittleren und Nahen Osten diplomatisch und wirtschaftlich in die Offensive und das Projekt „Neue Seidenstraße“(siehe Nr. 127 ) ist wohl weit mehr als nur das Tor Richtung Westen für den größten Energieimporteur der Welt. „Denn die Wirtschaftsmacht China sieht sich zusehends wieder in der Rolle des imperialen ‚Reichs der Mitte‘, das zivilisatorisch dem Rest der Welt überlegen ist“(S. 10), so Kneissl. Auch ihre Einschätzung, dass sich die geopolitischen Gewichte zunehmend vom Atlantik zum Pazifik verschieben und der Westen (Europa) keine Strategie hat, wie damit umzugehen sei, trifft zweifellos zu. Wirtschaftlich ist das Land mit seinem kommunistischen Kapitalismus längst zum Global Player geworden. Ohne China, ist die Autorin überzeugt, geht heute im weltweiten Rohstoffhandel und in der internationalen Energiepolitik nichts mehr. Es sagt wohl einiges aus, „wenn Funktionäre der chinesischen Kommunistischen Partei der Us-delegation in einer Konferenz der G20 [2017 beim G20 Treffen in Baden Baden, Anm. d. Red.] die Vorzüge des Freihandels erläutern müssen“(S. 91).
Politiker und Medien tun sich in der Tat schwer mit der richtigen Einschätzung der Lage, wie Österreichs oberste Diplomatin kritisiert. Derzeit scheint es, als ob der Höhenflug Chinas nur von internen Problemen wie der frühzeitigen Vergreisung infolge der Ein-kind-politik und Herausforderungen aufgrund des wachsenden Wohlstandsgefälles gestoppt werden könne. Kneissl vertritt auch hier die These, dass der Überschuss an jungen Männern eine große Bedrohung für die Stabilität des Landes darstellt. „Die Sorge unter einigen Beobachtern ist auch da, dass die überzähligen jungen Männer als Kanonenfutter eines Tages in einen konventionellen Krieg geworfen werden könnten.
„Chinas Wachstum bestimmt zunehmend die Weltkonjunktur, auch wenn es sich statt zweistellig ‚nur noch‘ um 6,5 Prozent bewegt. Das Wachstum soll nachhaltiger werden, und angekündigte Reformen vorwiegend strukturbestimmender Staatsunternehmen müssen greifen.“(Hartmann u.a. in 127 , S. 7)