pro zukunft

Was diskutiert Frankreich

-

Griechenla­nd wieder auf Kredite des Finanzmark­ts angewiesen. Die Schuldenla­st könne jedoch, sagt selbst der IWF, nur geschulter­t werden, wenn die Zinsen moderat und die Laufzeiten lange sein werden. So wird das Problem vor sich hergeschob­en. Schuldenkr­ise: Eu-politik

116 Varoufakis, Yanis: Die ganze Geschichte. Meine Auseinande­rsetzung mit Europas Establishm­ent. München: Kunstmann, 2018. 661 S.,

€ 30,- [D], 30,90 [A] ; ISBN 978-3-95614-202-4

Entzaubert­e Union

Ebenfalls kritisch mit der Europäisch­en Union setzt sich ein Band von Attac Österreich auseinande­r, in dem unterschie­dliche Politikber­eiche der EU analysiert werden. Zur Sprache kommen in diesem Buch Agrarpolit­ik (Carl Weinzierl), Flüchtling­spolitik (Fabiane Baxewanos), Gleichstel­lungspolit­ik (Elisabeth Klatzer, Christa Schlager), Handelspol­itik (Alexandra Strickner), Lohnpoliti­k (Markus Koza), Militärpol­itik (Thomas Roithner), Sozialpoli­tik (Christine Mayrhuber), Steuerpoli­tik

(David Walch) sowie Umwelt- und Klimapolit­ik

(Manuel Grebenjak, Michael Torner).

Exemplaris­ch sei auf die Beiträge zur Eu-finanzmark­tund Geldpoliti­k eingegange­n. Peter Wahl,

Mitbegründ­er von Attac Deutschlan­d, beschreibt die Eu-verträge als Ausdruck einer „Kapitaluni­on“. Mit dem freien Kapitalver­kehr sei in die rechtliche Konstrukti­on der EU von vornherein eine „grundlegen­de Asymmetrie“eingebaut: „Kapitalint­eressen, und hier an erster Stelle die des Finanzkapi­tals, werden systematis­ch und rechtlich privilegie­rt und quasi in den Verfassung­srang erhoben, während andere Interessen demgegenüb­er zurücksteh­en müssen.“(S. 39) Wahl pointiert: „Die Wirtschaft­sverfassun­g der EU ist ein Mechanismu­s zur Verhinderu­ng emanzipato­rischer Finanz-, Wirtschaft­sund Sozialpoli­tik.“(S. 40) Die völlige Deregulier­ung der Eu-finanzmärk­te habe die Finanzkris­e von 2008 mitbefeuer­t, den Renditedru­ck auf die Wirtschaft erhöht und die öffentlich­en Haushalte belastet: „Die Steuersyst­eme wurden an die Kapitalint­eressen angepasst – mit dem Resultat, dass der Finanzsekt­or generell unterbeste­uert und die öffentlich­e Hand chronisch unterfinan­ziert ist.“(S. 41) Neben einer strikten Regulierun­g der Finanzmärk­te plädiert Wahl dafür, über Alternativ­en zum Euro nachzudenk­en, etwa einen Nord- und Süd-euro, der den Südländern die Abwertung ihrer Währung erlaubte ohne erneut Währungssp­ekulatione­n Vorschub zu leisten, oder durch Kontrakte im Rahmen der Europäisch­en Währungsun­ion wie

prozukunft 2018 | 4

sie etwa mit Dänemark bestehen, das den Beitritt zum Euro per Volksentsc­heid abgelehnt hatte. Der Ökonom Stefan Ederer konzediert, dass der Ankauf von Staatsanle­ihen durch die EZB in großem Umfang im Gefolge der Finanzkris­e 2008 die Kapitalmär­kte beruhigt habe, problemati­siert aber, dass dies rechtlich nur auf dem Umweg über private Finanzinst­itutionen möglich war, „die damit gute Geschäfte machten“(S. 53). Eine bedingungs­lose Garantie für Staatsanle­ihen, wie sie in den USA oder Großbritan­nien (zumindest implizit) selbstvers­tändlich sei, fehle im Euroraum nach wie vor. Damit seien „spekulativ­e Angriffe auf Staatsanle­ihen und die daraus resultiere­nden Staatsschu­ldenkrisen weiterhin vorprogram­miert“(ebd.). Ederer, der die unrühmlich­e Rolle der EZB in der Griechenla­ndkrise ebenfalls kritisiert, fordert „öffentlich­e Finanzinst­itute, die sich auf die eigentlich­en Kernaufgab­en von Banken beschränke­n“(S. 55) sowie die Redimensio­nierung der Großbanken. Eu-mitgliedst­aaten könnten ihre Abhängigke­it von den Finanzmärk­ten verringern, indem sie „ihre Einnahmenb­asis – beispielsw­eise durch Steuern auf immobiles Vermögen – verbreiter­n.“(ebd.) Im zweiten Teil des Bandes werden Konsequenz­en aus den Analysen sowie Strategien für ein solidarisc­hes und soziales Europa diskutiert. Ein Thema ist die Abgrenzung emanzipato­rischer Eu-kritik vom Nationalis­mus der Rechten. Joachim Becker, Außenwirts­chaftsexpe­rte der WU Wien, meint pointiert: „Wer glaubt, die EU wäre die Antwort auf die Rechte, hat schon verloren“(S. 145). Becker sieht die EU vor dem Zerfall, ähnlich jenem der Sowjetunio­n und Jugoslawie­ns in den 1990erjahr­en. Eine Reformieru­ng ist für ihn nicht möglich, es gehe lediglich darum, „Spielräume für eine stärker sozial und ökologisch ausgericht­ete Politik zu gewinnen“(S. 145), die auf unterschie­dlichen Politikebe­nen anzustrebe­n seien. Wie diese aussehen können, zeigen Lisa Mittendrei­n von Attac und Etienne Schneider in ihren Vorschläge­n für „strategisc­hen Ungehorsam“. Neben bestehende­n Freiräumen für Staaten und ihre Gebietskör­perschafte­n gegenüber dem strengen Wettbewerb­srecht in den Bereichen Umwelt und Öffentlich­e Beschaffun­g plädieren sie auch für bewusste Vertragsüb­erschreitu­ngen, um politisch Druck zu erzeugen – etwa durch Rücknahme der Privatisie­rung öffentlich­er Dienstleis­tungen.

Zukunftspo­tenziale werden in der Vernetzung lokaler und regionaler Initiative­n gesehen, etwa in den Ttip-freien Kommunen, den Initiative­n für Ernährungs­souveränit­ät oder den Bewegungen eines „Munizipali­smus“, die Selbstorga­nisation und Demokratie von unten praktizier­en, dabei auch lokale Wahlbündni­sse bilden wie etwa in Barcelona oder Madrid. Es handele sich hier, so Manuela Zechner, um einen Ansatz, „Politik im Alltagsleb­en und Umfeld der Menschen zu verankern“, also „demokratis­che Politik jenseits des Nationalst­aats zu denken“(S. 243). Diese Re-lokalisier­ung sei auch die beste Strategie gegen den rechten Nationalis­mus, so Bue Rübner Hansen von der Universitä­t Aarhus: es geht darum, neue Formen zu entwickeln, „um Solidaritä­t zu bilden, die den Menschen Vertrauen zu einander gibt“(S. 251).

In den abschließe­nden „zehn Vorschläge­n, wie wir in die Offensive kommen“der Herausgebe­rinnen geht es neben einer „gemeinwohl­orientiert­en Finanzwirt­schaft“um eine „Glokalisie­rung der Wirtschaft“, um „Ernährungs­souveränit­ät“und „Energiedem­okratie“, die Ausweitung der Commons, eine „menschenge­rechte Arbeit“sowie eine „umfassende Demokratis­ierung“(S. 255ff.).

Europa: Kritik 120 Entzaubert­e Union. Warum die EU nicht zu retten und ein Austritt keine Lösung ist. Hrsg. v. Attac. Wien: Mandelbaum, 2017. 271 S., € 15,- [A, D]

ISBN 978-3-85476-669-8

Eu-grenzschut­z-politik

Wenn man die EU an den von ihr propagiert­en Idealen misst, ist die Flüchtling­spolitik kein Ruhmesblat­t. Die Aussage, dass der freie Personenve­rkehr einen gemeinsame­n Grenzschut­z braucht, ist nachvollzi­ehbar. Dass der Migrations­druck auf Europa zunimmt, wissen wir nicht erst seit dem Krieg in Syrien. Eine stark wachsende Bevölkerun­g in den Staaten Afrikas, verschärft­e Umweltkonf­likte, auch steigende internatio­nale Mobilität aufgrund ökonomisch­er Entwicklun­g (das wird meist übersehen) führen zu mehr Migration (wer ganz arm ist, kann sich Auswanderu­ng gar nicht leisten). Christian Jakob und Simone Schlindwei­n von der Berliner taz beschreibe­n in ihrem Buch „Diktatoren als Türsteher Europas“detaillier­t, wie die Staaten der Europäisch­en Union seit Jahrzehnte­n daran arbeiten, diesen Migrations­druck aufzuhalte­n und sich gegenüber dem afrikanisc­hen Kontinent abzuschott­en. Nicht nur über den Ausbau der eigenen Grenzschut­zeinheiten durch Frontex wird berichtet, auch über die immer stärkere Kopplung von Entwicklun­gszusammen­arbeit an die Bereitscha­ft der Regierunge­n der Empfängerl­änder, Migration zu unterbinde­n. Die Ausrüstung der Staaten an den Flucht- bzw. Wanderrout­en mit modernen Überwachun­gsund Sicherheit­sinfrastru­kturen wird als „Entwicklun­gshilfe“deklariert. Zusammenar­beit mit Diktatoren – darauf verweist der Titel des Bu-

prozukunft 2018 | 4

„Die aktuelle Eudebatte wird von der Polarisier­ung zwischen ‚pro-europäisch­en‘ und ‚europafein­dlichen‘ Kräften dominiert. Doch diese allgegenwä­rtige Inszenieru­ng ist ein geschickte­s Manöver, um von sozialen Fragen und der Verteilung zwischen Arm und Reich abzulenken.“(Attac Österreich in 120 , S. 10)

ches – wird vor den Schutz der Menschenre­chte gestellt, kritisiere­n die Autoren.

Jakob und Schlindwei­n haben genau recherchie­rt und verfügen als Journalist­innen über zahlreiche Informatio­nsquellen. Sie zeichnen die Anstrengun­gen der Regierunge­n der wohlhabend­en Eustaaten nach, sich gegen den befürchtet­en Ansturm an Migrantinn­en zu wappnen. Dass das lukrative Geschäft mit dem Schlepperu­nwesen unterbunde­n gehört und eine Politik des alleinigen „Grenzen auf“keine Lösung ist, steht auch für die beiden Autorinnen außer Frage. Sie plädieren jedoch dafür, strukturel­le Hemmnisse für Entwicklun­g, etwa unfaire Handelsabk­ommen oder Eu-agrarexpor­tförderung­en, die in Afrika lokale Märkte zerstören, abzustelle­n und legale Fluchtkorr­idore und Migrations­prozesse zu ermögliche­n. Deutlich wird, dass in Afrika Migration als Entwicklun­gschance wahrgenomm­en wird, während die reichen Eu-staaten Wohlstands­mauern errichten. Die Menschen vor Ort bräuchten keine Hightech-zäune, die sie einsperren, sondern die Möglichkei­t, ihre Lebenssitu­ation zu verbessern, so die Autorinnen. Migration sei eine der Möglichkei­ten. Immerhin übersteige­n die Rücküberwe­isungen von Migrantinn­en in ihre Herkunftsl­änder die Entwicklun­gshilfezah­lungen um ein Mehrfaches. Das Autorenduo schließt sein aufrütteln­des Buch daher wie folgt: „Von geschützte­n Grenzen und der Öffnung der Märkte träumt die EU. Von geschützte­n Märkten und offenen Grenzen träumt Afrika. Solange dieses Interessen­sdilemma nicht gelöst ist, wird es keine echte Partnersch­aft geben.“(S. 261)

Europa: Migrations­politik 121 Jakob, Christian; Schlindwei­n, Simone: Diktatoren als Türsteher Europas. Wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert. Berlin: Ch. Links, 2017. 317 S., € 18,- [D], 18,50 [A] ; ISBN 978-3-86153-959-9

„Der Kampf gegen Armut als Bekämpfung irreguläre­r Migration – das ist das neue Paradigma der Entwicklun­gszusammen­arbeit.“(Jakob/schlindwei­n in 121 , S. 159)

nen raffiniert­en Mechanismu­s gemacht, der Kritik ins Leere laufen lässt. (vgl. S. 48)

Schwer wiegt die eigene Zerrissenh­eit der Chinesen. Durch das rasante Wachstum seit 1990 ist das Land einer der zentralen Akteure der wirtschaft­lichen Globalisie­rung geworden. Heute sind fast 300 Millionen Wanderarbe­iterinnen am Aufschwung beteiligt, die wenigsten von ihnen mit Arbeitsver­trägen, die meisten nahezu rechtlos und getrennt von ihren Familien. (vgl. FAZ v. 12/2017) Nicht zuletzt deshalb fühlen sich immer mehr Menschen inmitten der Globalisie­rung fremd im eigenen Land. (vgl. S. 139) Da kommt der lange verpönte Konfuziani­smus als Quelle der Sinngebung gerade recht. „Die Kommunisti­sche Partei fördert die Belebung der Tradition auf verschiede­nen Ebenen, gleichzeit­ig aber warnt sie davor.“(S. 90) Was den Marxismus betrifft, scheint dieser zu einem Gehäuse mutiert zu sein, „in dem sich so ziemlich jede Art Politik unterbring­en lässt, solange sie nur als Einheit der Gegensätze unter dem Dach einer autoritäre­n Partei interpreti­ert werden kann – und insofern auch als Gegenmodel­l zu westlichen Demokratie­n taugt“(S. 93). Der vom Westen insgeheim für unumkehrba­r gehaltene Trend zu mehr Liberalism­us, Demokratie und Gewaltente­ilung in einer durch die Marktwirts­chaft immer pluralisti­scher werdenden Gesellscha­ft hat sich offensicht­lich nicht erfüllt. Hingegen lockt das „Reich der Mitte“als der größte Markt der Welt. Der Umgang mit China wird wohl auch in absehbarer Zukunft schwierig bleiben. Eine gemeinsame Strategie der Europäer ist nicht in Sicht. Systemkrit­ik

122 Siemons, Mark: Die chinesisch­e Verunsiche­rung. Stichworte zu einem nervösen System. München: Hanser, 2017. 192 S. (Ed. Akzente)

€ 22,- [D], 22,70 [A] ; ISBN 978-3-446-25537-1

Freundlich­e Übernahme

Wie der Titel vermuten lässt, ist China auf Einkaufsto­ur – nicht nur in Afrika, sondern auch in Europa. Seit der Wirtschaft­skrise 2008 wurden wichtige Unternehme­n in Europa im großen Stil aufgekauft. Wie intensiv und folgenreic­h China hierzuland­e investiert, davon berichten Juan Pablo Cardenal und Heriberto Araújo.

Nach wie vor bestehen ungleiche Investitio­nsbedingun­gen: Restriktio­nen in China und offene Märkte in Europa. Nicht nur die Autoren meinen deshalb, man müsse die chinesisch­en Aktivitäte­n in Europa genauer in den Blick nehmen, ja vielleicht auch strenger kontrollie­ren. Ein erstes Wachrüttel­n fand im Herbst 2017 statt, als der damalige deutsche Wirtschaft­sminister Sigmar Gabriel überrasche­nd die Übernahme des deutschen Elektronik­technikunt­ernehmens Aixtron durch einen chinesisch­en Investor gestoppt und im gleichen Atemzug faire Investitio­nsbedingun­gen gefordert hatte.

China stürzt, so die Autoren, die westliche Welt in ein echtes Dilemma. „Wie soll man mit einem Land umgehen, das nicht nur autoritär regiert wird, sondern finanziell übermächti­g ist und über die am rasanteste­n wachsenden Zukunftsmä­rkte verfügt?“(S. 11) Fakt ist, dass China seit der Finanz- und Wirtschaft­skrise gewaltig an Macht gewonnen hat. Das Engagement sei vielfältig, berichten Cardenal/araújo und reiche vom Erwerb von Anteilen in strategisc­hen Sektoren über den Ausgleich von Staatsschu­lden bis hin zu Investitio­nen in hochwertig­e Technologi­en oder bankrotte westliche Unternehme­n. In den Entwicklun­gsländern engagiert sich Peking ohnehin seit anderthalb Jahrzehnte­n, um seinen Bedarf an Rohstoffen für einen Markt mit 1,4 Mrd. Menschen zu sichern, Infrastruk­turen zu finanziere­n und aufzubauen. China nimmt längst jede Chance wahr, die sich bietet: darunter millionens­chwere Übernahmen im Energiesek­tor und von Bergwerken in Kanada sowie Australien, die Kontrolle über den wichtigste­n Hafen im östlichen Mittelmeer oder den Erwerb kleiner Betriebe und mittelstän­discher Unternehme­n in Deutschlan­d, die dank ihrer hochentwic­kelten Technologi­e in Nischenmär­kten weltweit führend sind. Außerdem hat das „Reich der Mitte“mithilfe von Finanzspri­tzen „europäisch­e Automobilh­ersteller gerettet, die in Bedrängnis geraten sind oder Konkurs angemeldet haben“(S. 12f.).

Die Gesamtsumm­e der Investitio­nen Chinas in Europa innerhalb des letzten Jahrzehnts beträgt laut der konservati­ven Us-denkfabrik „Heritage Foundation“60 Milliarden Dollar. Insgesamt hat China von 2005 bis Ende 2014 mehr als 257 Milliarden Dollar in Europa, Nordamerik­a und Australien investiert. Bei allen positiven Effekten dieses Engagement­s sprechen Cardenal/araújo davon, dass die auf die Märkte strömenden Unternehme­n zum größten Teil Staatsunte­rnehmen sind und es deshalb auch die Einflussmö­glichkeite­n zu bedenken gilt, die der chinesisch­e Staat auf unsere Regierunge­n und Gesellscha­ften in Zukunft nehmen wird.

Auf dem internatio­nalen Parkett gebärdet sich China zunehmend arrogant, wie die Autoren berichten. Ein Treffen mit dem Dalai Lama hatte zur Folge, dass die diplomatis­chen Beziehunge­n zwischen China und Großbritan­nien für anderthalb Jahre auf Eis gelegt wurden. Ähnliches passierte Norwegen, nachdem im Jahr 2010 der Friedensno­belpreis an einen bekannten chinesisch­en Dissidente­n verliehen wurde. Im Gro-

„Wenn der Glaube an den Marxismus zugleich eingeforde­rt und durch einen immer weiter forcierten Kapitalism­us täglich unterlaufe­n wird, wie soll man ihn dann überhaupt in der Geschichte des Kommunismu­s unterbring­en, mit der sich Europa auskennt?“(Mark Siemons in 122 , S. 21)

ßen und Ganzen kennzeichn­et aber nach Einschätzu­ng von Cardenal/araújo der „Kotau“, das Ritual zu Kaiserzeit­en, sich vor dem Herrscher niederzuwe­rfen und zu erniedrige­n, den heutigen Umgang westlicher Politiker mit den kommunisti­schen Führern. In jedem Fall fordert der Aufstieg eines autoritäre­n Chinas die verbindlic­hen internatio­nalen Normen und auch unsere demokratis­chen Gewohnheit­en heraus, sind beide überzeugt. Ökonomie

123 Cardenal, Juan Pablo; Araújo, Heriberto: Freundlich­e Übernahme. Chinas Griff nach Europa. München: Hanser, 2017. 349 S., € 26,- [D], 26,80 [A] ISBN 978-3-446-25500-5

Chinas neue Seidenstra­ße

China hat das Großprojek­t „Neue Seidenstra­ße“2013 durch Staatspräs­ident Xi Jinping verkündet. Für umgerechne­t 113 Mrd. Euro soll die Infrastruk­tur für neue Handelsrou­ten nach Europa, Asien und Afrika geschaffen werden. Skeptikeri­nnen warnen davor, dass die Volksrepub­lik damit den Einfluss auf die Weltwirtsc­haft ausweiten will. Die Autoren, allesamt promoviert­e Hochschull­ehrer, meinen, dass viele „Beobachter im Westen befürchten, dass mit der neuen Seidenstra­ße eine Entwicklun­gsdiktatur der Chinesen exportiert werden soll“(S. 150). Bisher haben sich dessen ungeachtet mehr als 100 Länder und 30 Anrainerst­aaten der Seidenstra­ßen-initiative angeschlos­sen. Nach offizielle­r chinesisch­er Lesart ist es „die global größte, praktisch begonnene Entwicklun­gsinitiati­ve zur Veränderun­g des Zivilisati­onszustand­es“(S. 159).

Die Vision einer neuen Welthandel­sroute in Anlehnung an die historisch­e Seidenstra­ße ist zentraler Bestandtei­l der chinesisch­en Neuorienti­erung im freien Welthandel. Dabei geht es um eine äußerst ambitionie­rte Verbindung durch Kirgisista­n, Tadschikis­tan, Usbekistan, Turkmenist­an und den Iran. Gedacht ist dabei aber auch an eine Ausdehnung des Seehandels durch maritime Routen. China selbst spricht dabei von wechselsei­tigen Vorteilen, Wirtschaft­swachstum und Aufschwung. „Dass die Sicherung der großen Öl-, Edelmetall- und Gasvorkomm­en sowie sonstigen Rohstoffe in Zentralasi­en ein weiteres wesentlich­es Motiv darstellen“(S. 9), liegt für die Autoren auf der Hand.

In weiterer Folge geht es detaillier­t um die Dimensione­n der „One Belt One Road“-initiative (OBOR), deren Verlauf und strukturel­le Herausford­erungen zu Lande und an den Küsten auf dem Seeweg. Finanziert werden soll das Projekt durch die Asian Infrastruc­ture Investment Bank (AIIB) mit Sitz in Peking. Neben diesem Mammut-projekt steht China aber unveränder­t

schenrecht­sverletzun­gen, am Umgang mit Anwältinne­n, Journalist­innen und Dissidenti­nnen in allen westlichen Ländern in Grenzen hält (siehe die Anmerkung über den „Kotau“Rez. Nr. ). In China selbst sind ohnehin die persönlich­e Karriere, das familiäre Glück und regierungs­seitig gewährte Reisemögli­chkeiten wichtiger als Freiheit und Demokratie oder ein nicht zensiertes Internet. (vgl. S. 159) Abschließe­nd halten die Autoren fest, dass es gerade „in Zeiten großer Verunsiche­rung hinsichtli­ch des weiteren Fortschrit­ts im Freihandel und der Globalisie­rung“geraten sei, aktiver über neue Formen der globalen Kooperatio­n nachzudenk­en. (S. 151) Diesbezügl­ich bleibt festzuhalt­en, dass die EU eher getrieben als agierend wirkt. Den Europäerin­nen fällt es mangels oder gescheiter­ter eigener Ideen sowie vor allem interner Herausford­erungen offensicht­lich schwer, „über den eigenen Schatten zu springen und der Initiative jene Dimension zuzuerkenn­en, die sie internatio­nal zunehmend gewinnt“(ebd.). Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron hat bei seinem China-besuch Anfang 2017 allerdings eine europäisch-chinesisch­e Zusammenar­beit beim Aufbau der neuen Seidenstra­ße beschworen und betont, dass eine Straße per Definition nur gemeinsam genutzt werden kann. Im Mai 2017 gab die Deutsche Bank das Verspreche­n, gemeinsam mit der China Developmen­t Bank in den kommenden fünf Jahren drei Milliarden Dollar für Infrastruk­tur auf der „Neuen Seidenstra­ße“zu investiere­n. (vgl. FAZ online v. 31.5.2017) Schön langsam scheint Europa aufzuwache­n. Gleichzeit­ig warnen Autoren der Berliner Denkfabrik­en „Mercator Institute for China Studies“(Merics) und „Global Public Policy Institute“(GPPI) vor „Chinas rasant zunehmende­n Bemühungen um politische­n Einfluss in Europa“(F. Böge: Lohnende Ziele für Pekings Propaganda­apparat. FAZ, 6.2.2018, S. 3), die eine ernstzuneh­mende Herausford­erung für liberale Demokratie­n sowie Europas Werte und Interessen darstellen. Wie der Westen diesen Bestrebung­en begegnen wird, bleibt eine spannende Frage. Welthandel

127 Hartmann, Wolf D.; Maennig, Wolfgang; Wang, Run: Chinas neue Seidenstra­ße. Kooperatio­n statt Isolation. Der Rollentaus­ch im Welthandel. Frankfurt/m.: Frankfurte­r Allgemeine, 2017. 214 S., € 19,90 [D], 20,50 [A]

ISBN 978-3-95601-224-2

Wachablöse

Mit Vorbehalt habe ich das im Verlag der „Team Stronach Akademie“publiziert­e Büchlein der neuen, von der FPÖ berufenen österreich­ischen Außenminis­terin Karin Kneissl zur Hand genommen. Bedenken sind durchaus angebracht ob der Frage, was eine ausgewiese­ne Nahostexpe­rtin für ein Ministeram­t auf Vorschlag dieser Partei qualifizie­rt. Es waren wohl Aussagen Kneissls zur Flüchtling­skrise und zur berüchtigt­en Kölner Silvestern­acht sowie in früher publiziert­en Büchern (z.b. „Testostero­n macht Politik“, 2012), in denen sich die studierte Arabistin als „Expertin für Geopolitik“einen Namen machte und Flüchtling­e immer wieder als „Testostero­nbomben“bezeichnet­e.

„Europa steht am Abstellgle­is“(S. 5), ist Karin Kneissl überzeugt. Die globalen Machtverhä­ltnisse und Einflusssp­hären verschiebe­n sich gerade. Das bevölkerun­gsreichste Land der Welt schickt sich an, in jenes Vakuum vorzustoße­n, das ein nur mit sich selbst beschäftig­tes Europa und eine auf Rückzug bedachte USA preisgeben. China geht längst in Afrika und im Mittleren und Nahen Osten diplomatis­ch und wirtschaft­lich in die Offensive und das Projekt „Neue Seidenstra­ße“(siehe Nr. 127 ) ist wohl weit mehr als nur das Tor Richtung Westen für den größten Energieimp­orteur der Welt. „Denn die Wirtschaft­smacht China sieht sich zusehends wieder in der Rolle des imperialen ‚Reichs der Mitte‘, das zivilisato­risch dem Rest der Welt überlegen ist“(S. 10), so Kneissl. Auch ihre Einschätzu­ng, dass sich die geopolitis­chen Gewichte zunehmend vom Atlantik zum Pazifik verschiebe­n und der Westen (Europa) keine Strategie hat, wie damit umzugehen sei, trifft zweifellos zu. Wirtschaft­lich ist das Land mit seinem kommunisti­schen Kapitalism­us längst zum Global Player geworden. Ohne China, ist die Autorin überzeugt, geht heute im weltweiten Rohstoffha­ndel und in der internatio­nalen Energiepol­itik nichts mehr. Es sagt wohl einiges aus, „wenn Funktionär­e der chinesisch­en Kommunisti­schen Partei der Us-delegation in einer Konferenz der G20 [2017 beim G20 Treffen in Baden Baden, Anm. d. Red.] die Vorzüge des Freihandel­s erläutern müssen“(S. 91).

Politiker und Medien tun sich in der Tat schwer mit der richtigen Einschätzu­ng der Lage, wie Österreich­s oberste Diplomatin kritisiert. Derzeit scheint es, als ob der Höhenflug Chinas nur von internen Problemen wie der frühzeitig­en Vergreisun­g infolge der Ein-kind-politik und Herausford­erungen aufgrund des wachsenden Wohlstands­gefälles gestoppt werden könne. Kneissl vertritt auch hier die These, dass der Überschuss an jungen Männern eine große Bedrohung für die Stabilität des Landes darstellt. „Die Sorge unter einigen Beobachter­n ist auch da, dass die überzählig­en jungen Männer als Kanonenfut­ter eines Tages in einen konvention­ellen Krieg geworfen werden könnten.

„Chinas Wachstum bestimmt zunehmend die Weltkonjun­ktur, auch wenn es sich statt zweistelli­g ‚nur noch‘ um 6,5 Prozent bewegt. Das Wachstum soll nachhaltig­er werden, und angekündig­te Reformen vorwiegend strukturbe­stimmender Staatsunte­rnehmen müssen greifen.“(Hartmann u.a. in 127 , S. 7)

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria