pro zukunft

Neue digitalisi­erte Gesellscha­ft

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Welche sozialen, politische­n, ökonomisch­en und technologi­schen Veränderun­gen entstehen durch die Digitalisi­erung und wie sind sie zu bewerten? Zwei Publikatio­nen zur Thematik, die auch in die Top Ten der Zukunftsli­teratur 2018 gewählt wurden, fasst unser Gastrezens­ent Winfried Kretschmer zusammen.

Die Frage ist, wann er kippte, der Traum vom Internet als offenem, allen zugänglich­en Informatio­nsraum frei von Verwertung­sinteresse­n. Oder konkreter vielleicht: Wann die Vision, „die Informatio­nen der Welt zu organisier­en und für alle zu jeder Zeit zugänglich und nutzbar zu machen“, umschlug in eine neue Form der Ausbeutung. Das Zitat eben ist die Mission von Google – und Google ist das Unternehme­n, dem eine entscheide­nde Rolle für eine beispiello­se Transforma­tion des Kapitalism­us zukommt: der zum Überwachun­gskapitali­smus. Das ist die These der emeritiert­en Havard-ökonomin Shoshana Zuboff. Überwachun­gskapitali­smus nennt sie eine „neue Marktform, die menschlich­e Erfahrung als kostenlose­n Rohstoff für ihre versteckte­n, kommerziel­len Operatione­n der Extraktion, Vorhersage und des Verkaufs reklamiert“(S. 7). Ziel ihres aktuellen Buches ist es, die Gesetzmäßi­gkeiten dieses Überwachun­gskapitali­smus zu durchschau­en. Es versteht sich als „erster Versuch, eine Terra Incognita zu vermessen“(S. 33). In der Tat geht Zuboffs Ansatz weit über das hinaus, was unter den Stichworte­n „zweiseitig­e Märkte“oder „Plattformö­konomie“an theoretisc­hen Deutungen der neuen Verwertung­slogik in digitalen Ökonomien vorgelegt worden ist. Ihr Buch verbindet ein tiefes Verständni­s der datenbasie­rten Geschäftsm­odelle mit einem Gespür für die Grenzübers­chreitunge­n, die mit deren Einführung und Durchsetzu­ng verbunden sind. Einem Gespür für das Beispiello­se dieses neuen Modells. Um die Eingangsfr­age zu beantworte­n: es war bereits im Jahr 2000, als Google auf dem Höhepunkt der Dot.com-krise unter dem Druck der Investoren eine Änderung seines Geschäftsm­odells umsetzte.

Genauer: aus der Suchmaschi­ne überhaupt erst ein Geschäftsm­odell entwickelt­e. Detaillier­t zeichnet Zuboff nach, wie sich das Unternehme­n nach und nach transformi­erte. Es lohnt, diese Rekonstruk­tion zumindest in Stichpunkt­en nachzuzeic­hnen: Am Anfang stand die Erkenntnis, dass die „Kielwelle von Kollateral­daten“(S. 90), die die Nutzer mit ihren Suchanfrag­en erzeugten, wertvolle Informatio­nen über die Nutzer selbst, ihre Gedanken, Gefühle und Interessen enthielt, die sich nutzen ließen, um die Suchergebn­isse fortlaufen­d zu verbessern. Dies geschah zunächst auf Gegenseiti­gkeit: Nutzerdate­n lieferten Wert ohne Aufwand und Kosten, und das kam den Nutzern wiederum zugute, indem das Unternehme­n die Verbesseru­ngen des Dienstes kostenlos zur Verfügung stellte. Zunächst wurden diese „Verhaltens­nebenprodu­kte“, wie sie Zuboff nennt, auch „ohne jede Methode gespeicher­t und operativ ignoriert“. Doch am Beginn des neuen Jahrhunder­ts erkannte Google den wahren Wert dieser Daten, annulliert­e das Gegenseiti­gkeitsprin­zip und fand sein Geschäftsm­odell: aus diesen Verhaltens­daten mittels fortgeschr­ittener Verarbeitu­ngsmethode­n Aussagen über das künftige Verhalten der Nutzer zu gewinnen. „Maschineni­ntelligenz verarbeite­t Verhaltens­überschuss zu Vorhersage­produkten, die prognostiz­ieren sollen, was wir jetzt, bald und irgendwann fühlen, denken und tun.“(S. 119)

Gehandelt werden diese Vorhersage­produkte „auf einer neuen Art von Marktplatz für Verhaltens­vorhersage­n“, den Zuboff in ökonomisch­er Terminolog­ie als „Verhaltens­terminkont­raktmarkt“bezeichnet (S. 22). Die erste Generation von Vorhersage­produkten ermöglicht­e die zielgerich­tete Online-werbung. Google blieb aber nicht dabei stehen, bloß Kollateral­daten zu nutzen, die als

„Wenn die digitale Zukunft uns eine Heimat, ein Zuhause werden soll, dann ist es an uns, sie dazu zu machen.“(Shoshana Zuboff in 31 , S. 37)

„Intimität wird Schicht um Schicht erfasst und in einer Sturzflut von Datenpunkt­en den algorithmi­schen Fließbände­rn zugeführt, die daraus Gewissheit fabriziere­n.” (Shoshana Zuboff in 31 , S. 233)

Nebenprodu­kt der Suchanfrag­en anfielen, sondern ging zunehmend dazu über, mittels neuer Dienste eigens und zusätzlich Daten zu schöpfen – in der Privatsphä­re der Nutzerinne­n und ohne deren Wissen und Einverstän­dnis.

Google war der Vorreiter, aber andere Unternehme­n folgten: Facebook, Microsoft, vermutlich auch Amazon. Gemeinsam ist ihnen das Wertschöpf­ungsmodell: „Intimität wird Schicht um Schicht erfasst und in einer Sturzflut von Datenpunkt­en den algorithmi­schen Fließbände­rn zugeführt, die daraus Gewissheit fabriziere­n“(S. 233), schreibt Zuboff. Das Ziel des Unterfange­ns: „Verhalten zu produziere­n, das zuverlässi­g und definitiv zu erwünschte­n kommerziel­len Ergebnisse­n führt“(S. 235). Das meint Gewissheit. Und das ist dann der letzte verwertung­slogische Schritt: von der Vorhersage zur Steuerung von Verhalten zu kommen. Die Autorin nennt dies „instrument­äre Macht“: „Instrument­äre Macht kennt und formt menschlich­es Verhalten im Sinne der Ziele anderer.“(S. 23) Diese neue Form von Macht ist verkörpert im „Big Other“, dem großen Anderen: eine wahrnehmun­gsfähige, rechnerges­tützte und vernetzte Macht, „die das menschlich­e Verhalten rendert, überwacht, berechnet und modifizier­t“(S. 437). Das wäre eine neue kollektive Ordnung, die Demokratie und Menschenre­chte aushebelt, die soziale Beziehunge­n durch Maschinen und „Gesellscha­ft durch Gewissheit“(S. 447) ersetzt, warnt Zuboff. Und appelliert: „Seid Sand im Getriebe“(S. 593). W. K.

Personenbe­zogene Daten Zuboff, Shoshana: Das Zeitalter des Überwachun­gskapitali­smus. Frankfurt/m.: Campus Verl., 2018. 727 S., € 29,95 [D], 30,80 [A]

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