Editorial
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Wie gewohnt geben wir mit dieser Ausgabe die Top Ten der Zukunftsliteratur bekannt, also jene Sachbücher eines Jahres, die wir als besonders zukunftsrelevant einstufen. Bereits zum 15. Mal werden auf diesem Weg herausragende Leistungen ausgewählter Autorinnen gewürdigt, die mit ihrer Arbeit gesellschaftliche Entwicklungen kritisch reflektieren und neue Zukunftsperspektiven eröffnen. Heuer zeichnet sich die Auswahl durch ein breites Themenspektrum aus: Digitalisierung, Philosophie, Demokratie, Innovationsmanagement, Künstliche Intelligenz, Rationalismus, Ökonomie, Physik, Nachhaltigkeit und Gesellschaftswandel sind Schlagwörter, die auf die ausgewählten Publikationen zutreffen. 2004 wurde das Format der Top Ten ins Leben gerufen, das ob der speziellen Ausrichtung nach wie vor ein Alleinstellungsmerkmal im deutschsprachigen Raum hat. Für die bedeutendste Honorierung im Genre der Zukunftsliteratur kooperiert die Robertjungk-bibliothek für Zukunftsfragen seit diesem Jahr mit changex, dem Onlinemagazin für Zukunfts- ideen. Eine fünfköpfige Jury entschied in mehreren Gesprächsrunden über die Nominierungen, die kon- struktive Diskussionen rund um zukunftsweisende Analysen oder Ideen begünstigen sollen.
Ähnlich dem „NDR Kultur Sachbuchpreis“wurden alle deutschsprachigen Neuveröffentlichungen in Betracht gezogen, deren Erscheinungsdatum zwischen dem 16.10.2017 und dem 15.10.2018 lag. Als Kriterien für die Auszeichnung galten wie bisher auch die gesellschaftliche Brisanz eines Themas, ein augenfälliger Innovationscharakter, Verständlichkeit, dargebotene Wissens- und Faktengrundlagen sowie Lösungsvorschläge. Selbstverständlich fiel uns die Selektion nicht leicht, intensiv diskutierten wir, um schließlich zu einem gemeinsamen, thematisch diversen Nenner zu gelangen.
Stark beeindruckte uns auch „Frauen und Macht“von Mary Beard. Der Titel verfehlte nur sehr knapp die Bestenliste. Die Professorin für Klassische Altertumswissenschaft an der Universität Cambridge analysiert darin kulturell tief verankerte Mechanismen, die Frauen im öffentlichen Diskurs zum Schweigen bringen und von Machtpositionen exkludieren. Das Buch startet mit den Anfängen überlieferter abendländischer Literatur, genauer gesagt mit dem Sohn des Odysseus, Telemachos, der seiner Mutter Penelope das Wort verbietet. Beard interessiert sich für das Verhältnis zwischen diesem bei Homer thematisierten Geschlechter- bzw. Rollenkonflikt und der
Weise, wie in unserer gegenwärtigen Gesellschaft weibliche Stimmen überhört bzw. mundtot gemacht werden, in welcher kulturell heiklen Beziehung sie also zu der öffentlichen Sphäre der Reden, Debatten und Stellungnahmen stehen (vgl. S. 16). Von der griechischen und römischen Antike ausgehend, nennt sie zahlreiche Beispiele, in denen öffentliche Äußerungen einer Frau mit Verachtung, Abscheu oder Gewalt gestraft werden. Sie zeigt, dass es in der klassischen Welt nur zwei Ausnahmen gab, die Frauen dazu befugte ihre Stimme zu erheben: als Opfer und Märtyrerin, meist um ihren Tod anzukündigen; als Beschützerin ihres Heims, ihrer Kinder, ihres Ehemannes oder anderer Frauen – wohlgemerkt nicht für Männer oder das Gemeinwesen als Ganzes (vgl. S. 24). Beard schreitet sachlich durch die verschiedenen Jahrhunderte bis zur Jetztzeit und verdeutlicht, dass diese Mechanismen immer noch nicht aufgebrochen, sondern kulturell verfestigt sind. Wenn etwa männliche Autoritäten als Perseus dargestellt werden, das abgeschlagene Haupt einer politischen Kontrahentin in den Händen haltend; wenn Frauen nicht reden, sondern ‚kläffen‘; oder wenn Beschimpfungen auf Twitter in Vergewaltigungsandrohungen ausarten, dann treten in Form von Symbolen und Redewendungen soziokulturelle Einstellungsmuster der geringeren Wertigkeit von Frauen zu Tage, die seit der Antike tradiert werden. Das kurzweilige Bändchen lehrt Geschichte, lädt zur Selbstreflexion ein und hinterfragt Machtdynamiken. Lösungsvorschläge werden nicht geboten, aber historischer Kontext und interessante Überlegungen: „Wenn Frauen nicht innerhalb der Machtstrukturen wahrgenommen werden, müsste dann nicht statt der Frauen die Macht neu definiert werden?“(S. 83)
Was erwartet Sie weiterhin in dieser Ausgabe? Es geht vorrangig um die Krise demokratischer Gefüge und linkspolitischer Kräfte. Vierzehn zum Nachdenken anregende und aktuelle Entwicklungen erklärende Beiträge sind versammelt, geradezu begeistert ist unsere Rezensentin von den Autoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt. „Wie Demokratien sterben“ist für sie die „Publikation der Stunde für alle engagierten Staatsbürgerinnen, die sich nicht mit der Erosion demokratischer Institutionen und Werte abfinden wollen.“Neben Analysen aus dem Bereich der Ökonomie und Digitalisierung finden sich weitergehend Bücher zum Thema Künstliche Intelligenz und den daraus folgenden Herausforderung für unsere Gesellschaft. Und schließlich zeigen wir anhand von vier Beispielen, wie radikal gängige Meinungen hinterfragt werden können und warum es sich lohnt, gefestigte Annahmen zu überdenken.
Wie immer freuen wir uns über Rückmeldungen. Schreiben Sie uns also gerne Ihre Gedanken und Fragen. Eine spannende Lektüre wünscht das Team der Robert-jungk-bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg. Herzlich Ihre