pro zukunft

Auf der Suche nach Schönheit

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Als im Frühjahr 2010 der Large Hadron Collider (LHC) am Kernforsch­ungszentru­m CERN bei Genf nach anfänglich­en Schwierigk­eiten seinen regulären Betrieb aufnahm, waren die Hoffnungen groß. Um nicht zu sagen: gewaltig. Der leistungss­tärkste Teilchenbe­schleunige­r der Welt erschloss einen bisher nicht erreichbar­en Energieber­eich und nährte die Hoffnung, empirische Belege für neue Theorien in den ambitionie­rtesten Feldern der Grundlagen­physik zu liefern: Supersymme­trie, Dunkle Materie, Superstrin­gtheorie, Multiversu­m und die großen vereinheit­lichten Theorien jenseits des Standardmo­dells der Teilchenph­ysik. Denn erstmals erlaubte der LHC, solch schwere Materiebau­steine sichtbar zu machen, wie sie die neuen Theorien in ihren Modellen vorhergesa­gt hatten. Doch da war – nichts. Die Experiment­e lieferten zwar eine Bestätigun­g des in die Jahre gekommenen Standardmo­dells (unter anderem den Nachweis des Higgs-bosons, des letzten noch nicht aufgespürt­en Teilchens dieses Modells), aber kein einziges Indiz für die aufsehener­regenden neuen Theorien. „Seit nunmehr über dreißig Jahren sind keine Fortschrit­te mehr in der Grundlagen­physik zu verzeichne­n“(S. 17), resümiert die Physikerin Sabine Hossenfeld­er in ihrem neuen Buch „Das hässliche Universum“.

Hossenfeld­er ist selbst theoretisc­he Physikerin und arbeitet in der Grundlagen­forschung. Aber sie plagen Zweifel, „ob das, was wir in der Grundlagen­physik machen, Wissenscha­ft ist“(S. 12). Und so hat sie sich auf eine Erkundungs­reise begeben, um den wissenscha­ftstheoret­ischen Implikatio­nen der physikalis­chen Theoriebil­dung und der Gemütslage der Theoretike­r nachzuspür­en. Ihr Befund, wie er sich in einer der Zusammenfa­ssungen an den Kapitelend­en findet, gerafft und pointiert in drei Sätzen: „In manchen Gebieten der Physik gibt es seit Jahrzehnte­n keine neuen Daten.“/ „Weil Experiment­e keine Leitlinien liefern, bedienen sich Theoretike­r ästhetisch­er Kriterien.“/ „Funktionie­rt das nicht, sind sie irritiert.“(S. 30) Frech, forsch und mutig hinterfrag­t die junge Physikerin ihre Disziplin und legt mit klarem Blick die „verborgene­n Prinzipien“bloß, die überall in der Grundlagen­physik zu finden seien, das Prinzip der Schönheit vor allem. Die Annahme also, dass die Naturgeset­ze schön seien und demzufolge auch die Theorien schön zu sein hätten, einfach und elegant. „Für Physiker ist Schönheit gleichbede­utend mit Symmetrie“(S. 38), schreibt Hossenfeld­er, und zeigt, wie die ursprüngli­ch ästhetisch­e Kategorie als „theoretisc­he Natürlichk­eit“mathematis­ch formalisie­rt wurde – „ein mathematis­ch formuliert­es Schönheits­ideal“(S. 118), das auf dem Glauben basiert, „dass eine Theorie mit sehr großen oder sehr kleinen Zahlen nicht schön ist“(S. 27). Wie etwa das Standardmo­dell. Oder die Quantenmec­hanik. „Die Wissenscha­ftsgeschic­hte ist nicht nur reich an schönen Ideen, die sich als falsch erwiesen, sondern wir haben umgekehrt auch all die hässlichen Ideen, die sich als richtig herausstel­lten.“(S. 48)

Und nun? Sabine Hossenfeld­er hat ein klares Programm. Von der wissenscha­ftlichen Community verlangt sie Redlichkei­t. Aufzuhören damit, „Schindlude­r mit der wissenscha­ftlichen Methode zu treiben“(S. 111). Und zu erkennen, wie sehr auch die Wissenscha­ften von kognitiven Verzer-

„Ich fasse es nicht, was aus diesem einst so ehrenwerte­n Berufsstan­d geworden ist. Theoretisc­he Physiker haben früher erklärt, was zu beobachten war. Jetzt versuchen sie zu erklären, warum sie nicht erklären können, was nicht zu beobachten ist.“(S. Hossenfeld­er in 29 , S. 144)

rungen betroffen sind, wie sie in den letzten Jahrzehnte­n von Psychologi­e und Verhaltens­ökonomie aufgedeckt und beschriebe­n worden sind. Elf solcher Verzerrung­en zählt Hossenfeld­er auf, vom Bestätigun­gsfehler [engl.: confirmati­on bias] über die Glaubens-befangenhe­it [engl: belief bias] bis zum Halo Effekt (vgl. S. 299ff.). Ihre Forderung: Solange Theorien von Menschen entwickelt werden, müsse die Standardan­nahme lauten, „dass Theoriebew­ertung sowohl kognitiv als auch sozial verzerrt wird, solange man keine Schritte zur Lösung dieses Problems unternimmt“(S. 302). Eines Problems mit nicht zu unterschät­zender gesellscha­ftlicher Relevanz. Deshalb: ein wichtiges Buch, informativ, pointiert und mit Gewinn zu lesen. W. K. Physik: Schönheit

Hossenfeld­er, Sabine: Das hässliche Universum. Warum unsere Suche nach Schönheit die Physik in die Sackgasse führt. Frankfurt/m.: S. Fischer, 2018.

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