pro zukunft

Das große Bild

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Was nach Industrie 4.0 oder Arbeit 4.0 (also nach einer Etappe der industriel­len Entwicklun­g) klingt, ist der theoretisc­h ambitionie­rte Versuch, den historisch­en Umbruch, der mit der Einführung der elektronis­chen und digitalen Medien verbunden ist, als Beginn einer neuen Epoche der Menschheit­sgeschicht­e zu begreifen: als die vierte Medienepoc­he. Drei gingen ihr voraus: 1.0 Mündlichke­it, 2.0 Schriftlic­hkeit, 3.0 Buchdruck. Entspreche­nd den Gesellscha­ftsformen Stammesges­ellschaft, antike Gesellscha­ft, moderne Gesellscha­ft. Und nun die nächste Gesellscha­ft. Mit digitalen Medien als Epoche vier. Das stellt die digitale Transforma­tion in einen größeren, weiteren Rahmen. Holt sie heraus aus der beschränkt­en Weltsicht der How-tokonzepte, die den Diskurs maßgeblich prägen. Gerade wenn es um das Land und um seine Unternehme­n geht, ist die Frage „Wie werde ich möglichst schnell digital?“das bestimmend­e Motiv. Noch bevor man sich klar gemacht hat, worum es eigentlich geht, was Digitalisi­erung eigentlich ist, geht es ans Machen. Ans Aufholen, ans Hinterherr­ennen. Egal, in welche Richtung.

Gegen solchen Digitalakt­ionismus ist Dirk Baeckers Buch das angezeigte Gegenmitte­l. Es dekliniert durch, welche Bedeutung der Digitalisi­erung für die Gesellscha­ft als Ganzes wie in einzelnen gesellscha­ftlichen Feldern zukommt. Und es macht deutlich, dass Digitalisi­erung viel weiter geht, etwas viel Größeres ist, als ihre Thematisie­rung gemeinhin vermuten lässt. Baecker geht es um das große Bild, um die ganze Gesellscha­ft. Dabei steht der Inhaber des Lehrstuhls für Kulturtheo­rie und Management sowie Vorstand der Fakultät für Kulturrefl­exion an der Universitä­t Witten/herdecke auf den Schultern von Riesen, um das bekannte Bild zu bemühen. Von Niklas Luhmann entlehnt er das Konzept der Medienepoc­hen, von Peter Drucker, dem als Management­guru grob unterschät­zten österreich­isch-amerikanis­chen Ökonomen und Gesellscha­ftswissens­chaftler, den Begriff der nächsten Gesellscha­ft.

Baecker dekliniert das zusammen und gibt dieser Gesellscha­ft konzeption­ell Gestalt. „Die Strukturfo­rm der nächsten Gesellscha­ft ist nicht mehr die funktional­e Differenzi­erung, sondern das Netzwerk. An die Stelle sachlicher Rationalit­äten treten heterogene Spannungen, an die Stelle der Vernunft das Kalkül, an die Stelle der Wiederholu­ng die Varianz.“(S. 26) Die Kulturform dieser nächsten Gesellscha­ft ist die Komplexitä­t (vgl. S. 61), ihre Integratio­nsform die unbekannte Zukunft, „erfahren und bewältigt als Krise“(S. 94). Diese Unbekannth­eit der Zukunft war zwar schon der modernen Gesellscha­ft bekannt. Aber erst die nächste Gesellscha­ft zieht die Konsequenz­en daraus, sagt Baecker. Sie „stellt sich einer unbekannte­n Zukunft“(S. 93), so seine These, die er zur Überprüfun­g empfiehlt. Insgesamt haben seine in 26 Kapiteln (entspreche­nd 26 Thesen) dargeboten­en Überlegung­en den Charakter des Vorläufige­n, des Suchenden. Es sind eher „Probebohru­ngen“als Fundamente. Denn: „Die Theorie darf nicht schlüssige­r auftreten als die Gesellscha­ft, der sie gilt.“(S. 12) Das alles ist anspruchsv­oll und nicht leicht zu lesen. „Aber es steht auch viel auf dem Spiel“, sagt Baecker, „eine ganze Gesellscha­ft, letztlich.“W. K. Gesellscha­ftswandel

Baecker, Dirk: 4.0, oder Die Lücke die der Rechner lässt. Leipzig: Merve Verl., 2018.

240 S., € 22,- [D], 22,70 [A]

„Die Kulturform der nächsten Gesellscha­ft ist nicht mehr das Gleichgewi­cht, das Telos oder die Grenze, sondern die Komplexitä­t.“(Dirk Baecker in 32 , S. 61)

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