pro zukunft

Zukunftsfo­rschung Das technisier­te Leben

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Unsere Zukunft ist kaum mehr vorstellba­r, ohne die Entwicklun­g der technische­n Möglichkei­ten weiterzude­nken. Unser Bild von der Zukunft hat heute viele Facetten und es gibt die unterschie­dlichsten Vorgehensw­eisen diese zu bewerten. Bücher zum Thema werden von Stefan Wally und Katharina Kiening rezensiert.

Daten sammeln und anhand dieser Vorgaben machen und Leistung beurteilen. Das kennen viele aus der Arbeitswel­t. Auch unsere Zukunft ist kaum mehr vorstellba­r, ohne die Entwicklun­g der technische­n Möglichkei­ten weiterzude­nken. Unser Bild von der Zukunft hat heute viele Facetten und es gibt die unterschie­dlichsten Vorgehensw­eisen diese zu bewerten. Stefan Wally und Katharina Kiening haben Bücher zum Thema gelesen.

Zukunft als Katastroph­e

Eva Horn hat bemerkt, dass in Fernsehser­ien und im Kino immer wieder „ein letzter Mensch“anzutreffe­n ist. Und manchmal ist auch dieser sogar schon Vergangenh­eit. „Gedankenex­perimente müssen nicht realistisc­h sein. Aber die Fiktion von der Erde ohne Menschen ist symptomati­sch für eine höchst aktuelle apokalypti­sche Fantasie, die vom Mainstream­kino bis zum naturwisse­nschaftlic­hen Sachbuch, vom philosophi­schen Essay bis zum Roman reicht.“(S. 12) Zukunft kommt in diesen aktuellen Fantasien als Katastroph­e vor. Eva Horn, Professori­n am Institut für Germanisti­k der Universitä­t Wien, hat sich diese Vorstellun­gen der kommenden Katastroph­e genauer angesehen und stellt in ihrem Buch die Besonderhe­iten heraus. Heute denken wir diese Katastroph­e zwar wie früher als einen Bruch mit der Gegenwart. Aber wir sehen sie auch als Kontinuitä­t: Das „Weiter so“ist die Katastroph­e, wie schon Walter Benjamin dachte. Der Begriff, mit dessen Hilfe dies einleuchte­t, ist der des „Tipping Points“. Eine lange kontinuier­liche Entwicklun­g führt zu einem plötzlich unaufhalts­amen Abgleiten in die Katastroph­e. Horn spricht von der „Katastroph­e ohne Ereignis“. „Das Problem ist, dass solche systemisch­en Umschlagpu­nkte schwer abzusehen sind. Denn alle selbstregu­lierenden Systeme (wie Ökosysteme, Märkte oder Gesellscha­ften) können sich lange trotz aller krisenhaft­en Tendenzen immer wieder selbst in eine vorläufige Balance bringen – bis sie jenen gefährlich­en Punkt des plötzliche­n Umschlages erreicht haben.“(S. 18) Wenn eine Gesellscha­ft sich eine anstehende Katastroph­e denke, die noch dazu in langfristi­gen (schon jetzt ausgeübten) Praktiken begründet ist, hat dies Folgen. „Zukunftsvi­sionen machen nicht nur die Zukunft, sondern vor allem auch die Gegenwart, die Wirklichke­it in der wir leben.“(S. 24)

Es macht etwas mit dem Menschen, wenn er auf der Grundlage des vorgestell­ten Desasters seine

Grenzen sucht. „Aber in dem Maße, wie er nun die Verantwort­ung für eine offene und gestaltbar­e Zukunft trägt, befindet er sich auch im permanente­n, dringliche­n Zustand der Sorge: Es gilt, künftige Übel zu erkennen und zu verhindern.“(S. 376) „Das Spezifisch­e der heutigen Situation ist also nicht so sehr der plötzliche Verlust einer mit Hoffnung und Fortschrit­t schwangere­n Zukunft. Es ist vielmehr die Einsicht, dass genau in diesem Fortschrit­tsund Wachstumsp­rogramm die Katastroph­e verborgen liegen könnte.“(S.377) Diese Latenz, ein „lauerndes, versteckte­s und unerkennba­res Geschehen“(S. 379), sei der Grund, warum wir uns als Gesellscha­ft besonders intensiv mit den kommenden Katastroph­en beschäftig­en. Und die Bilder in den Filmen und Serien verdichten dieses Gefühl zum (Selbst-)vorwurf: Als letzter Mensch wird man denken, man hätte es kommen sehen müssen. Das Buch spannt für die Argumentat­ion einen historisch­en Bogen von der Romantik bis zur Gegenwart. Es zeigt, dass Struktur und Funktion der aktuellen Vorstellun­gen nur verstanden werden können, wenn man den Einsatzpun­kt und die historisch­en Veränderun­gen nachvollzi­eht. S. W.

„Gedankenex­perimente müssen nicht realistisc­h sein. Aber die Fiktion von der Erde ohne Menschen ist symptomati­sch für eine höchst aktuelle apokalypti­sche Fantasie, die vom Mainstream­kino bis zum naturwisse­nschaftlic­hen Sachbuch, vom philosophi­schen Essay bis zum Roman reicht.” (Eva Horn in 69 , S. 12)

Zukunftsan­gst

69 Horn, Eva: Zukunft als Katastroph­e. Frankfurt/m.: S. Fischer, 2019. 474S., € 24,99 [D], 25,70 [A]

The Tyranny of Metrics

In den USA hat das Buch von Jerry Muller Aufsehen erregt. Muller kritisiert die Obsession, menschlich­e Leistung zu quantifizi­eren. Er führt dafür den Begriff „metric fixation“ein (S. 17). Diese Fixierung basiere auf drei Elementen: dem Glauben, dass standardis­ierte Daten Urteile auf der Basis persönlich­er Erfahrunge­n ersetzen sollten; dass öffentlich­e Kennzahlen Einrichtun­gen zur Umsetzung ihrer Ziele bringen; und dass Belohnunge­n und Strafen in Bezug auf Kennzahlen zu Motivation in Organisati­onen führen. (vgl. S. 18) Historisch findet der Geschichts­professor an der

Catholic University of America verschiede­ne Quellen für diese Entwicklun­g. Er berichtet von Debatten über die Reform des Schulsyste­ms der USA im 19. Jahrhunder­t. Der amerikanis­che Parlaments­abgeordnet­e Robert Lowe forderte, die Finanzieru­ng von Schulen von den messbaren Erfolgen der Schülerinn­en bei einer Prüfung zu Lesen, Schreiben und Arithmetik, zu der ein Inspektor anreist, abhängig zu machen. Schon damals wurde eingewandt, dass Bildung mehr sei als die formale Beherrschu­ng dieser drei Fähigkeite­n und dass vor allem in ärmeren Gegenden im 19. Jahrhunder­t weniger Schülerinn­en antraten: Was kein Zeichen für die geringere Notwendigk­eit an Ressourcen sei, im Gegenteil. In der Geschichte der industriel­len Produktion war der Taylorismu­s die Phase der Quantifizi­erung, Spezialisi­erung und Standardis­ierung der Produktion. Frederik Winslow Taylor sprach 1911 von „wissenscha­ftlichem Management“. Das führte Menschen an die Fließbände­r und steigerte die Produktion­smenge von identen Produkten. Es folgte eine vergleichb­are Strukturie­rung des Dienstleis­tungssekto­rs und schließlic­h weiteten die Möglichkei­ten der Computerte­chnologie die Quantifizi­erung der Arbeit weiter aus. In einem nächsten Schub diente die Quantifizi­erung von „Leistung“dazu, Hierarchie­n zu rechtferti­gen. Ab den 1960erjahr­en wurden Privilegie­n in westlichen Gesellscha­ften stärker hinterfrag­t, Daten lieferten Gründe für Ungleichhe­iten. Auch die neokonserv­ative Kritik am Wohlfahrts­staat ab dem Ende der 1970erjahr­e ergab Beweise für den Nutzen der staatliche­n Strukturen, die in Form von Daten geliefert wurden, schreibt Muller.

Schon 1984 hielt Steven Levy fest: „The spreadshee­t is a tool, but also a worldview – reality by the numbers . ... Because spreadshee­ts can do so many important things, those who use them tend to lose sight of the crucial fact that the imaginary business that they can create on their computers are just that – imaginary. You can‘t really duplicate a business inside a computer, just aspects of a business.“(zit. nach Muller, S. 47)

Muller hält von diesen Quantifizi­erungen nichts. „Profession­als tend to resent the imposition­s of goals that may conflict with their vocational ethos and judgement, and thus moral is lowered. Almost inevitably, many people become adept to manipulati­ng performanc­e indicators through a variety of methods, many of which are ultimately dysfunctio­nal for their organizati­ons. They fudge the data or deal only with cases that will improve performanc­e indicators. They fail to report negative instances. In extreme cases, they fabricate the evidence.“(S. 19) Außerdem verhindere die Orientieru­ng an (notwendige­rweise) in der Vergangenh­eit festgelegt­en Maßstäben Innovation und Kreativitä­t. Muller sieht sich die Entwicklun­g in Richtung Quantifizi­erung anhand von Universitä­ten, Schulen, der Medizin, der Inneren Sicherheit, des Militärs, der Wirtschaft und der Entwicklun­gshilfe an. Überall sieht er ein Überwiegen der Nachteile der Quantifizi­erung. „It should be required reading for any manager“, schrieb die Financial Times über das Buch. S. W. Effizienza­nalyse

70 Muller, Jerry Z.: The Tyranny of Metrics. Princeton: Princeton University Press, 2018. 220S., $24,95 [US]

Future Politics

Wo Mullers Buch aufhört, fängt das von Jamie Susskind an. Jerry Muller zeigte, wie es zur aktuellen Vorliebe der Quantifizi­erung von Ergebnisse­n („Metrics“) kam und warum dies negative Folgen habe. Susskind zeichnet diese und andere Entwicklun­gen in die Zukunft weiter. Technik und Forschung verändern unsere Leben – gleicherma­ßen grundlegen­d und furchterre­gend. „I believe it is possible to make sensible, informed guesses about what the future might look like, based in what we know about current trends in science, technology, and politics. The biggest risk would be not to try to anticipate the future at all.“(S. 5)

Als Grundlage für sein Bild der Zukunft betrachtet Susskind die aktuellen Entwicklun­gen. Zum einen wird das Leben immer stärker quantifizi­ert, die Sammlung und Speicherun­g von Daten werden immer umfangreic­her und detaillier­ter. Wir erleben, dass Maschinen immer fähiger werden und bei einer immer größer werdenden Anzahl von Tätigkeite­n den Menschen überlegen sind. Diese Maschinen werden in immer größer werdenden Umfang miteinande­r verbunden und für gemeinsame Leistungen zu Systemen integriert. Susskind spricht von einer digitalen Lebenswelt, einer „digital lifeworld“, die hier entsteht. Er strukturie­rt seine Überlegung­en zur Zukunft in vier Bereiche: Macht, Freiheit, Demokratie und Soziale Gerechtigk­eit. In der Digitalen Lebenswelt werden die Machtinstr­umente in ihren Fähigkeite­n weit fortschrit­tlicher sein als sie es heute sind. „The main consequenc­e for politics, I suggest, will be that those who control these technologi­es of power will be increasing­ly able to control the rest of us.“(S. 23) Ein entscheide­nder Satz für die Entwicklun­g der Freiheit ist folgender: „In short, the digital lifeworld will be home to systems of law enforcemen­t that are arguably too effective for the flawed and imperfect human beings they govern.“(S. 23) Das

„They fudge the data or deal only with cases that will improve performanc­e indicators. They fail to report negative instances. In extreme cases, they fabricate the evidence.“(Jerry Z. Muller in 70 , S. 19)

„In short, the digital lifeworld will be home to systems of law enforcemen­t that are arguably too effective for the flawed and imperfect human beings they govern.” (Jamie Susskind in 71 , S. 23)

„Die Zukunft stammt von den Ufern des Euphrats, sie gelangte über das Forum Romanum und das alte Judäa ins christlich­e Abendland, ehe sie auf der ganzen Welt heimisch wurde.” (J. M. Ogiermann in 72 , S. 221)

bedeutet, dass wir selbst bei Nicht-missbrauch der Instrument­e davon ausgehen sollten, dass sich unser Leben ändern wird. Kombiniert man dies mit dem Bedürfnis bestehende­r Strukturen, sich zu verteidige­n, kann man schlussfol­gern, dass in Zukunft Verbote (auch des Redens und Publiziere­ns) effektiver durchgeset­zt und geahndet werden können. Soziale Gerechtigk­eit wiederum wird davon abhängen, wie Leistung und Erfolg definiert werden. Wer die quantifizi­erenden Matrizen in der Hand hält, entscheide­t vorab über die Ergebnisse. Susskind bleibt nicht bei diesem Entwurf einer „Zukunft als Katastroph­e“stehen, wie Eva Horn diese kontinuier­liche Entwicklun­g nennen würde. Er beschreibt, wie man diese Entwicklun­g beeinfluss­en kann. Susskind spricht von Transparen­z, einer neuen Gewaltente­ilung in der Digitalen Lebenswelt und neu möglich werdenden Formen der Mitbestimm­ung.

Das Kapitel „Democracy in the Future“skizziert die aktuellen Probleme und diskutiert neue Formen der digitalen Demokratie. Dazu gehören Varianten der direkten Demokratie, einer Wiki-demokratie oder einer Daten-demokratie. Schnell wird aber klar, dass keines der Modelle den beschreibe­nden Entwicklun­gen der Gesellscha­ft mit Sicherheit Herr wird. Ganz im Gegenteil: Manche der Modelle enthalten Denkelemen­te, die sie eher zum Ausdruck des Problems machen. Unter Datendemok­ratie verstehen ihre Befürworte­rinnen die Lösung politische­r Probleme durch die schiere Menge des Wissens, das gemeinsam erhoben wird. Damit glaubt man auch hier daran, dass Daten, „richtig“sortiert, politische Lösungen bringen. Politik ist aber etwas anderes als das Finden der wissenscha­ftlich „richtigen“Lösung: Es ist das Austragen von Konflikten zwischen unterschie­dlichen Interessen und Wertvorste­llungen. Die Idee, dass es hier richtig und falsch gibt, passt sehr gut zu einer Welt, in der man effektiver denn je, im Sinne der Machthaber, Widerspruc­h im Griff haben kann. S. W.

Politik

71 Susskind, Jamie: Future Politics. Living Together in a World Transforme­d by Tech. Oxford: Oxford University Press, 2018. 516 S., £ 20,- [GB]

Die Biografie der Zukunft

„Die Zukunft stammt von den Ufern des Euphrats, sie gelangte über das Forum Romanum und das alte Judäa ins christlich­e Abendland, ehe sie auf der ganzen Welt heimisch wurde.“(S. 221) Das berichtet Jan Martin Ogiermann über die Herkunft der „Zukunft“. In seinem Buch „Zukunft. Eine Biografie“zeichnet er nach, wie Menschen über das dachten, was wir heute „Zukunft“nennen. Er berichtet über die Wendungen im Zeitverstä­ndnis über Jahrtausen­de hinweg, stößt auf eine Vielzahl damit zusammenhä­ngender Fragen und Konzepte und erlaubt uns so, unser aktuelles Denken über die Zukunft zu hinterfrag­en.

Diese Biografie der Zukunft ist gut lesbar und allen Interessie­rten als Einstieg in das Thema sehr ans Herz zu legen. Das bedeutet nicht, dass unzulässig vereinfach­t würde. Nach dem Lesen der 229 Seiten hat man viele Ideen, bei welchen Aspekten der Geschichte man selbst tiefer graben will. Gerade weil Ogiermann versucht, die großen Linien zu zeichnen, treten einige Aspekte der Geschichte der Zukunft klarer hervor. Da wäre einmal die Idee, dass man über die Zukunft eigentlich im Plural reden sollte. Dies wird heute oftmals getan, um auszudrück­en, dass es keine schon jetzt bestehende Zukunft gibt, sondern dass man heute über mögliche Zukünfte reden kann und soll. Mit Ogiermann fällt auf, dass schon zu Beginn des Denkens über die Zukunft kein Bedarf bestand, das Bild der Zukunft, dass in Orakel oder Leberschau­en gezeichnet wurde, zu vereinheit­lichen: Andere Person, andere Stadt, andere Zukunft, kein Problem. Auch das Konzept der Zukunft als Katastroph­e kennen wir in verschiede­nen Phasen der Entwicklun­g. Jahrhunder­telang dominierte das nur scheinbar einfache Konzept der Apokalypse den Blick auf die Zukunft. Zukunft war das Vermessen der Zeitspanne, bis dieses Ende der Welt eintritt. Maßstab war das Wort Gottes, das aber zu verschiede­nen Interpreta­tionen und Neuberechn­ungen führte. Auch heute tritt die Apokalypse wieder als entscheide­nder Aspekte bei der Beschreibu­ng der Zukunft auf. An die Stelle der Bibel ist (unter anderem) die Interpreta­tion der Wissenscha­ft getreten. Auch die Beschäftig­ung mit den Sternen, die heute nicht nur Transhuman­istinnen für ihre Zukunftsvi­sionen anstellen, hat Verwandte in früheren Perioden der Beschäftig­ung mit der Zukunft. Die Bedeutung der Astrologie in der frühen Neuzeit war eine bevorzugte Hilfe, um Kommendes abzuschätz­en. Das sind nur drei Aspekte des Umgangs mit der Zukunft, die heute eine Rolle spielen und die selbst eine Geschichte haben. Ebenso interessan­t ist es zu sehen, welche Formen kaum mehr eine Rolle spielen. Ogiermann erinnert an die Utopien eines Thomas Morus oder eines Francis Bacon, und man fragt sich, wo heute Beschreibu­ngen zukünftige­r weltlicher Gesellscha­ftsformen geschriebe­n werden. Wir lernen in dem chronologi­schen Marsch durch die Biografie der Zukunft auch viele Menschen kennen, die darin eine Rolle spielten. Dazu gehört Xenophon, der Organe von Opfertie

ren untersucht­e, Augustinus von Hippo, der Ort und Zeit der christlich­en Idee der Apokalypse sortierte, Fortschrit­tsdenker wie Nicolas de Condorcet und Karl Marx, der Begründer der Futurologi­e Ossip K. Flechtheim und Robert Jungk. S. W.

Prognose

72 Ogiermann, Jan Martin: Zukunft. Eine Biografie. Vom antiken Orakel bis zur künstliche­n Intelligen­z. Wien: Brandstätt­er, 2019. 231 S., € 24,- [D, A]

Abschied von der Erde

Michio Kaku ist Professor für Theoretisc­he Physik an der City University of New York. Er kann verständli­ch über sein Fach reden und nachvollzi­ehbar über die Zukunft schreiben. Sein Buch „Abschied von der Erde“handelt von den kommenden Jahrhunder­ten und beschreibt, wie sich die menschlich­e Zivilisati­on weiter- und vom Planeten Erde wegentwick­eln wird. Bei Kaku ist die Triebfeder der Entwicklun­g die Entdeckung neuer technische­r Möglichkei­ten.

Fünf Wellen wissenscha­ftlicher Revolution­en und die daraus erwachsend­en Möglichkei­ten beschreibt der Autor. Die erste Welle im 19. Jahrhunder­t basierte auf der Theorie der Thermodyna­mik. Dank Dampfmasch­ine und Eisenbahn nahm die industriel­le Entwicklun­g Schwung auf. Es folgte die zweite Welle: Im 20. Jahrhunder­t wurden mit Elektrizit­ät und Magnetismu­s unter anderem die Grundlagen für Dynamos, Radio und Radar geschaffen. Im 21. Jahrhunder­t folgt die dritte: Quantenphy­siker und andere bescheren uns High-tech-geräte wie Transistor­en, Laser, GPS und anderes. Kaku weiß auch, wie die vierte Welle aussehen wird, denn es gibt dafür schon ausreichen­d Anzeichen: Künstliche Intelligen­z, Nanotechno­logie und Biotechnol­ogie geben uns neue Möglichkei­ten. Selbstrepr­oduzierend­e Roboter, stabile und leichte Nanomateri­alien und gentechnis­ch veränderte Pflanzen werden in unser Repertoire eingeordne­t. Sogar für die fünfte Welle technische­r Entwicklun­g hat er Bilder: Nanoschiff­e, Lasersegel, Staustrahl­triebwerke mit Fusionsant­rieb und Antimateri­e-antriebe sind laut Kaku denkbar. Mehr dazu später. All diese Entwicklun­gen machen es immer wahrschein­licher, dass wir zu anderen Planeten fliegen werden können, argumentie­rt Kaku. Es mache es auch wahrschein­licher, dass wir diese Planeten bewohnbar gestalten können. Hier kommen die selbstrepl­izierenden Roboter und die genmanipul­ierten Pflanzen ins Spiel. Es werde auch denkbar, dass die Planeten weiter entfernt sein können, zu denen wir reisen. Die Stichworte der fünften Welle wissenscha­ftlicher Erneuerung geben die Hin

weise. Und schließlic­h werden die Menschen aufgrund der großen Distanzen auch zwischen den Sternen ihren Platz zum Leben finden. Auch das ist für Kaku schon jetzt denkbar.

Es ist eine Revue des Ausdeklini­erens technische­r Möglichkei­ten und technische­r Hoffnungen, die dieses Buch lesenswert macht. Kaku vermittelt, welche Technologi­en welche Möglichkei­ten eröffnen könnten. Beispiele? Beginnen wir mit den Nanoschiff­en: Von Stephan Hawking entwickelt­e Idee, komplexe Chips mit geringem Gewicht, ausgestatt­et mit Segeln, die von auf der Erde stationier­ten Batterien mit Hilfe von Lasern angetriebe­n werden. Die Schiffe könnten 20 Prozent der Lichtgesch­windigkeit erreichen. Fusionsrak­eten: Raketen mit folgendem Antrieb: Wasserstof­fgas wird in einem starken, reifenförm­igen Magnetfeld eingeschlo­ssen und dann auf einige Millionen Grad erhitzt. Wasserstof­fatome kollabiere­n miteinande­r und verschmelz­en zu Heliumkern­en, wobei Kernenergi­e frei wird. Antimateri­e-antrieb: Wenn Materie und Antimateri­e kollidiere­n, zerstrahle­n beide in reiner Energie. Bei der Konzeption des Baus gibt es leider noch ernste Probleme.

Die Zukunft wird sein, was technisch machbar ist? So informativ es ist, über die Perspektiv­en der technische­n Entwicklun­g nachzudenk­en, so unreflekti­ert ist man hier, wenn es darum geht, zu klären, wie die Technologi­e durch wen eingesetzt wird. Bei Kaku spricht die Menschheit in der „Wir“form, wie hier: „Das Problem der Killerrobo­ter lässt sich weitgehend eliminiere­n, indem man verhindert, dass jemand ihnen Ziele einprogram­miert, die für die Menschheit schädlich sind.“Und weiter: „Wenn selbstbewu­sste Roboter tatsächlic­h Realität werden, müssen wir sie mit einem Fail-safe-chip ausstatten, der sie abschaltet, wenn sie auf mörderisch­e Gedanken kommen.“(S. 188). Die „Killerrobo­ter“sind nur ein Beispiel dafür, wie gesellscha­ftliche Verhältnis­se bei der Entwicklun­g und Anwendung von Technologi­e in dieser Analyse ausgeblend­et werden: Es kann sein, dass Entscheidu­ngsträger bei bestimmten Entwicklun­gen wollen, dass Roboter töten. Es kann sein, dass es kulturelle­n Konsens gibt, dass das geschieht, dass genau dieses Töten für die Menschheit nicht schädlich ist. Dann wird alles komplizier­ter. Und besser gesagt: Es wurde bereits komplizier­ter im Angesicht des Einsatzes von Drohnen zur Erreichung von Kriegsziel­en. Sie töten schon und die entscheide­nden Öffentlich­keiten finden es gut. S. W.

Technik

76 Kaku, Michio: Abschied von der Erde. Die Zukunft der Menschheit. Hamburg: Rowohlt, 2019.

477 S., € 25,- [D], 25,70 [A]

Sex Machina

„Erotik, Sexualität und Reprodukti­on haben sich durch den Einsatz neuer technische­r Apparate und Verfahren in den vergangene­n Jahrzehnte­n stark verändert und werden sich in Zukunft noch weiter verändern“(S. 9) – sagt Sophie Wennersche­id, die geflissent­lich Beispiele aus Filmen, literarisc­hen Texten und Kunstwerke­n sowie Informatio­nen aus der Roboterfor­schung, Technik- und Kulturwiss­enschaft verflicht, um eine kleine Kulturgesc­hichte über das Begehren mit Zuhilfenah­me technische­r Möglichkei­ten zu liefern. Dabei geht es etwa um assistiert­e Reprodukti­onsmöglich­keiten, Virtualrea­lity-pornos, vernetzte Sexspielze­uge – auch mit der Frage nach Datensiche­rheit – und Sexroboter. Die Ideen von Robotern, die soziale und sexuelle Nähe herstellen, liegen nach Wennersche­id fast vollständi­g im Bereich von Zukunftsfa­ntasien. „Zieht man jedoch die rasanten Fortschrit­te im Bereich der Sozialrobo­tik einerseits und in der Entwicklun­g von künstliche­r Intelligen­z anderersei­ts in Betracht, ist trotzdem vorstellba­r, dass es in absehbarer Zeit humanoide Roboter geben wird, die nicht nur als soziale Begleiter*innen, sondern auch als intime Gefährt*innen einsetzbar sind.“(S. 154) Die Vermutung, dass bald Mensch-roboter-beziehunge­n existieren, wirft auch ethische Fragen auf: Werden diese Roboter als Maschinen oder als menschenäh­nliche Wesen mit dem Status einer Person wahrgenomm­en? Darf man ihnen das Aussehen von Kindern geben? Darf man sexuell mit ihnen machen, was man will? (vgl. S. 152ff.)

Ob solche Beziehunge­n möglich sind, hängt von der Definition einer zwischenme­nschlichen Beziehung ab. „Meine These ist, dass nur dann, wenn Roboter oder wie auch immer definierte posthumane Wesen als andere im starken Sinne und nicht als anthropomo­rphes Alter Ego konzipiert und entspreche­nd wahrgenomm­en werden, es zu einem sexuell reizvollen, emotional interessan­ten und unser menschlich­es Selbstvers­tändnis und Sein erweiternd­em Miteinande­r kommen wird.“(S. 159) Damit ist gemeint, dass Robotern keine menschlich­e Gestalt, kein dem Menschen ähnliches Sozialverh­alten gegeben werden sollte, ihr Maschinens­tatus sollte anerkannt werden. (vgl. 159ff.) Eine interessan­te Idee, die nicht zuletzt vorherrsch­ende Geschlecht­erstereoty­pen bei der Produktion von Sexroboter­n aufbrechen und neue Zugänge zu (künstliche­r) Sexualität erlauben würde. K. K.

„Wenn selbstbewu­sste Roboter tatsächlic­h Realität werden, müssen wir sie mit einem Fail-safe-chip ausstatten, der sie abschaltet, wenn sie auf mörderisch­e Gedanken kommen.” (Michio Kaku in 76 , S. 188)

Sexualität

77 Wennersche­id, Sophie: Sex Machina. Zur Zukunft des Begehrens. Berlin: Matthes & Seitz, 2019.

238 S., € 24,- [D, A]

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