Zukunftsforschung Das technisierte Leben
Unsere Zukunft ist kaum mehr vorstellbar, ohne die Entwicklung der technischen Möglichkeiten weiterzudenken. Unser Bild von der Zukunft hat heute viele Facetten und es gibt die unterschiedlichsten Vorgehensweisen diese zu bewerten. Bücher zum Thema werden von Stefan Wally und Katharina Kiening rezensiert.
Daten sammeln und anhand dieser Vorgaben machen und Leistung beurteilen. Das kennen viele aus der Arbeitswelt. Auch unsere Zukunft ist kaum mehr vorstellbar, ohne die Entwicklung der technischen Möglichkeiten weiterzudenken. Unser Bild von der Zukunft hat heute viele Facetten und es gibt die unterschiedlichsten Vorgehensweisen diese zu bewerten. Stefan Wally und Katharina Kiening haben Bücher zum Thema gelesen.
Zukunft als Katastrophe
Eva Horn hat bemerkt, dass in Fernsehserien und im Kino immer wieder „ein letzter Mensch“anzutreffen ist. Und manchmal ist auch dieser sogar schon Vergangenheit. „Gedankenexperimente müssen nicht realistisch sein. Aber die Fiktion von der Erde ohne Menschen ist symptomatisch für eine höchst aktuelle apokalyptische Fantasie, die vom Mainstreamkino bis zum naturwissenschaftlichen Sachbuch, vom philosophischen Essay bis zum Roman reicht.“(S. 12) Zukunft kommt in diesen aktuellen Fantasien als Katastrophe vor. Eva Horn, Professorin am Institut für Germanistik der Universität Wien, hat sich diese Vorstellungen der kommenden Katastrophe genauer angesehen und stellt in ihrem Buch die Besonderheiten heraus. Heute denken wir diese Katastrophe zwar wie früher als einen Bruch mit der Gegenwart. Aber wir sehen sie auch als Kontinuität: Das „Weiter so“ist die Katastrophe, wie schon Walter Benjamin dachte. Der Begriff, mit dessen Hilfe dies einleuchtet, ist der des „Tipping Points“. Eine lange kontinuierliche Entwicklung führt zu einem plötzlich unaufhaltsamen Abgleiten in die Katastrophe. Horn spricht von der „Katastrophe ohne Ereignis“. „Das Problem ist, dass solche systemischen Umschlagpunkte schwer abzusehen sind. Denn alle selbstregulierenden Systeme (wie Ökosysteme, Märkte oder Gesellschaften) können sich lange trotz aller krisenhaften Tendenzen immer wieder selbst in eine vorläufige Balance bringen – bis sie jenen gefährlichen Punkt des plötzlichen Umschlages erreicht haben.“(S. 18) Wenn eine Gesellschaft sich eine anstehende Katastrophe denke, die noch dazu in langfristigen (schon jetzt ausgeübten) Praktiken begründet ist, hat dies Folgen. „Zukunftsvisionen machen nicht nur die Zukunft, sondern vor allem auch die Gegenwart, die Wirklichkeit in der wir leben.“(S. 24)
Es macht etwas mit dem Menschen, wenn er auf der Grundlage des vorgestellten Desasters seine
Grenzen sucht. „Aber in dem Maße, wie er nun die Verantwortung für eine offene und gestaltbare Zukunft trägt, befindet er sich auch im permanenten, dringlichen Zustand der Sorge: Es gilt, künftige Übel zu erkennen und zu verhindern.“(S. 376) „Das Spezifische der heutigen Situation ist also nicht so sehr der plötzliche Verlust einer mit Hoffnung und Fortschritt schwangeren Zukunft. Es ist vielmehr die Einsicht, dass genau in diesem Fortschrittsund Wachstumsprogramm die Katastrophe verborgen liegen könnte.“(S.377) Diese Latenz, ein „lauerndes, verstecktes und unerkennbares Geschehen“(S. 379), sei der Grund, warum wir uns als Gesellschaft besonders intensiv mit den kommenden Katastrophen beschäftigen. Und die Bilder in den Filmen und Serien verdichten dieses Gefühl zum (Selbst-)vorwurf: Als letzter Mensch wird man denken, man hätte es kommen sehen müssen. Das Buch spannt für die Argumentation einen historischen Bogen von der Romantik bis zur Gegenwart. Es zeigt, dass Struktur und Funktion der aktuellen Vorstellungen nur verstanden werden können, wenn man den Einsatzpunkt und die historischen Veränderungen nachvollzieht. S. W.
„Gedankenexperimente müssen nicht realistisch sein. Aber die Fiktion von der Erde ohne Menschen ist symptomatisch für eine höchst aktuelle apokalyptische Fantasie, die vom Mainstreamkino bis zum naturwissenschaftlichen Sachbuch, vom philosophischen Essay bis zum Roman reicht.” (Eva Horn in 69 , S. 12)
Zukunftsangst
69 Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe. Frankfurt/m.: S. Fischer, 2019. 474S., € 24,99 [D], 25,70 [A]
The Tyranny of Metrics
In den USA hat das Buch von Jerry Muller Aufsehen erregt. Muller kritisiert die Obsession, menschliche Leistung zu quantifizieren. Er führt dafür den Begriff „metric fixation“ein (S. 17). Diese Fixierung basiere auf drei Elementen: dem Glauben, dass standardisierte Daten Urteile auf der Basis persönlicher Erfahrungen ersetzen sollten; dass öffentliche Kennzahlen Einrichtungen zur Umsetzung ihrer Ziele bringen; und dass Belohnungen und Strafen in Bezug auf Kennzahlen zu Motivation in Organisationen führen. (vgl. S. 18) Historisch findet der Geschichtsprofessor an der
Catholic University of America verschiedene Quellen für diese Entwicklung. Er berichtet von Debatten über die Reform des Schulsystems der USA im 19. Jahrhundert. Der amerikanische Parlamentsabgeordnete Robert Lowe forderte, die Finanzierung von Schulen von den messbaren Erfolgen der Schülerinnen bei einer Prüfung zu Lesen, Schreiben und Arithmetik, zu der ein Inspektor anreist, abhängig zu machen. Schon damals wurde eingewandt, dass Bildung mehr sei als die formale Beherrschung dieser drei Fähigkeiten und dass vor allem in ärmeren Gegenden im 19. Jahrhundert weniger Schülerinnen antraten: Was kein Zeichen für die geringere Notwendigkeit an Ressourcen sei, im Gegenteil. In der Geschichte der industriellen Produktion war der Taylorismus die Phase der Quantifizierung, Spezialisierung und Standardisierung der Produktion. Frederik Winslow Taylor sprach 1911 von „wissenschaftlichem Management“. Das führte Menschen an die Fließbänder und steigerte die Produktionsmenge von identen Produkten. Es folgte eine vergleichbare Strukturierung des Dienstleistungssektors und schließlich weiteten die Möglichkeiten der Computertechnologie die Quantifizierung der Arbeit weiter aus. In einem nächsten Schub diente die Quantifizierung von „Leistung“dazu, Hierarchien zu rechtfertigen. Ab den 1960erjahren wurden Privilegien in westlichen Gesellschaften stärker hinterfragt, Daten lieferten Gründe für Ungleichheiten. Auch die neokonservative Kritik am Wohlfahrtsstaat ab dem Ende der 1970erjahre ergab Beweise für den Nutzen der staatlichen Strukturen, die in Form von Daten geliefert wurden, schreibt Muller.
Schon 1984 hielt Steven Levy fest: „The spreadsheet is a tool, but also a worldview – reality by the numbers . ... Because spreadsheets can do so many important things, those who use them tend to lose sight of the crucial fact that the imaginary business that they can create on their computers are just that – imaginary. You can‘t really duplicate a business inside a computer, just aspects of a business.“(zit. nach Muller, S. 47)
Muller hält von diesen Quantifizierungen nichts. „Professionals tend to resent the impositions of goals that may conflict with their vocational ethos and judgement, and thus moral is lowered. Almost inevitably, many people become adept to manipulating performance indicators through a variety of methods, many of which are ultimately dysfunctional for their organizations. They fudge the data or deal only with cases that will improve performance indicators. They fail to report negative instances. In extreme cases, they fabricate the evidence.“(S. 19) Außerdem verhindere die Orientierung an (notwendigerweise) in der Vergangenheit festgelegten Maßstäben Innovation und Kreativität. Muller sieht sich die Entwicklung in Richtung Quantifizierung anhand von Universitäten, Schulen, der Medizin, der Inneren Sicherheit, des Militärs, der Wirtschaft und der Entwicklungshilfe an. Überall sieht er ein Überwiegen der Nachteile der Quantifizierung. „It should be required reading for any manager“, schrieb die Financial Times über das Buch. S. W. Effizienzanalyse
70 Muller, Jerry Z.: The Tyranny of Metrics. Princeton: Princeton University Press, 2018. 220S., $24,95 [US]
Future Politics
Wo Mullers Buch aufhört, fängt das von Jamie Susskind an. Jerry Muller zeigte, wie es zur aktuellen Vorliebe der Quantifizierung von Ergebnissen („Metrics“) kam und warum dies negative Folgen habe. Susskind zeichnet diese und andere Entwicklungen in die Zukunft weiter. Technik und Forschung verändern unsere Leben – gleichermaßen grundlegend und furchterregend. „I believe it is possible to make sensible, informed guesses about what the future might look like, based in what we know about current trends in science, technology, and politics. The biggest risk would be not to try to anticipate the future at all.“(S. 5)
Als Grundlage für sein Bild der Zukunft betrachtet Susskind die aktuellen Entwicklungen. Zum einen wird das Leben immer stärker quantifiziert, die Sammlung und Speicherung von Daten werden immer umfangreicher und detaillierter. Wir erleben, dass Maschinen immer fähiger werden und bei einer immer größer werdenden Anzahl von Tätigkeiten den Menschen überlegen sind. Diese Maschinen werden in immer größer werdenden Umfang miteinander verbunden und für gemeinsame Leistungen zu Systemen integriert. Susskind spricht von einer digitalen Lebenswelt, einer „digital lifeworld“, die hier entsteht. Er strukturiert seine Überlegungen zur Zukunft in vier Bereiche: Macht, Freiheit, Demokratie und Soziale Gerechtigkeit. In der Digitalen Lebenswelt werden die Machtinstrumente in ihren Fähigkeiten weit fortschrittlicher sein als sie es heute sind. „The main consequence for politics, I suggest, will be that those who control these technologies of power will be increasingly able to control the rest of us.“(S. 23) Ein entscheidender Satz für die Entwicklung der Freiheit ist folgender: „In short, the digital lifeworld will be home to systems of law enforcement that are arguably too effective for the flawed and imperfect human beings they govern.“(S. 23) Das
„They fudge the data or deal only with cases that will improve performance indicators. They fail to report negative instances. In extreme cases, they fabricate the evidence.“(Jerry Z. Muller in 70 , S. 19)
„In short, the digital lifeworld will be home to systems of law enforcement that are arguably too effective for the flawed and imperfect human beings they govern.” (Jamie Susskind in 71 , S. 23)
„Die Zukunft stammt von den Ufern des Euphrats, sie gelangte über das Forum Romanum und das alte Judäa ins christliche Abendland, ehe sie auf der ganzen Welt heimisch wurde.” (J. M. Ogiermann in 72 , S. 221)
bedeutet, dass wir selbst bei Nicht-missbrauch der Instrumente davon ausgehen sollten, dass sich unser Leben ändern wird. Kombiniert man dies mit dem Bedürfnis bestehender Strukturen, sich zu verteidigen, kann man schlussfolgern, dass in Zukunft Verbote (auch des Redens und Publizierens) effektiver durchgesetzt und geahndet werden können. Soziale Gerechtigkeit wiederum wird davon abhängen, wie Leistung und Erfolg definiert werden. Wer die quantifizierenden Matrizen in der Hand hält, entscheidet vorab über die Ergebnisse. Susskind bleibt nicht bei diesem Entwurf einer „Zukunft als Katastrophe“stehen, wie Eva Horn diese kontinuierliche Entwicklung nennen würde. Er beschreibt, wie man diese Entwicklung beeinflussen kann. Susskind spricht von Transparenz, einer neuen Gewaltenteilung in der Digitalen Lebenswelt und neu möglich werdenden Formen der Mitbestimmung.
Das Kapitel „Democracy in the Future“skizziert die aktuellen Probleme und diskutiert neue Formen der digitalen Demokratie. Dazu gehören Varianten der direkten Demokratie, einer Wiki-demokratie oder einer Daten-demokratie. Schnell wird aber klar, dass keines der Modelle den beschreibenden Entwicklungen der Gesellschaft mit Sicherheit Herr wird. Ganz im Gegenteil: Manche der Modelle enthalten Denkelemente, die sie eher zum Ausdruck des Problems machen. Unter Datendemokratie verstehen ihre Befürworterinnen die Lösung politischer Probleme durch die schiere Menge des Wissens, das gemeinsam erhoben wird. Damit glaubt man auch hier daran, dass Daten, „richtig“sortiert, politische Lösungen bringen. Politik ist aber etwas anderes als das Finden der wissenschaftlich „richtigen“Lösung: Es ist das Austragen von Konflikten zwischen unterschiedlichen Interessen und Wertvorstellungen. Die Idee, dass es hier richtig und falsch gibt, passt sehr gut zu einer Welt, in der man effektiver denn je, im Sinne der Machthaber, Widerspruch im Griff haben kann. S. W.
Politik
71 Susskind, Jamie: Future Politics. Living Together in a World Transformed by Tech. Oxford: Oxford University Press, 2018. 516 S., £ 20,- [GB]
Die Biografie der Zukunft
„Die Zukunft stammt von den Ufern des Euphrats, sie gelangte über das Forum Romanum und das alte Judäa ins christliche Abendland, ehe sie auf der ganzen Welt heimisch wurde.“(S. 221) Das berichtet Jan Martin Ogiermann über die Herkunft der „Zukunft“. In seinem Buch „Zukunft. Eine Biografie“zeichnet er nach, wie Menschen über das dachten, was wir heute „Zukunft“nennen. Er berichtet über die Wendungen im Zeitverständnis über Jahrtausende hinweg, stößt auf eine Vielzahl damit zusammenhängender Fragen und Konzepte und erlaubt uns so, unser aktuelles Denken über die Zukunft zu hinterfragen.
Diese Biografie der Zukunft ist gut lesbar und allen Interessierten als Einstieg in das Thema sehr ans Herz zu legen. Das bedeutet nicht, dass unzulässig vereinfacht würde. Nach dem Lesen der 229 Seiten hat man viele Ideen, bei welchen Aspekten der Geschichte man selbst tiefer graben will. Gerade weil Ogiermann versucht, die großen Linien zu zeichnen, treten einige Aspekte der Geschichte der Zukunft klarer hervor. Da wäre einmal die Idee, dass man über die Zukunft eigentlich im Plural reden sollte. Dies wird heute oftmals getan, um auszudrücken, dass es keine schon jetzt bestehende Zukunft gibt, sondern dass man heute über mögliche Zukünfte reden kann und soll. Mit Ogiermann fällt auf, dass schon zu Beginn des Denkens über die Zukunft kein Bedarf bestand, das Bild der Zukunft, dass in Orakel oder Leberschauen gezeichnet wurde, zu vereinheitlichen: Andere Person, andere Stadt, andere Zukunft, kein Problem. Auch das Konzept der Zukunft als Katastrophe kennen wir in verschiedenen Phasen der Entwicklung. Jahrhundertelang dominierte das nur scheinbar einfache Konzept der Apokalypse den Blick auf die Zukunft. Zukunft war das Vermessen der Zeitspanne, bis dieses Ende der Welt eintritt. Maßstab war das Wort Gottes, das aber zu verschiedenen Interpretationen und Neuberechnungen führte. Auch heute tritt die Apokalypse wieder als entscheidender Aspekte bei der Beschreibung der Zukunft auf. An die Stelle der Bibel ist (unter anderem) die Interpretation der Wissenschaft getreten. Auch die Beschäftigung mit den Sternen, die heute nicht nur Transhumanistinnen für ihre Zukunftsvisionen anstellen, hat Verwandte in früheren Perioden der Beschäftigung mit der Zukunft. Die Bedeutung der Astrologie in der frühen Neuzeit war eine bevorzugte Hilfe, um Kommendes abzuschätzen. Das sind nur drei Aspekte des Umgangs mit der Zukunft, die heute eine Rolle spielen und die selbst eine Geschichte haben. Ebenso interessant ist es zu sehen, welche Formen kaum mehr eine Rolle spielen. Ogiermann erinnert an die Utopien eines Thomas Morus oder eines Francis Bacon, und man fragt sich, wo heute Beschreibungen zukünftiger weltlicher Gesellschaftsformen geschrieben werden. Wir lernen in dem chronologischen Marsch durch die Biografie der Zukunft auch viele Menschen kennen, die darin eine Rolle spielten. Dazu gehört Xenophon, der Organe von Opfertie
ren untersuchte, Augustinus von Hippo, der Ort und Zeit der christlichen Idee der Apokalypse sortierte, Fortschrittsdenker wie Nicolas de Condorcet und Karl Marx, der Begründer der Futurologie Ossip K. Flechtheim und Robert Jungk. S. W.
Prognose
72 Ogiermann, Jan Martin: Zukunft. Eine Biografie. Vom antiken Orakel bis zur künstlichen Intelligenz. Wien: Brandstätter, 2019. 231 S., € 24,- [D, A]
Abschied von der Erde
Michio Kaku ist Professor für Theoretische Physik an der City University of New York. Er kann verständlich über sein Fach reden und nachvollziehbar über die Zukunft schreiben. Sein Buch „Abschied von der Erde“handelt von den kommenden Jahrhunderten und beschreibt, wie sich die menschliche Zivilisation weiter- und vom Planeten Erde wegentwickeln wird. Bei Kaku ist die Triebfeder der Entwicklung die Entdeckung neuer technischer Möglichkeiten.
Fünf Wellen wissenschaftlicher Revolutionen und die daraus erwachsenden Möglichkeiten beschreibt der Autor. Die erste Welle im 19. Jahrhundert basierte auf der Theorie der Thermodynamik. Dank Dampfmaschine und Eisenbahn nahm die industrielle Entwicklung Schwung auf. Es folgte die zweite Welle: Im 20. Jahrhundert wurden mit Elektrizität und Magnetismus unter anderem die Grundlagen für Dynamos, Radio und Radar geschaffen. Im 21. Jahrhundert folgt die dritte: Quantenphysiker und andere bescheren uns High-tech-geräte wie Transistoren, Laser, GPS und anderes. Kaku weiß auch, wie die vierte Welle aussehen wird, denn es gibt dafür schon ausreichend Anzeichen: Künstliche Intelligenz, Nanotechnologie und Biotechnologie geben uns neue Möglichkeiten. Selbstreproduzierende Roboter, stabile und leichte Nanomaterialien und gentechnisch veränderte Pflanzen werden in unser Repertoire eingeordnet. Sogar für die fünfte Welle technischer Entwicklung hat er Bilder: Nanoschiffe, Lasersegel, Staustrahltriebwerke mit Fusionsantrieb und Antimaterie-antriebe sind laut Kaku denkbar. Mehr dazu später. All diese Entwicklungen machen es immer wahrscheinlicher, dass wir zu anderen Planeten fliegen werden können, argumentiert Kaku. Es mache es auch wahrscheinlicher, dass wir diese Planeten bewohnbar gestalten können. Hier kommen die selbstreplizierenden Roboter und die genmanipulierten Pflanzen ins Spiel. Es werde auch denkbar, dass die Planeten weiter entfernt sein können, zu denen wir reisen. Die Stichworte der fünften Welle wissenschaftlicher Erneuerung geben die Hin
weise. Und schließlich werden die Menschen aufgrund der großen Distanzen auch zwischen den Sternen ihren Platz zum Leben finden. Auch das ist für Kaku schon jetzt denkbar.
Es ist eine Revue des Ausdeklinierens technischer Möglichkeiten und technischer Hoffnungen, die dieses Buch lesenswert macht. Kaku vermittelt, welche Technologien welche Möglichkeiten eröffnen könnten. Beispiele? Beginnen wir mit den Nanoschiffen: Von Stephan Hawking entwickelte Idee, komplexe Chips mit geringem Gewicht, ausgestattet mit Segeln, die von auf der Erde stationierten Batterien mit Hilfe von Lasern angetrieben werden. Die Schiffe könnten 20 Prozent der Lichtgeschwindigkeit erreichen. Fusionsraketen: Raketen mit folgendem Antrieb: Wasserstoffgas wird in einem starken, reifenförmigen Magnetfeld eingeschlossen und dann auf einige Millionen Grad erhitzt. Wasserstoffatome kollabieren miteinander und verschmelzen zu Heliumkernen, wobei Kernenergie frei wird. Antimaterie-antrieb: Wenn Materie und Antimaterie kollidieren, zerstrahlen beide in reiner Energie. Bei der Konzeption des Baus gibt es leider noch ernste Probleme.
Die Zukunft wird sein, was technisch machbar ist? So informativ es ist, über die Perspektiven der technischen Entwicklung nachzudenken, so unreflektiert ist man hier, wenn es darum geht, zu klären, wie die Technologie durch wen eingesetzt wird. Bei Kaku spricht die Menschheit in der „Wir“form, wie hier: „Das Problem der Killerroboter lässt sich weitgehend eliminieren, indem man verhindert, dass jemand ihnen Ziele einprogrammiert, die für die Menschheit schädlich sind.“Und weiter: „Wenn selbstbewusste Roboter tatsächlich Realität werden, müssen wir sie mit einem Fail-safe-chip ausstatten, der sie abschaltet, wenn sie auf mörderische Gedanken kommen.“(S. 188). Die „Killerroboter“sind nur ein Beispiel dafür, wie gesellschaftliche Verhältnisse bei der Entwicklung und Anwendung von Technologie in dieser Analyse ausgeblendet werden: Es kann sein, dass Entscheidungsträger bei bestimmten Entwicklungen wollen, dass Roboter töten. Es kann sein, dass es kulturellen Konsens gibt, dass das geschieht, dass genau dieses Töten für die Menschheit nicht schädlich ist. Dann wird alles komplizierter. Und besser gesagt: Es wurde bereits komplizierter im Angesicht des Einsatzes von Drohnen zur Erreichung von Kriegszielen. Sie töten schon und die entscheidenden Öffentlichkeiten finden es gut. S. W.
Technik
76 Kaku, Michio: Abschied von der Erde. Die Zukunft der Menschheit. Hamburg: Rowohlt, 2019.
477 S., € 25,- [D], 25,70 [A]
Sex Machina
„Erotik, Sexualität und Reproduktion haben sich durch den Einsatz neuer technischer Apparate und Verfahren in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert und werden sich in Zukunft noch weiter verändern“(S. 9) – sagt Sophie Wennerscheid, die geflissentlich Beispiele aus Filmen, literarischen Texten und Kunstwerken sowie Informationen aus der Roboterforschung, Technik- und Kulturwissenschaft verflicht, um eine kleine Kulturgeschichte über das Begehren mit Zuhilfenahme technischer Möglichkeiten zu liefern. Dabei geht es etwa um assistierte Reproduktionsmöglichkeiten, Virtualreality-pornos, vernetzte Sexspielzeuge – auch mit der Frage nach Datensicherheit – und Sexroboter. Die Ideen von Robotern, die soziale und sexuelle Nähe herstellen, liegen nach Wennerscheid fast vollständig im Bereich von Zukunftsfantasien. „Zieht man jedoch die rasanten Fortschritte im Bereich der Sozialrobotik einerseits und in der Entwicklung von künstlicher Intelligenz andererseits in Betracht, ist trotzdem vorstellbar, dass es in absehbarer Zeit humanoide Roboter geben wird, die nicht nur als soziale Begleiter*innen, sondern auch als intime Gefährt*innen einsetzbar sind.“(S. 154) Die Vermutung, dass bald Mensch-roboter-beziehungen existieren, wirft auch ethische Fragen auf: Werden diese Roboter als Maschinen oder als menschenähnliche Wesen mit dem Status einer Person wahrgenommen? Darf man ihnen das Aussehen von Kindern geben? Darf man sexuell mit ihnen machen, was man will? (vgl. S. 152ff.)
Ob solche Beziehungen möglich sind, hängt von der Definition einer zwischenmenschlichen Beziehung ab. „Meine These ist, dass nur dann, wenn Roboter oder wie auch immer definierte posthumane Wesen als andere im starken Sinne und nicht als anthropomorphes Alter Ego konzipiert und entsprechend wahrgenommen werden, es zu einem sexuell reizvollen, emotional interessanten und unser menschliches Selbstverständnis und Sein erweiterndem Miteinander kommen wird.“(S. 159) Damit ist gemeint, dass Robotern keine menschliche Gestalt, kein dem Menschen ähnliches Sozialverhalten gegeben werden sollte, ihr Maschinenstatus sollte anerkannt werden. (vgl. 159ff.) Eine interessante Idee, die nicht zuletzt vorherrschende Geschlechterstereotypen bei der Produktion von Sexrobotern aufbrechen und neue Zugänge zu (künstlicher) Sexualität erlauben würde. K. K.
„Wenn selbstbewusste Roboter tatsächlich Realität werden, müssen wir sie mit einem Fail-safe-chip ausstatten, der sie abschaltet, wenn sie auf mörderische Gedanken kommen.” (Michio Kaku in 76 , S. 188)
Sexualität
77 Wennerscheid, Sophie: Sex Machina. Zur Zukunft des Begehrens. Berlin: Matthes & Seitz, 2019.
238 S., € 24,- [D, A]