Sozialwissenschaft Veränderung, Verschleierung, Grenzen
Von Heterotopien, realen Utopien, Solidarität, einem sozialen Kapitalismus und Grenzen handelt dieses Kapitel.
Die von Josef Hörmandinger, Hans Holzinger und Katharina Kiening vorgestellten Bücher zeigen, wie vielfältig und konstruktiv unterschiedlich Ansätze in den Sozialwissenschaften sein können.
Von Heterotopien, realen Utopien, einem sozialen Kapitalismus, dem Schweigen der Lämmer sowie der Ambivalenz von Grenzen handelt dieses Kapitel. Die von Josef Hörmandinger, Hans Holzinger und Katharina Kiening vorgestellten Bücher zeigen, wie vielfältig und konstruktiv unterschiedlich Ansätze in den Sozialwissenschaften sein können. Alles könnte anders sein
„Die Veränderungsdynamik, die mit der Ökologiebewegung der 1970er aufgekommen ist, ist längst abgeebbt, ja, der modernen Gesellschaft insgesamt scheint jegliche Vorstellung abhandengekommen zu sein, dass sie anders, besser sein könnte, als sie ist.“(S. 16) So der Befund des Soziologen Harald Welzer in Anspielung auf den Titel seines neuen Buches. In „Alles könnte anders sein“plädiert Welzer für das „Weiterbauen an der Zivilisation der Moderne“. (S. 40) Denn es sei beileibe nicht alles schlecht: die „offene moderne Gesellschaft“eröffne ihren Mitgliedern „die größtmögliche Freiheit, über die Menschen je verfügen durften“(S. 23). Der Haken dabei: „Der Stoffwechsel, auf dem dieser Fortschritt beruht, ist nicht fortsetzbar im 21. Jahrhundert“(S. 25). Die doppelte Herausforderung bestehe daher darin, die Demokratie zu verteidigen und sie auf der Basis eines neuen Naturverständnisses weiterzuentwickeln. Siebzehn Bausteine skizziert Welzer – von ihm selbst in Anspielung an das bekannte Kinderspielzeug „Legos“genannt – für eine weiterentwickelte Moderne. Basis sei eine gerechte Wirtschaft, die es jedem Menschen ermögliche, seine Potenziale zu entfalten. Hoch veranschlagt Welzer „Autonomie“als „Selbst sein können und wollen“(S. 90) sowie die Erkenntnis, dass wir in einer Welt leben. Die Flüchtlinge würden uns daran erinnern und deswegen so starke Ablehnung erfahren: „Die Überlebensbedürfnisse der einen scheinen die Komfortbedürfnisse der anderen zu bedrohen. Das reicht schon aus für die Aktivierung von Gegenmenschlichkeit“(S. 105). Der Soziologe fordert offene Grenzen und eine Reduzierung des Konsums aus Gerechtigkeitsgründen. Er verspricht uns aber Zugewinne in punkto Lebensqualität jenseits des Konsumismus: wir würden in Zukunft weniger arbeiten (müssen),die Staatsfinanzierung würde sich von der Arbeit entkoppeln, ehrenamtliches Engagement Sinnstiftung ermöglichen. Welzer referiert hier ein von Studierenden einer seiner Lehrveranstaltungen entwickeltes „80:20 Modell“, demgemäß jeder Mensch 20 Prozent seiner bisherigen Arbeitszeit für ehrenamtliche Tätigkeit verwenden können solle, finanziert durch eine Art Teil-grundeinkommen. Dazu passen weitere Bausteine,
die im Buch beschrieben werden, wie Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Solidarität, menschliche Beziehungen, Freundlichkeit und nicht getaktete Zeit. Mit „Institutionen“und „Infrastrukturen“kommt Welzer schließlich nochmals auf Fundamente unserer Zivilisation zu sprechen, die nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden sollten. Abschließend geht es um die Frage, wie der Wandel angestoßen werden könne. Welzer spricht von einem „neuen Realismus“und „Heterotopien“, also vielfältigen Neuansätzen an vielen Orten, die einander befruchten. Anders: „Das Weiterbauen am zivilisatorischen Projekt ist eine kombinatorische Arbeit, keine Revolution.“(S. 186) Welzers Hoffnung dabei: „Mehrheiten gehen immer mit dem Wind. Sie schließen sich an, wenn man das Richtige überzeugend vorführen kann.“(ebd.) Dazu brauche es nicht nur schöne Ideen, sondern viele Praxisbeispiele und Erprobungen – dies liegt dem von Welzer betreuten Projekt „Futur2“zu Grunde. Ein lesenswertes Buch mit vielen Vorschlägen, die nicht immer neu sind, hier aber zu einem Puzzle einer anderen, aufgeklärten Moderne zusammengefügt werden. Ob das Setzen auf viele kleine Veränderungen von unten letztlich reichen wird, um der Wucht kapitalistischen Expansionsstrebens genügend Sand ins Getriebe zu streuen, wird die Geschichte weisen. H. H.
„Die Menschenfeinde bilden nicht nur eine Gefahr für die Ausgegrenzten und Diskriminierten, sondern für alle jene, die eine liberale, freundliche, friedliche Gesellschaft wollen.“(Harald Welzer in 78 , S. 31)
Sozialer Wandel
78 Welzer, Harald: Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. Frankfurt/m.: S. Fischer, 2019. 320 S., € 22,- [D], 22,70 [A]
Utopien für Realisten
Rutger Bregman setzt bei Errungenschaften der Moderne an, was in den Wohlstandsländern an einem hohen BIP und an Indikatoren wie einer stark gestiegenen Lebenserwartung, dem drastischen Rückgang der Gewalt oder Alterseinkommen ohne Arbeit abzulesen sei. Die mittelalterliche Utopie eines Lebens in Fülle sei für immer mehr Menschen in Erfüllung gegangen. Doch dürften wir dabei nicht stehen bleiben, denn wir blieben unter dem, was möglich ist, weit zurück: „Warum arbeiten wir heute härter als in den achtziger Jahren, obwohl wir reicher sind als je zuvor? Warum leben immer noch Millionen Menschen in Armut, obwohl wir
„Heimat ist dort, wo es nicht egal ist, ob es mich gibt.“(Harald Welzer in 78 , S. 201)
„Im modernen Kapitalismus müssen wir die Dinge, die unserem Leben Sinn geben, mit dem Ertrag überflüssiger Aktivitäten finanzieren.” (Rutger Bregman in 79 , S. 256)
reich genug sind, um der Armut ein für alle Mal ein Ende zu machen?“(S. 21)
Der Journalist, im Klappentext des Buches als „einer der prominentesten jungen Intellektuellen Europas“bezeichnet, fordert größere Sprünge. Er kritisiert die zaghafte Politik, die sich gegen grundlegende Veränderungen wehre. Krisen bedeuten Weggabelungen, die zu Neuem führen. Wir befänden uns jedoch in einer Art „Koma“, einem „tiefen, traumlosen Schlaf“(S. 241), unfähig neue Utopien zu denken und eine offene Welt zu wagen. Die Zukunft sei bereits da, nur sehr ungleichmäßig verteilt, so eine Anspielung auf die globalen Ungerechtigkeiten. Nicht mehr die Klassenzugehörigkeit, sondern der Ort, an dem man geboren wird, entscheide heute über das Schicksal eines Menschen. Bregman hat insbesondere drei große, im Untertitel des Buches angeführte Zukunftsutopien im Blick, die er aber für durchaus real hält: eine 15-Stundenwoche, offene Grenzen und ein universelles Grundeinkommen. Man müsse mehr fordern, um die Geschichte voranzubringen, meint der Autor. Hier versage die heutige Sozialdemokratie, die viel zu vorsichtig agiere. Bregman spricht von „Underdog-sozialisten“(S. 257). Wie der deutsche Popphilosoph Richard David Precht geht Bregman davon aus, dass die Digitalisierung weitere Arbeitsplätze kosten werde. Er kritisiert aber auch die vielen gut bezahlten, sinnlosen Jobs etwa im Management von Konzernen. „Je mehr Wohlstand an der Spitze konzentriert ist, desto größer wird die Nachfrage nach Firmenanwälten, Lobbyisten und Hochfrequenztradern.“(S. 165) Der Wohlfahrtsstaat bekämpfe nur mehr Symptome, nicht „die Ursachen unserer Unzufriedenheit“(S. 24). Die „globale Apartheit“(S. 218) werde nicht durch die Brosamen von Entwicklungshilfe gelindert, sondern durch die Möglichkeit, sich Wohlstand zu schaffen. Dies erfordere die Abkehr von der Abschottung der Wohlstandsländer: „In der Ära der Globalisierung leben nur drei Prozent der Weltbevölkerung außerhalb ihres Geburtslandes.“(S. 213) Würden alle entwickelten Länder nur drei Prozent mehr Einwanderer aufnehmen, so hätten die Armen der Welt 305 Milliarden Dollar mehr zur Verfügung, was mehr als dem Doppelten der gegenwärtigen Entwicklungshilfe entspricht, zitiert Bregman eine Weltbankstudie (S. 228). Sein Versprechen: „Offene Grenzen würden die ganze Welt doppelt so reich machen, wie sie heute ist.“(S. 212) Bleibt das universelle Grundeinkommen. Dieses würde nicht nur den materiellen Reichtum fairer verteilen, sondern auch neue Potenziale für Entwicklung freilegen. Bregman bezieht sich hier auf vergleichende Studien, die zeigen würden, dass direkte Zuwendungen an Arme diesen am besten helfen, deren Lebenssituation zu verbessern. Eltern würden Kinder in die Schule schicken, wenn sie dort Essen bekommen, nicht Schulbücher. Das Grundeinkommen – so ein zitiertes Projekt aus Namibia der britischen NGO „Givedirectly“– ermögliche es Menschen, sich eine eigene Existenz aufzubauen. In den Wohlstandsländern würde, so Bregman, das Grundeinkommen dazu beitragen, Ausgrenzung zu überwinden („Das Hauptproblem eines Obdachlosen ist, dass er kein Dach über dem Kopf hat.“, S. 78) und die vielen sinnlosen Arbeiten abzustellen, die derzeit verrichtet werden, nur um Arbeitslosigkeit gering zu halten. „Solange wir von Arbeit, Arbeit und noch mehr Arbeit besessen sind, obwohl nützliche Tätigkeiten weiter automatisiert oder fremdbeschafft werden, wird die Zahl der überflüssigen Jobs nur weiterwachsen.“(S. 164) Wie realistisch sind Bregmans „reale“Utopien? Eine Ökonomie, in der die Geldeinkommen die Arbeitseinkommen immer mehr übersteigen und in der die Umweltzerstörung rasant voranschreitet – worauf der Autor interessanterweise nur am Rande eingeht –, erfordert neue Weichenstellungen. In diesem Sinne befruchten die hier mit Eloquenz und Optimismus dargelegten Vorschläge die Debatte um einen grundsätzlichen Kurswechsel. Wenn auch manches flapsig daherkommt, etwa der Blutzoll ausgespart wird, auf dem der Kapitalismus errichtet wurde, und unklar bleibt, wie etwa ein universelles Grundeinkommen finanziert werden soll: Wer mehr fordert, hat größere Chancen, dass das Unmögliche irgendwann möglich wird. H. H.
Utopie
79 Bregman, Rutger: Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen. Hamburg: Rowohlt, 2019. 303 S., € 10,- [D], 10,30 [A]
100 Karten
Ein Bildband, der zum Lachen, Nachdenken und Perspektivenwechseln einlädt. Da gibt es einige belanglos-amüsante Grafiken über Stromverbrauch in Europa im Jahr 1500 oder Saudi-arabien, dargestellt anhand seiner Flüsse. Da wird gezeigt, wie sich Dialekte im deutschen Sprachraum unterscheiden, wie sich der Schienenverkehr in Japan und Neuseeland gestaltet, wo Ernst Hemingway im Gegensatz zu Immanuel Kant überall hingereist ist. Und dann finden sich da auch viele gesellschaftlich-politische Grafiken mit kurzen Texten, die oftmals übergangene Themen eindrücklich darstellen, etwa die Milchleistung und Lebenserwartung einer Kuh im Wandel der Zeit, bedrohte Sprachen sowie
nicht anerkannte Staaten und Autonomiebewegungen in Europa, Ungleichheit und Alkoholkonsum im weltweiten Vergleich. Herausgegeben wurde das Buch von KATAPULT, einem Magazin, das seit 2015 Statistiken und Studien der Sozialwissenschaft in Form von vereinfachten Infografiken und Karten darstellt, um wissenschaftliche Forschungsergebnisse allgemein und einfach zugänglich zu machen. Mit „100 Karten, die deine Sicht auf die Welt verändern“ist das auf jeden Fall gelungen. K. K.
Weltbild
80 100 Karten, die deine Sicht auf die Welt verändern. Hrsg. v. Katapult. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2019. 205 S., € 20,- [D], 20,60 [A]
Warum schweigen die Lämmer?
Rainer Mausfeld ist Experte für Wahrnehmungsund Kognitionsforschung. In seinem Buch „Warum schweigen die Lämmer?“geht es nicht um Tierschutz, sondern um Techniken, „durch die sich das Bewusstsein der Machtunterworfenen in geeigneter Weise manipulieren lässt“(S. 17). Die zentrale These des Autors: Wir leben in einer Fassadendemokratie, dürfen alle paar Jahre wählen und uns über Skandale empören, doch tatsächliche Machtfragen bleiben ausgespart. „In einer Elitendemokratie gibt es zwar formale demokratische Elemente, doch sind sie strukturell auf ein Minimum reduziert.“(S. 16) Die demokratische Rhetorik verhindere somit, dass es zu Aufständen kommt. Zudem hätten wir problematische Zustände „lediglich an andere Orte der Welt outgesourct“(S. 11). „Das innerpsychische Spannungsverhältnis zwischen der durch Partikularinteressen bestimmten persönlichen Perspektive und einer im Sinne der Aufklärung universalisierbaren überpersönlichen Perspektive gemeinsamer sozialer und ökologischer Interessen“sei jedoch zentral für eine andere Weltentwicklung (S. 19). Ziel müsse sein, die „systemisch erzeugte Entpolitisierung der Bevölkerung zu überwinden“(S. 20).
In neun Kapiteln widmet sich Mausfeld diversen Aspekten der Verschleierung von Macht: dem Verschweigen bzw. Schönreden von Kriegsverbrechen und Verletzungen moralischer Normen (S. 23ff.), dem „Demokratiemanagement durch Soft-powertechniken“(57ff.), der neoliberalen Indoktrination (S. 155ff.) sowie jener durch die Medien (S. 153ff.), der „Einschränkung des öffentlichen Debattenraums und der Ächtung von Dissens“(S. 173ff.) sowie dem „Phantom Mitte“mit „Kartellparteien“, die nicht den Bürgerinnen, sondern den Interessen relevanter Machtgruppierungen verpflichtet seien,
„Die naturrechtliche Gleichheit aller Menschen und die sich daraus ergebenden Rechte können nur durch eine konsequente Demokratisierung und radikale soziale Reformen gesellschaftlich umgesetzt werden.” (Rainer Mausfeld in 84 , S. 104)
„Alle Machtstrukturen haben ihre Existenzberechtigung nachzuweisen und sich der Öffentlichkeit gegenüber zu rechtfertigen, sonst sind sie illegitim und daher zu beseitigen.” (Rainer Mausfeld in 84 , S. 105)
wie etwa die Formulierung „Notwendigkeiten des Marktes“suggeriere (S. 236ff.). Das letzte Kapitel beschreibt Beiträge der Psychologie zu immer feineren Foltermethoden.
Viele Aspekte behandelt Mausfeld in seinen auf Vorträgen basierenden Ausführungen. Nur einige können hier erwähnt werden. Dass wenig gebildete Menschen mit Angst geködert und verführt werden, ist bekannt. Dass Gebildete sich durch ihre Informiertheit als engagiert wähnen, jedoch damit nichts zur Veränderung beitragen, sollte uns zu denken geben. Als „Techniken der Mentalvergiftung“(S. 72) bezeichnet Mausfeld daher nicht nur die systematische Erzeugung von Angst und Hass, sondern auch die „Zerstreuung durch eine mediale Überflutung mit Nichtigkeiten, Konsumismus, Ausbildung von ‚Falsch-identitäten‘ oder Infantilisierung“(S. 73). Auch Denunziationsbegriffe wie „Antiamerikanismus“, „Verschwörungstheorie“oder – das ist brisant –„Querfront“(Infizierung radikaler Kapitalismuskritik mit rechtem Gedankengut, S. 42f.), gutmeinende NGOS, die „die Aufmerksamkeit von den eigentlichen Wurzeln gesellschaftlicher oder sozialer Probleme ablenken und auf geeignete Scheinziele der Symptombewältigung lenken“(S. 88) sowie die Reduzierung von Demokratie auf ein Repräsentativsystem nennt der Autor als Barrieren für wirksame Veränderung. Dazu komme die Ideologie des Neoliberalismus, „welche die bewussten Entscheidungen der Eliten als bloße Konsequenzen rationaler Naturgesetzlichkeiten“(S. 99) darstelle und Großkonzerne mit Rechten ausstatte, die sie jeder Rechenschaftspflicht entziehen. Mausfeld spricht von einer „systematischen Verrechtlichung der organisierten Kriminalität der besitzenden Klasse“(ebd.).
Wo sieht der Autor Auswege? Er beruft sich auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung von 1789, die von der naturrechtlichen Gleichheit aller Menschen ausgeht. Im Kern der Aufklärung stehe der mündige Bürger, der aus den Fesseln seiner Vorurteile befreit werde. Mausfeld spricht von einem „humanitären Universalismus“(S. 104), der Menschen als autonome Wesen wahrnimmt. Dies erfordere eine radikale Demokratie, das Recht auf politische Selbstbestimmung und „umfassende demokratische Mitwirkung an allen relevanten gesellschaftlichen Aspekten“(S. 105). Die Wirtschaft dürfe daher nicht von demokratischer Legitimation und Kontrolle ausgeklammert werden. Mausfeld liefert kein Patentrezept, er weist auf Fallen der praktizierten repräsentativen Demokratie sowie der öffentlichen Debatten und Diskurse hin. Offen bleibt, wie eine partizipatorische Demokratie konkret aussehen sollte und welche Wirtschaftsstrukturen, die wohl stark dezentralisiert sein müssten, diese erforderte. So bleibt als Erkenntnis, einen klaren Kopf zu behalten, Machtstrukturen zu hinterfragen – ebenso die Rolle der Medien – und sich alternative Informationsquellen zu suchen. Dazu zählt dieses Buch auf alle Fälle. H. H.
Deutschland
84 Mausfeld, Rainer: Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören. Frankfurt/m.: Westend, 2018. 303 S., € 24,- [D], 24,70 [A]
Hilfe? Hilfe!
Wir alle kennen die Frage: Wie konnte, wie kann so etwas geschehen, wie können einige wenige die Mehrheit dazu bringen, zu schweigen, wegzuschauen, still oder sogar aktiv Komplizin und Komplize zu werden? Seit Johan Galtung bekommen wir das Phänomen der strukturellen Gewalt ein bisschen besser in den Griff und wissen auch, dass wir natürlich etwas gegen sie tun können. Zumindest außerhalb der Komfortzone.
Der Psychologe und langjährige Geschäftsführer der Hilfsorganisation medico international Thomas Gebauer und der Schriftsteller Ilija Trojanow haben ein Buch über das geschrieben, was gewöhnlich unter den Schlagwörtern „Entwicklungshilfe“oder – euphemistischer ausgedrückt – „Entwicklungszusammenarbeit“diskutiert wird. Mit Euphemismen räumen die Autoren allerdings von Anfang an auf. Konzepte wie „Philanthrokapitalismus“, „effektiver Altruismus“oder „Resilienz“werden demaskiert und die dahinter liegenden Motivationen und verdeckten Wirkungsweisen ans Tageslicht gebracht. Das Buch legt dar, wie Menschenrechte und Solidarität der Logik der Kommodifizierung unterworfen und selbst zur Ware werden. Es wird beschrieben, wie dabei jeder Versuch, ungerechte und unmenschliche Strukturen zu verändern, im Keim erstickt wird, zumal dann, wenn er die bestehende Machtkonstellation in Frage stellt. Die Autoren scheuen sich dabei nicht, gefeierte Konzepte wie das Microkredit-wesen oder die Rolle, in die sich viele NGOS drängen haben lassen, kritisch zu hinterfragen. Beim imaginären Gang durch die Fachmesse aidex 2017 wird klar, wie der normalisierte Zustand der Welt in der Zwischenzeit zum Branchenevent verbogen wurde.
Das Buch lässt sich bei allem offenen Appell an die Ideale der Frankfurter Schule und Überwindung der kapitalistischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse trotzdem nicht in die links-wohlfahrtsstaatliche Ecke stellen. Im Gegenteil: der Staat ist
„Das Ziel kann nicht die Wiederherstellung bzw. Stärkung eines autoritären Wohlfahrtsstaates sein, der sozialen Beistand an Kontrolle und Disziplinierung knüpft, sondern eine menschenrechtlich verfasste Gesellschaft, in der sich Freiheit als universelles Recht entfalten kann.“(Gebauer/trojanow in 85 , S. 224)
„Wer Grenzen erkennen will, muss ein Gespür für das Angrenzende kultivieren, nicht eine Strategie der Abgrenzung entwickeln.“(M. Gronemeyer in 86 , S. 19)
für die Autoren erkennbar erledigt. „Eine solidarische Lebensweise verträgt sich nicht mit Ausbeutung und ökologischer Zerstörung. Ihre Entwicklung gelingt nur außerhalb staatlicher Strukturen“, heißt es an einer Stelle (S. 226), „Emanzipation ist keine ‚Staatsaffäre‘, sondern eine Frage praktischer Selbstorganisation“, an einer anderen (S 229). Die Autoren vertreten auch keinen anti-individualistischen Kollektivismus, der Institutionen dazu einsetzt, bestehende Ungleichheit einfach durch Umverteilung aufzuheben. „Das Ziel kann nicht die Wiederherstellung bzw. Stärkung eines autoritären Wohlfahrtsstaates sein, der sozialen Beistand an Kontrolle und Disziplinierung knüpft, sondern eine menschenrechtlich verfasste Gesellschaft, in der sich Freiheit als universelles Recht entfalten kann.“(S. 238) Die im Buch mit dem professionellen Blick für wesentliche Details beschriebenen Beispiele der Selbstermächtigung aus dem globalen Süden holen denn auch immer wieder starke Einzelpersonen vor den Vorhang, Menschen, die ihren Traum von einer besseren Welt und einem menschenwürdigen Leben einem bestenfalls desinteressierten Staatsapparat und übermächtigen Konzerninteressen in geduldiger, langwieriger Arbeit jeden Tag neu abringen. Menschliches Maß, so das Credo der Autoren, hat nichts mit der Durchsetzung eigener Interessen zu tun, sondern mit der Erkenntnis, dass zunehmende Ungleichheit nicht nur die Verlierer, sondern auch die vermeintlichen Gewinner unglücklich macht.
Wenn in diesem Buch von Umverteilung die Rede ist, dann im Kontext menschlicher Solidarität und der Überzeugung, dass sich die Sicherung menschlichen Daseins auf nationaler Ebene allein, abgeschirmt vom Rest der Welt, nicht mehr umsetzen lässt. Und dies unter Hinweis einerseits auf die vielen Steuerschlupflöcher und Milliarden-subventionen aus Steuergeld, die heute globale Industrien erhalten, und andererseits auf die vielen Formen von Alternativen, die heute bereits existieren und weitgehend unbemerkt funktionieren.
In einer Zeit, in der sich sogar die turbokapitalistischen Auguren des Davoser WEF in sorgenvolle Ratlosigkeit ergeben, ist das Buch ein nüchtern erfrischender Aufruf, dass es anders geht. Es appelliert an Seh-gewohnheiten und gegen das Verweilen in der Komfortzone. „Die herrschenden Verhältnisse gelten als gelungen, die Alternativen als un-gelungen, weil sie erst sein werden. Deswegen ist die Klimakatastrophe plausibler als die Umgestaltung unserer Wirtschaft auf wirklich nachhaltige Energiegewinnung und Produktion.“(S. 224) Dabei zeichnen die Ausführungen keine naiven Zukunftsbilder, sondern benennen die Probleme auf dem Weg zu einer planetarisch gerechten Sozialordnung ganz klar beim Namen. „Menschenrechte, Solidarität, Regulierung, Gemeingüter, Partizipation, Hilfe – für keinen dieser Begriffe gibt es a priori ein gemeinsames Verständnis, das guatemaltekische Kleinbauern mit pakistanischen Näherinnen oder südafrikanischen Ärzten vereinen würde.“(S. 235). Dass dieser Dialog gewinnen muss, stellen die Autoren jedoch außer Frage. J. H.
Solidarität
85 Gebauer, Thomas; Trojanow, Ilija: Hilfe? Hilfe! Wege aus der globalen Krise. Frankfurt/m.: S. Fischer, 2018. 256 S., € 15,- [D], 15,50 [A]
Die Grenze
„Je mehr wir versuchen, Grenzen zu überwinden und aufzulösen, desto stärker kehren sie zurück: sei es in Form von ‚Grenzwerten‘, sei es in Form von ‚Obergrenzen‘ des vermeintlich Zumutbaren.“Damit kündigt der Verlag die neue Publikation von Marianne Gronemeyer, Trägerin des Salzburger Landespreises für Zukunftsforschung 2011, an. Sein Titel: „Die Grenze. Was uns verbindet, indem es trennt“. Pointiert und sprachlich brillant widmet sich die Autorin einem Thema, das an Bedeutung gewinnt, sei es im Kontext von nachhaltiger Entwicklung und Eindämmung des Klimawandels, Herausforderungen, die ohne die Bereitschaft und Fähigkeit zu Begrenzung nicht bewältigt werden können, sei es im Zusammenhang mit den geschürten Ängsten vor Migration. „Neuerdings sind die totgesagten Grenzen wieder im Kommen. Mögen sie auch gegen die radioaktive Wolke, den Informations-, Waren- und Finanzströmen nichts mehr entgegenzusetzen haben, gegen die ‚Flüchtlingsströme‘ taugen sie immer noch“(S. 9), so Gronemeyer gleich zu Beginn. Menschen würden sich auf einmal wieder nach übersichtlichen Verhältnissen sehnen. Doch geht es um die Wirtschaft und unseren Konsum und Komfort, sehe die Sache anders aus: „Die tiefe Abneigung gegen alles Begrenzende ist ungebrochen.“(S. 10) „Grenzen“sind für Gronemeyer ambivalent und komplex. In sieben Essays nähert sie sich unterschiedlichen Facetten des Themas. In „Drinnen und Draußen“etwa geht es um die „Schlüsselgewalt“, die Bedeutung von „Behausung“und was es bedeutet, wenn Menschen gleich Dingen in „Containern“untergebracht werden. In „Schwellen – Türen – Wände“räsoniert Gronemeyer über Gastfreundschaft und Respekt, in „Wachsen und Lernen – zwei Grenzerfahrungen“über den Machbarkeitsund Konsumwahn der Moderne – in Erinnerung an Ivan Illich. Hier kommt die Autorin dann auch auf
die „Limits of Growth“und das Dilemma unseres Wirtschaftens zu sprechen: „Was im Kapitalismus ökonomisch unerlässlich ist, ist ökologisch untragbar.“(S. 82) In „Grenzenlose Grenzwerte“verweist die Autorin auf die trügerische Sicherheit von naturwissenschaftlich festgelegten Grenzwerten, in „Grenzen wahren“auf den verengten Blickwinkel der Optimierung. „Der Austausch des ‚Mehr vom Gleichen‘ durch ‚Besseres vom Gleichen‘ schneidet den Weg zum Ganz-anderen endgültig ab.“(S. 153) Und schließlich wendet sich Gronemeyer dem Thema „Flüchtlinge“zu. In „Ankunft ohne Zukunft“geht es darum, dass freie Grenzübergänge nur den Privilegierten vorbehalten sind, in „Wir und die Anderen“um die neuen Grenzziehungen, ein Thema, das „die politischen Verhältnisse durcheinanderwirbelt und das wohl auf lange Sicht nicht zur Ruhe kommen wird.“(S. 195)
Ein vielschichtiges und auch nachdenkliches Buch, das von den Nuancen des behandelten Themas lebt. Aufgabe der Politik in allen Wohlstandsgesellschaften wird in Zukunft sein, uns wieder „Begrenzungen“zuzumuten. Kein leichtes Unterfangen in permissiven Gesellschaften. Es scheint einen Unterschied zu machen, ob Grenzen vorgesetzt oder erkannt werden. In den Worten der Autorin: „Eine Grenze, die erkannt oder wahrgenommen wird, ist eine gänzlich andere als jene, die gesetzt wird, und sie fordert eine völlig andere Haltung heraus.“(S. 18) H. H. Grenze
86 Gronemeyer, Marianne: Die Grenze. Was uns verbindet, indem es trennt. Nachdenken über ein Paradox der Moderne. München: oekom, 2018.
231 S., € 22,- [D], 22,70 [A]
Sozialer Kapitalismus
Tiefe Risse, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedrohen, ortet der ehemalige Weltbankmitarbeiter Paul Collier. Er widmet sich den Krisen in den Wohlstandsländern, die sich auftuenden Gräben sieht er insbesondere zwischen Gebildeten und Geringqualifizierten sowie zwischen dynamischen Metropolen und schrumpfenden Kleinstädten bzw. ländlichen Gebieten. Die neuen Ängste würden „mit den alten ideologischen Rezepten“beantwortet, die uns auf die „altbekannte, fruchtlose Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts“zurückwerfen (S. 18). Seine Vorschläge seien dagegen pragmatisch und fußten auf empirischer Analyse, so Collier: „Es geht um nichts Geringeres als die Zukunft eines ethischen, sozialen Kapitalismus: willkommen in der mühsamen Mitte.“(S. 41). Der Niedergang der Sozialdemokratie als gesellschaftlich gestaltende Kraft hängt für Collier mit dem sich ausbreitenden „sozialen Paternalismus“(S. 38) zusammen, doch auch der Liberalismus werde mit seiner „Magie des Marktes“(S. 39) scheitern. Die Erfolge von Trump oder Le Pen sowie der Brexit hängen für den Autor mit der zunehmenden Kluft zwischen einer kosmopolitisch ausgerichteten Oberschicht und den sozial Abgehängten zusammen, die sich an ihre Nation klammern. Das „Zusammengehörigkeitsgefühl“(S. 84) sei geschwunden. Collier spricht von einem „Paradoxon moderner Wohlstandsgesellschaften“(S. 92): Während Politik immer räumlich begrenzt und auf ein Gemeinwesen gerichtet sei, würden sich Menschen vereinzeln. Diese Divergenz mache unsere Gesellschaften „weniger großzügig, weniger vertrauensvoll und weniger kooperativ“(S. 93) Die „Narrative der Zugehörigkeit“würden den Nationalistinnen überlassen, der „ethische Staat“versage (S. 100). Was schlägt Collier nun vor? Aufgabe der Politik „in einer Gesellschaft mit vielfältigen Kulturen und Werten“sei es, ein „orts- und zweckbasiertes“Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen (S. 102f). Zudem brauche es (wieder) ethische Unternehmen, die ihren Zweck nicht allein darin sehen, noch mehr Gewinne zu machen. Eine „stark zersplitterte Aktionärsstruktur“(S. 113) und das System der Boni-zahlungen verhinderten zusehends, dass in Unternehmen Verantwortung wahrgenommen wird. Collier schlägt erweiterte Mitspracherechte der Belegschaften sowie der Kundinnen in Großkonzernen vor, sogenannte „Gegenseitigkeitsgesellschaften“(S. 122). Als Vorbild nennt er dabei die „betriebliche Mitbestimmung“in Deutschland. Verantwortung müsse aber auch wieder stärker in der Gesellschaft verankert werden – über die „ethische Familie“(S. 154) und „Selbstverwirklichung durch Dienst an anderen Menschen“(ebd.). Basierend auf dem Zwiebelmodell gäbe es auf allen Ebenen einer Gesellschaft Verpflichtungen. Schließlich wendet sich Collier einer „ethischen Welt“zu, die Verpflichtungen gegenüber anderen Gesellschaften ohne Reziprozitätserwartung, aber in „aufgeklärtem Eigeninteresse“(S. 159) erfordere. Das Buch endet mit pragmatischen Vorschlägen an die Politik. Fairness bedeute „Verhältnismäßigkeit“bzw. „Verdienstlichkeit“(S. 187). Demzufolge müsse das Steuersystem adaptiert werden. Verdeckte „ökonomische Renten“von Grund- und Immobilieneigentümerinnen aufgrund von Wertsteigerungen durch öffentlich geschaffene Infrastrukturen müssten an die Allgemeinheit rücküberführt und damit vernachlässigte ländliche Gebiete gefördert werden (S. 198ff.). Zudem sollten regionale Banken geschaffen werden, die vom „vom Erfolg
„Der moderne Kapitalismus hat das Potenzial, uns allen beispiellosen Wohlstand zu bringen, aber er ist moralisch bankrott und steuert geradewegs auf eine Tragödie zu.” (Paul Collier in 87 , S. 45)