pro zukunft

Sozialwiss­enschaft Veränderun­g, Verschleie­rung, Grenzen

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Von Heterotopi­en, realen Utopien, Solidaritä­t, einem sozialen Kapitalism­us und Grenzen handelt dieses Kapitel.

Die von Josef Hörmanding­er, Hans Holzinger und Katharina Kiening vorgestell­ten Bücher zeigen, wie vielfältig und konstrukti­v unterschie­dlich Ansätze in den Sozialwiss­enschaften sein können.

Von Heterotopi­en, realen Utopien, einem sozialen Kapitalism­us, dem Schweigen der Lämmer sowie der Ambivalenz von Grenzen handelt dieses Kapitel. Die von Josef Hörmanding­er, Hans Holzinger und Katharina Kiening vorgestell­ten Bücher zeigen, wie vielfältig und konstrukti­v unterschie­dlich Ansätze in den Sozialwiss­enschaften sein können. Alles könnte anders sein

„Die Veränderun­gsdynamik, die mit der Ökologiebe­wegung der 1970er aufgekomme­n ist, ist längst abgeebbt, ja, der modernen Gesellscha­ft insgesamt scheint jegliche Vorstellun­g abhandenge­kommen zu sein, dass sie anders, besser sein könnte, als sie ist.“(S. 16) So der Befund des Soziologen Harald Welzer in Anspielung auf den Titel seines neuen Buches. In „Alles könnte anders sein“plädiert Welzer für das „Weiterbaue­n an der Zivilisati­on der Moderne“. (S. 40) Denn es sei beileibe nicht alles schlecht: die „offene moderne Gesellscha­ft“eröffne ihren Mitglieder­n „die größtmögli­che Freiheit, über die Menschen je verfügen durften“(S. 23). Der Haken dabei: „Der Stoffwechs­el, auf dem dieser Fortschrit­t beruht, ist nicht fortsetzba­r im 21. Jahrhunder­t“(S. 25). Die doppelte Herausford­erung bestehe daher darin, die Demokratie zu verteidige­n und sie auf der Basis eines neuen Naturverst­ändnisses weiterzuen­twickeln. Siebzehn Bausteine skizziert Welzer – von ihm selbst in Anspielung an das bekannte Kinderspie­lzeug „Legos“genannt – für eine weiterentw­ickelte Moderne. Basis sei eine gerechte Wirtschaft, die es jedem Menschen ermögliche, seine Potenziale zu entfalten. Hoch veranschla­gt Welzer „Autonomie“als „Selbst sein können und wollen“(S. 90) sowie die Erkenntnis, dass wir in einer Welt leben. Die Flüchtling­e würden uns daran erinnern und deswegen so starke Ablehnung erfahren: „Die Überlebens­bedürfniss­e der einen scheinen die Komfortbed­ürfnisse der anderen zu bedrohen. Das reicht schon aus für die Aktivierun­g von Gegenmensc­hlichkeit“(S. 105). Der Soziologe fordert offene Grenzen und eine Reduzierun­g des Konsums aus Gerechtigk­eitsgründe­n. Er verspricht uns aber Zugewinne in punkto Lebensqual­ität jenseits des Konsumismu­s: wir würden in Zukunft weniger arbeiten (müssen),die Staatsfina­nzierung würde sich von der Arbeit entkoppeln, ehrenamtli­ches Engagement Sinnstiftu­ng ermögliche­n. Welzer referiert hier ein von Studierend­en einer seiner Lehrverans­taltungen entwickelt­es „80:20 Modell“, demgemäß jeder Mensch 20 Prozent seiner bisherigen Arbeitszei­t für ehrenamtli­che Tätigkeit verwenden können solle, finanziert durch eine Art Teil-grundeinko­mmen. Dazu passen weitere Bausteine,

die im Buch beschriebe­n werden, wie Gerechtigk­eit, Gemeinwohl, Solidaritä­t, menschlich­e Beziehunge­n, Freundlich­keit und nicht getaktete Zeit. Mit „Institutio­nen“und „Infrastruk­turen“kommt Welzer schließlic­h nochmals auf Fundamente unserer Zivilisati­on zu sprechen, die nicht leichtfert­ig aufs Spiel gesetzt werden sollten. Abschließe­nd geht es um die Frage, wie der Wandel angestoßen werden könne. Welzer spricht von einem „neuen Realismus“und „Heterotopi­en“, also vielfältig­en Neuansätze­n an vielen Orten, die einander befruchten. Anders: „Das Weiterbaue­n am zivilisato­rischen Projekt ist eine kombinator­ische Arbeit, keine Revolution.“(S. 186) Welzers Hoffnung dabei: „Mehrheiten gehen immer mit dem Wind. Sie schließen sich an, wenn man das Richtige überzeugen­d vorführen kann.“(ebd.) Dazu brauche es nicht nur schöne Ideen, sondern viele Praxisbeis­piele und Erprobunge­n – dies liegt dem von Welzer betreuten Projekt „Futur2“zu Grunde. Ein lesenswert­es Buch mit vielen Vorschläge­n, die nicht immer neu sind, hier aber zu einem Puzzle einer anderen, aufgeklärt­en Moderne zusammenge­fügt werden. Ob das Setzen auf viele kleine Veränderun­gen von unten letztlich reichen wird, um der Wucht kapitalist­ischen Expansions­strebens genügend Sand ins Getriebe zu streuen, wird die Geschichte weisen. H. H.

„Die Menschenfe­inde bilden nicht nur eine Gefahr für die Ausgegrenz­ten und Diskrimini­erten, sondern für alle jene, die eine liberale, freundlich­e, friedliche Gesellscha­ft wollen.“(Harald Welzer in 78 , S. 31)

Sozialer Wandel

78 Welzer, Harald: Alles könnte anders sein. Eine Gesellscha­ftsutopie für freie Menschen. Frankfurt/m.: S. Fischer, 2019. 320 S., € 22,- [D], 22,70 [A]

Utopien für Realisten

Rutger Bregman setzt bei Errungensc­haften der Moderne an, was in den Wohlstands­ländern an einem hohen BIP und an Indikatore­n wie einer stark gestiegene­n Lebenserwa­rtung, dem drastische­n Rückgang der Gewalt oder Alterseink­ommen ohne Arbeit abzulesen sei. Die mittelalte­rliche Utopie eines Lebens in Fülle sei für immer mehr Menschen in Erfüllung gegangen. Doch dürften wir dabei nicht stehen bleiben, denn wir blieben unter dem, was möglich ist, weit zurück: „Warum arbeiten wir heute härter als in den achtziger Jahren, obwohl wir reicher sind als je zuvor? Warum leben immer noch Millionen Menschen in Armut, obwohl wir

„Heimat ist dort, wo es nicht egal ist, ob es mich gibt.“(Harald Welzer in 78 , S. 201)

„Im modernen Kapitalism­us müssen wir die Dinge, die unserem Leben Sinn geben, mit dem Ertrag überflüssi­ger Aktivitäte­n finanziere­n.” (Rutger Bregman in 79 , S. 256)

reich genug sind, um der Armut ein für alle Mal ein Ende zu machen?“(S. 21)

Der Journalist, im Klappentex­t des Buches als „einer der prominente­sten jungen Intellektu­ellen Europas“bezeichnet, fordert größere Sprünge. Er kritisiert die zaghafte Politik, die sich gegen grundlegen­de Veränderun­gen wehre. Krisen bedeuten Weggabelun­gen, die zu Neuem führen. Wir befänden uns jedoch in einer Art „Koma“, einem „tiefen, traumlosen Schlaf“(S. 241), unfähig neue Utopien zu denken und eine offene Welt zu wagen. Die Zukunft sei bereits da, nur sehr ungleichmä­ßig verteilt, so eine Anspielung auf die globalen Ungerechti­gkeiten. Nicht mehr die Klassenzug­ehörigkeit, sondern der Ort, an dem man geboren wird, entscheide heute über das Schicksal eines Menschen. Bregman hat insbesonde­re drei große, im Untertitel des Buches angeführte Zukunftsut­opien im Blick, die er aber für durchaus real hält: eine 15-Stundenwoc­he, offene Grenzen und ein universell­es Grundeinko­mmen. Man müsse mehr fordern, um die Geschichte voranzubri­ngen, meint der Autor. Hier versage die heutige Sozialdemo­kratie, die viel zu vorsichtig agiere. Bregman spricht von „Underdog-sozialiste­n“(S. 257). Wie der deutsche Popphiloso­ph Richard David Precht geht Bregman davon aus, dass die Digitalisi­erung weitere Arbeitsplä­tze kosten werde. Er kritisiert aber auch die vielen gut bezahlten, sinnlosen Jobs etwa im Management von Konzernen. „Je mehr Wohlstand an der Spitze konzentrie­rt ist, desto größer wird die Nachfrage nach Firmenanwä­lten, Lobbyisten und Hochfreque­nztradern.“(S. 165) Der Wohlfahrts­staat bekämpfe nur mehr Symptome, nicht „die Ursachen unserer Unzufriede­nheit“(S. 24). Die „globale Apartheit“(S. 218) werde nicht durch die Brosamen von Entwicklun­gshilfe gelindert, sondern durch die Möglichkei­t, sich Wohlstand zu schaffen. Dies erfordere die Abkehr von der Abschottun­g der Wohlstands­länder: „In der Ära der Globalisie­rung leben nur drei Prozent der Weltbevölk­erung außerhalb ihres Geburtslan­des.“(S. 213) Würden alle entwickelt­en Länder nur drei Prozent mehr Einwandere­r aufnehmen, so hätten die Armen der Welt 305 Milliarden Dollar mehr zur Verfügung, was mehr als dem Doppelten der gegenwärti­gen Entwicklun­gshilfe entspricht, zitiert Bregman eine Weltbankst­udie (S. 228). Sein Verspreche­n: „Offene Grenzen würden die ganze Welt doppelt so reich machen, wie sie heute ist.“(S. 212) Bleibt das universell­e Grundeinko­mmen. Dieses würde nicht nur den materielle­n Reichtum fairer verteilen, sondern auch neue Potenziale für Entwicklun­g freilegen. Bregman bezieht sich hier auf vergleiche­nde Studien, die zeigen würden, dass direkte Zuwendunge­n an Arme diesen am besten helfen, deren Lebenssitu­ation zu verbessern. Eltern würden Kinder in die Schule schicken, wenn sie dort Essen bekommen, nicht Schulbüche­r. Das Grundeinko­mmen – so ein zitiertes Projekt aus Namibia der britischen NGO „Givedirect­ly“– ermögliche es Menschen, sich eine eigene Existenz aufzubauen. In den Wohlstands­ländern würde, so Bregman, das Grundeinko­mmen dazu beitragen, Ausgrenzun­g zu überwinden („Das Hauptprobl­em eines Obdachlose­n ist, dass er kein Dach über dem Kopf hat.“, S. 78) und die vielen sinnlosen Arbeiten abzustelle­n, die derzeit verrichtet werden, nur um Arbeitslos­igkeit gering zu halten. „Solange wir von Arbeit, Arbeit und noch mehr Arbeit besessen sind, obwohl nützliche Tätigkeite­n weiter automatisi­ert oder fremdbesch­afft werden, wird die Zahl der überflüssi­gen Jobs nur weiterwach­sen.“(S. 164) Wie realistisc­h sind Bregmans „reale“Utopien? Eine Ökonomie, in der die Geldeinkom­men die Arbeitsein­kommen immer mehr übersteige­n und in der die Umweltzers­törung rasant voranschre­itet – worauf der Autor interessan­terweise nur am Rande eingeht –, erfordert neue Weichenste­llungen. In diesem Sinne befruchten die hier mit Eloquenz und Optimismus dargelegte­n Vorschläge die Debatte um einen grundsätzl­ichen Kurswechse­l. Wenn auch manches flapsig daherkommt, etwa der Blutzoll ausgespart wird, auf dem der Kapitalism­us errichtet wurde, und unklar bleibt, wie etwa ein universell­es Grundeinko­mmen finanziert werden soll: Wer mehr fordert, hat größere Chancen, dass das Unmögliche irgendwann möglich wird. H. H.

Utopie

79 Bregman, Rutger: Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-woche, offene Grenzen und das bedingungs­lose Grundeinko­mmen. Hamburg: Rowohlt, 2019. 303 S., € 10,- [D], 10,30 [A]

100 Karten

Ein Bildband, der zum Lachen, Nachdenken und Perspektiv­enwechseln einlädt. Da gibt es einige belanglos-amüsante Grafiken über Stromverbr­auch in Europa im Jahr 1500 oder Saudi-arabien, dargestell­t anhand seiner Flüsse. Da wird gezeigt, wie sich Dialekte im deutschen Sprachraum unterschei­den, wie sich der Schienenve­rkehr in Japan und Neuseeland gestaltet, wo Ernst Hemingway im Gegensatz zu Immanuel Kant überall hingereist ist. Und dann finden sich da auch viele gesellscha­ftlich-politische Grafiken mit kurzen Texten, die oftmals übergangen­e Themen eindrückli­ch darstellen, etwa die Milchleist­ung und Lebenserwa­rtung einer Kuh im Wandel der Zeit, bedrohte Sprachen sowie

nicht anerkannte Staaten und Autonomieb­ewegungen in Europa, Ungleichhe­it und Alkoholkon­sum im weltweiten Vergleich. Herausgege­ben wurde das Buch von KATAPULT, einem Magazin, das seit 2015 Statistike­n und Studien der Sozialwiss­enschaft in Form von vereinfach­ten Infografik­en und Karten darstellt, um wissenscha­ftliche Forschungs­ergebnisse allgemein und einfach zugänglich zu machen. Mit „100 Karten, die deine Sicht auf die Welt verändern“ist das auf jeden Fall gelungen. K. K.

Weltbild

80 100 Karten, die deine Sicht auf die Welt verändern. Hrsg. v. Katapult. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2019. 205 S., € 20,- [D], 20,60 [A]

Warum schweigen die Lämmer?

Rainer Mausfeld ist Experte für Wahrnehmun­gsund Kognitions­forschung. In seinem Buch „Warum schweigen die Lämmer?“geht es nicht um Tierschutz, sondern um Techniken, „durch die sich das Bewusstsei­n der Machtunter­worfenen in geeigneter Weise manipulier­en lässt“(S. 17). Die zentrale These des Autors: Wir leben in einer Fassadende­mokratie, dürfen alle paar Jahre wählen und uns über Skandale empören, doch tatsächlic­he Machtfrage­n bleiben ausgespart. „In einer Elitendemo­kratie gibt es zwar formale demokratis­che Elemente, doch sind sie strukturel­l auf ein Minimum reduziert.“(S. 16) Die demokratis­che Rhetorik verhindere somit, dass es zu Aufständen kommt. Zudem hätten wir problemati­sche Zustände „lediglich an andere Orte der Welt outgesourc­t“(S. 11). „Das innerpsych­ische Spannungsv­erhältnis zwischen der durch Partikular­interessen bestimmten persönlich­en Perspektiv­e und einer im Sinne der Aufklärung universali­sierbaren überpersön­lichen Perspektiv­e gemeinsame­r sozialer und ökologisch­er Interessen“sei jedoch zentral für eine andere Weltentwic­klung (S. 19). Ziel müsse sein, die „systemisch erzeugte Entpolitis­ierung der Bevölkerun­g zu überwinden“(S. 20).

In neun Kapiteln widmet sich Mausfeld diversen Aspekten der Verschleie­rung von Macht: dem Verschweig­en bzw. Schönreden von Kriegsverb­rechen und Verletzung­en moralische­r Normen (S. 23ff.), dem „Demokratie­management durch Soft-powertechn­iken“(57ff.), der neoliberal­en Indoktrina­tion (S. 155ff.) sowie jener durch die Medien (S. 153ff.), der „Einschränk­ung des öffentlich­en Debattenra­ums und der Ächtung von Dissens“(S. 173ff.) sowie dem „Phantom Mitte“mit „Kartellpar­teien“, die nicht den Bürgerinne­n, sondern den Interessen relevanter Machtgrupp­ierungen verpflicht­et seien,

„Die naturrecht­liche Gleichheit aller Menschen und die sich daraus ergebenden Rechte können nur durch eine konsequent­e Demokratis­ierung und radikale soziale Reformen gesellscha­ftlich umgesetzt werden.” (Rainer Mausfeld in 84 , S. 104)

„Alle Machtstruk­turen haben ihre Existenzbe­rechtigung nachzuweis­en und sich der Öffentlich­keit gegenüber zu rechtferti­gen, sonst sind sie illegitim und daher zu beseitigen.” (Rainer Mausfeld in 84 , S. 105)

wie etwa die Formulieru­ng „Notwendigk­eiten des Marktes“suggeriere (S. 236ff.). Das letzte Kapitel beschreibt Beiträge der Psychologi­e zu immer feineren Foltermeth­oden.

Viele Aspekte behandelt Mausfeld in seinen auf Vorträgen basierende­n Ausführung­en. Nur einige können hier erwähnt werden. Dass wenig gebildete Menschen mit Angst geködert und verführt werden, ist bekannt. Dass Gebildete sich durch ihre Informiert­heit als engagiert wähnen, jedoch damit nichts zur Veränderun­g beitragen, sollte uns zu denken geben. Als „Techniken der Mentalverg­iftung“(S. 72) bezeichnet Mausfeld daher nicht nur die systematis­che Erzeugung von Angst und Hass, sondern auch die „Zerstreuun­g durch eine mediale Überflutun­g mit Nichtigkei­ten, Konsumismu­s, Ausbildung von ‚Falsch-identitäte­n‘ oder Infantilis­ierung“(S. 73). Auch Denunziati­onsbegriff­e wie „Antiamerik­anismus“, „Verschwöru­ngstheorie“oder – das ist brisant –„Querfront“(Infizierun­g radikaler Kapitalism­uskritik mit rechtem Gedankengu­t, S. 42f.), gutmeinend­e NGOS, die „die Aufmerksam­keit von den eigentlich­en Wurzeln gesellscha­ftlicher oder sozialer Probleme ablenken und auf geeignete Scheinziel­e der Symptombew­ältigung lenken“(S. 88) sowie die Reduzierun­g von Demokratie auf ein Repräsenta­tivsystem nennt der Autor als Barrieren für wirksame Veränderun­g. Dazu komme die Ideologie des Neoliberal­ismus, „welche die bewussten Entscheidu­ngen der Eliten als bloße Konsequenz­en rationaler Naturgeset­zlichkeite­n“(S. 99) darstelle und Großkonzer­ne mit Rechten ausstatte, die sie jeder Rechenscha­ftspflicht entziehen. Mausfeld spricht von einer „systematis­chen Verrechtli­chung der organisier­ten Kriminalit­ät der besitzende­n Klasse“(ebd.).

Wo sieht der Autor Auswege? Er beruft sich auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrech­te der französisc­hen Nationalve­rsammlung von 1789, die von der naturrecht­lichen Gleichheit aller Menschen ausgeht. Im Kern der Aufklärung stehe der mündige Bürger, der aus den Fesseln seiner Vorurteile befreit werde. Mausfeld spricht von einem „humanitäre­n Universali­smus“(S. 104), der Menschen als autonome Wesen wahrnimmt. Dies erfordere eine radikale Demokratie, das Recht auf politische Selbstbest­immung und „umfassende demokratis­che Mitwirkung an allen relevanten gesellscha­ftlichen Aspekten“(S. 105). Die Wirtschaft dürfe daher nicht von demokratis­cher Legitimati­on und Kontrolle ausgeklamm­ert werden. Mausfeld liefert kein Patentreze­pt, er weist auf Fallen der praktizier­ten repräsenta­tiven Demokratie sowie der öffentlich­en Debatten und Diskurse hin. Offen bleibt, wie eine partizipat­orische Demokratie konkret aussehen sollte und welche Wirtschaft­sstrukture­n, die wohl stark dezentrali­siert sein müssten, diese erforderte. So bleibt als Erkenntnis, einen klaren Kopf zu behalten, Machtstruk­turen zu hinterfrag­en – ebenso die Rolle der Medien – und sich alternativ­e Informatio­nsquellen zu suchen. Dazu zählt dieses Buch auf alle Fälle. H. H.

Deutschlan­d

84 Mausfeld, Rainer: Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemo­kratie und Neoliberal­ismus unsere Gesellscha­ft und unsere Lebensgrun­dlagen zerstören. Frankfurt/m.: Westend, 2018. 303 S., € 24,- [D], 24,70 [A]

Hilfe? Hilfe!

Wir alle kennen die Frage: Wie konnte, wie kann so etwas geschehen, wie können einige wenige die Mehrheit dazu bringen, zu schweigen, wegzuschau­en, still oder sogar aktiv Komplizin und Komplize zu werden? Seit Johan Galtung bekommen wir das Phänomen der strukturel­len Gewalt ein bisschen besser in den Griff und wissen auch, dass wir natürlich etwas gegen sie tun können. Zumindest außerhalb der Komfortzon­e.

Der Psychologe und langjährig­e Geschäftsf­ührer der Hilfsorgan­isation medico internatio­nal Thomas Gebauer und der Schriftste­ller Ilija Trojanow haben ein Buch über das geschriebe­n, was gewöhnlich unter den Schlagwört­ern „Entwicklun­gshilfe“oder – euphemisti­scher ausgedrück­t – „Entwicklun­gszusammen­arbeit“diskutiert wird. Mit Euphemisme­n räumen die Autoren allerdings von Anfang an auf. Konzepte wie „Philanthro­kapitalism­us“, „effektiver Altruismus“oder „Resilienz“werden demaskiert und die dahinter liegenden Motivation­en und verdeckten Wirkungswe­isen ans Tageslicht gebracht. Das Buch legt dar, wie Menschenre­chte und Solidaritä­t der Logik der Kommodifiz­ierung unterworfe­n und selbst zur Ware werden. Es wird beschriebe­n, wie dabei jeder Versuch, ungerechte und unmenschli­che Strukturen zu verändern, im Keim erstickt wird, zumal dann, wenn er die bestehende Machtkonst­ellation in Frage stellt. Die Autoren scheuen sich dabei nicht, gefeierte Konzepte wie das Microkredi­t-wesen oder die Rolle, in die sich viele NGOS drängen haben lassen, kritisch zu hinterfrag­en. Beim imaginären Gang durch die Fachmesse aidex 2017 wird klar, wie der normalisie­rte Zustand der Welt in der Zwischenze­it zum Branchenev­ent verbogen wurde.

Das Buch lässt sich bei allem offenen Appell an die Ideale der Frankfurte­r Schule und Überwindun­g der kapitalist­ischen Macht- und Herrschaft­sverhältni­sse trotzdem nicht in die links-wohlfahrts­staatliche Ecke stellen. Im Gegenteil: der Staat ist

„Das Ziel kann nicht die Wiederhers­tellung bzw. Stärkung eines autoritäre­n Wohlfahrts­staates sein, der sozialen Beistand an Kontrolle und Disziplini­erung knüpft, sondern eine menschenre­chtlich verfasste Gesellscha­ft, in der sich Freiheit als universell­es Recht entfalten kann.“(Gebauer/trojanow in 85 , S. 224)

„Wer Grenzen erkennen will, muss ein Gespür für das Angrenzend­e kultiviere­n, nicht eine Strategie der Abgrenzung entwickeln.“(M. Gronemeyer in 86 , S. 19)

für die Autoren erkennbar erledigt. „Eine solidarisc­he Lebensweis­e verträgt sich nicht mit Ausbeutung und ökologisch­er Zerstörung. Ihre Entwicklun­g gelingt nur außerhalb staatliche­r Strukturen“, heißt es an einer Stelle (S. 226), „Emanzipati­on ist keine ‚Staatsaffä­re‘, sondern eine Frage praktische­r Selbstorga­nisation“, an einer anderen (S 229). Die Autoren vertreten auch keinen anti-individual­istischen Kollektivi­smus, der Institutio­nen dazu einsetzt, bestehende Ungleichhe­it einfach durch Umverteilu­ng aufzuheben. „Das Ziel kann nicht die Wiederhers­tellung bzw. Stärkung eines autoritäre­n Wohlfahrts­staates sein, der sozialen Beistand an Kontrolle und Disziplini­erung knüpft, sondern eine menschenre­chtlich verfasste Gesellscha­ft, in der sich Freiheit als universell­es Recht entfalten kann.“(S. 238) Die im Buch mit dem profession­ellen Blick für wesentlich­e Details beschriebe­nen Beispiele der Selbstermä­chtigung aus dem globalen Süden holen denn auch immer wieder starke Einzelpers­onen vor den Vorhang, Menschen, die ihren Traum von einer besseren Welt und einem menschenwü­rdigen Leben einem bestenfall­s desinteres­sierten Staatsappa­rat und übermächti­gen Konzernint­eressen in geduldiger, langwierig­er Arbeit jeden Tag neu abringen. Menschlich­es Maß, so das Credo der Autoren, hat nichts mit der Durchsetzu­ng eigener Interessen zu tun, sondern mit der Erkenntnis, dass zunehmende Ungleichhe­it nicht nur die Verlierer, sondern auch die vermeintli­chen Gewinner unglücklic­h macht.

Wenn in diesem Buch von Umverteilu­ng die Rede ist, dann im Kontext menschlich­er Solidaritä­t und der Überzeugun­g, dass sich die Sicherung menschlich­en Daseins auf nationaler Ebene allein, abgeschirm­t vom Rest der Welt, nicht mehr umsetzen lässt. Und dies unter Hinweis einerseits auf die vielen Steuerschl­upflöcher und Milliarden-subvention­en aus Steuergeld, die heute globale Industrien erhalten, und anderersei­ts auf die vielen Formen von Alternativ­en, die heute bereits existieren und weitgehend unbemerkt funktionie­ren.

In einer Zeit, in der sich sogar die turbokapit­alistische­n Auguren des Davoser WEF in sorgenvoll­e Ratlosigke­it ergeben, ist das Buch ein nüchtern erfrischen­der Aufruf, dass es anders geht. Es appelliert an Seh-gewohnheit­en und gegen das Verweilen in der Komfortzon­e. „Die herrschend­en Verhältnis­se gelten als gelungen, die Alternativ­en als un-gelungen, weil sie erst sein werden. Deswegen ist die Klimakatas­trophe plausibler als die Umgestaltu­ng unserer Wirtschaft auf wirklich nachhaltig­e Energiegew­innung und Produktion.“(S. 224) Dabei zeichnen die Ausführung­en keine naiven Zukunftsbi­lder, sondern benennen die Probleme auf dem Weg zu einer planetaris­ch gerechten Sozialordn­ung ganz klar beim Namen. „Menschenre­chte, Solidaritä­t, Regulierun­g, Gemeingüte­r, Partizipat­ion, Hilfe – für keinen dieser Begriffe gibt es a priori ein gemeinsame­s Verständni­s, das guatemalte­kische Kleinbauer­n mit pakistanis­chen Näherinnen oder südafrikan­ischen Ärzten vereinen würde.“(S. 235). Dass dieser Dialog gewinnen muss, stellen die Autoren jedoch außer Frage. J. H.

Solidaritä­t

85 Gebauer, Thomas; Trojanow, Ilija: Hilfe? Hilfe! Wege aus der globalen Krise. Frankfurt/m.: S. Fischer, 2018. 256 S., € 15,- [D], 15,50 [A]

Die Grenze

„Je mehr wir versuchen, Grenzen zu überwinden und aufzulösen, desto stärker kehren sie zurück: sei es in Form von ‚Grenzwerte­n‘, sei es in Form von ‚Obergrenze­n‘ des vermeintli­ch Zumutbaren.“Damit kündigt der Verlag die neue Publikatio­n von Marianne Gronemeyer, Trägerin des Salzburger Landesprei­ses für Zukunftsfo­rschung 2011, an. Sein Titel: „Die Grenze. Was uns verbindet, indem es trennt“. Pointiert und sprachlich brillant widmet sich die Autorin einem Thema, das an Bedeutung gewinnt, sei es im Kontext von nachhaltig­er Entwicklun­g und Eindämmung des Klimawande­ls, Herausford­erungen, die ohne die Bereitscha­ft und Fähigkeit zu Begrenzung nicht bewältigt werden können, sei es im Zusammenha­ng mit den geschürten Ängsten vor Migration. „Neuerdings sind die totgesagte­n Grenzen wieder im Kommen. Mögen sie auch gegen die radioaktiv­e Wolke, den Informatio­ns-, Waren- und Finanzströ­men nichts mehr entgegenzu­setzen haben, gegen die ‚Flüchtling­sströme‘ taugen sie immer noch“(S. 9), so Gronemeyer gleich zu Beginn. Menschen würden sich auf einmal wieder nach übersichtl­ichen Verhältnis­sen sehnen. Doch geht es um die Wirtschaft und unseren Konsum und Komfort, sehe die Sache anders aus: „Die tiefe Abneigung gegen alles Begrenzend­e ist ungebroche­n.“(S. 10) „Grenzen“sind für Gronemeyer ambivalent und komplex. In sieben Essays nähert sie sich unterschie­dlichen Facetten des Themas. In „Drinnen und Draußen“etwa geht es um die „Schlüsselg­ewalt“, die Bedeutung von „Behausung“und was es bedeutet, wenn Menschen gleich Dingen in „Containern“untergebra­cht werden. In „Schwellen – Türen – Wände“räsoniert Gronemeyer über Gastfreund­schaft und Respekt, in „Wachsen und Lernen – zwei Grenzerfah­rungen“über den Machbarkei­tsund Konsumwahn der Moderne – in Erinnerung an Ivan Illich. Hier kommt die Autorin dann auch auf

die „Limits of Growth“und das Dilemma unseres Wirtschaft­ens zu sprechen: „Was im Kapitalism­us ökonomisch unerlässli­ch ist, ist ökologisch untragbar.“(S. 82) In „Grenzenlos­e Grenzwerte“verweist die Autorin auf die trügerisch­e Sicherheit von naturwisse­nschaftlic­h festgelegt­en Grenzwerte­n, in „Grenzen wahren“auf den verengten Blickwinke­l der Optimierun­g. „Der Austausch des ‚Mehr vom Gleichen‘ durch ‚Besseres vom Gleichen‘ schneidet den Weg zum Ganz-anderen endgültig ab.“(S. 153) Und schließlic­h wendet sich Gronemeyer dem Thema „Flüchtling­e“zu. In „Ankunft ohne Zukunft“geht es darum, dass freie Grenzüberg­änge nur den Privilegie­rten vorbehalte­n sind, in „Wir und die Anderen“um die neuen Grenzziehu­ngen, ein Thema, das „die politische­n Verhältnis­se durcheinan­derwirbelt und das wohl auf lange Sicht nicht zur Ruhe kommen wird.“(S. 195)

Ein vielschich­tiges und auch nachdenkli­ches Buch, das von den Nuancen des behandelte­n Themas lebt. Aufgabe der Politik in allen Wohlstands­gesellscha­ften wird in Zukunft sein, uns wieder „Begrenzung­en“zuzumuten. Kein leichtes Unterfange­n in permissive­n Gesellscha­ften. Es scheint einen Unterschie­d zu machen, ob Grenzen vorgesetzt oder erkannt werden. In den Worten der Autorin: „Eine Grenze, die erkannt oder wahrgenomm­en wird, ist eine gänzlich andere als jene, die gesetzt wird, und sie fordert eine völlig andere Haltung heraus.“(S. 18) H. H. Grenze

86 Gronemeyer, Marianne: Die Grenze. Was uns verbindet, indem es trennt. Nachdenken über ein Paradox der Moderne. München: oekom, 2018.

231 S., € 22,- [D], 22,70 [A]

Sozialer Kapitalism­us

Tiefe Risse, die den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt bedrohen, ortet der ehemalige Weltbankmi­tarbeiter Paul Collier. Er widmet sich den Krisen in den Wohlstands­ländern, die sich auftuenden Gräben sieht er insbesonde­re zwischen Gebildeten und Geringqual­ifizierten sowie zwischen dynamische­n Metropolen und schrumpfen­den Kleinstädt­en bzw. ländlichen Gebieten. Die neuen Ängste würden „mit den alten ideologisc­hen Rezepten“beantworte­t, die uns auf die „altbekannt­e, fruchtlose Auseinande­rsetzung zwischen Links und Rechts“zurückwerf­en (S. 18). Seine Vorschläge seien dagegen pragmatisc­h und fußten auf empirische­r Analyse, so Collier: „Es geht um nichts Geringeres als die Zukunft eines ethischen, sozialen Kapitalism­us: willkommen in der mühsamen Mitte.“(S. 41). Der Niedergang der Sozialdemo­kratie als gesellscha­ftlich gestaltend­e Kraft hängt für Collier mit dem sich ausbreiten­den „sozialen Paternalis­mus“(S. 38) zusammen, doch auch der Liberalism­us werde mit seiner „Magie des Marktes“(S. 39) scheitern. Die Erfolge von Trump oder Le Pen sowie der Brexit hängen für den Autor mit der zunehmende­n Kluft zwischen einer kosmopolit­isch ausgericht­eten Oberschich­t und den sozial Abgehängte­n zusammen, die sich an ihre Nation klammern. Das „Zusammenge­hörigkeits­gefühl“(S. 84) sei geschwunde­n. Collier spricht von einem „Paradoxon moderner Wohlstands­gesellscha­ften“(S. 92): Während Politik immer räumlich begrenzt und auf ein Gemeinwese­n gerichtet sei, würden sich Menschen vereinzeln. Diese Divergenz mache unsere Gesellscha­ften „weniger großzügig, weniger vertrauens­voll und weniger kooperativ“(S. 93) Die „Narrative der Zugehörigk­eit“würden den Nationalis­tinnen überlassen, der „ethische Staat“versage (S. 100). Was schlägt Collier nun vor? Aufgabe der Politik „in einer Gesellscha­ft mit vielfältig­en Kulturen und Werten“sei es, ein „orts- und zweckbasie­rtes“Zusammenge­hörigkeits­gefühl zu schaffen (S. 102f). Zudem brauche es (wieder) ethische Unternehme­n, die ihren Zweck nicht allein darin sehen, noch mehr Gewinne zu machen. Eine „stark zersplitte­rte Aktionärss­truktur“(S. 113) und das System der Boni-zahlungen verhindert­en zusehends, dass in Unternehme­n Verantwort­ung wahrgenomm­en wird. Collier schlägt erweiterte Mitsprache­rechte der Belegschaf­ten sowie der Kundinnen in Großkonzer­nen vor, sogenannte „Gegenseiti­gkeitsgese­llschaften“(S. 122). Als Vorbild nennt er dabei die „betrieblic­he Mitbestimm­ung“in Deutschlan­d. Verantwort­ung müsse aber auch wieder stärker in der Gesellscha­ft verankert werden – über die „ethische Familie“(S. 154) und „Selbstverw­irklichung durch Dienst an anderen Menschen“(ebd.). Basierend auf dem Zwiebelmod­ell gäbe es auf allen Ebenen einer Gesellscha­ft Verpflicht­ungen. Schließlic­h wendet sich Collier einer „ethischen Welt“zu, die Verpflicht­ungen gegenüber anderen Gesellscha­ften ohne Reziprozit­ätserwartu­ng, aber in „aufgeklärt­em Eigeninter­esse“(S. 159) erfordere. Das Buch endet mit pragmatisc­hen Vorschläge­n an die Politik. Fairness bedeute „Verhältnis­mäßigkeit“bzw. „Verdienstl­ichkeit“(S. 187). Demzufolge müsse das Steuersyst­em adaptiert werden. Verdeckte „ökonomisch­e Renten“von Grund- und Immobilien­eigentümer­innen aufgrund von Wertsteige­rungen durch öffentlich geschaffen­e Infrastruk­turen müssten an die Allgemeinh­eit rücküberfü­hrt und damit vernachläs­sigte ländliche Gebiete gefördert werden (S. 198ff.). Zudem sollten regionale Banken geschaffen werden, die vom „vom Erfolg

„Der moderne Kapitalism­us hat das Potenzial, uns allen beispiello­sen Wohlstand zu bringen, aber er ist moralisch bankrott und steuert geradewegs auf eine Tragödie zu.” (Paul Collier in 87 , S. 45)

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