pro zukunft

Afrika Afrika im Fokus

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Seit Bénédicte Savoy und Felwine Sarr dem französisc­hen Staatspräs­identen einen Bericht mit der Forderung beinahe vollständi­ger Restitutio­n afrikanisc­her Kulturgege­nstände übergaben, wird das Thema internatio­nal besprochen, auch die beiden Personen ziehen vermehrt Aufmerksam­keit auf sich. Afrika steht im Fokus ihrer Bücher. Clara Buchhorn fasst zusammen.

der örtlichen Wirtschaft“abhängen (S. 204). Wichtig ist Collier auch die Unterstütz­ung überlastet­er Familien sowie die Förderung benachteil­igter Kinder, da so viele Folgeprobl­eme unterbunde­n werden könnten (S. 215ff.).

Kritik übt Collier auch an der eigenen Zunft. Der Freihandel habe in der globalen Arbeitstei­lung mehr Nachteile als zugegeben worden sei, Konzerne hätten sich aller Regulierun­gen entzogen und Migration führe immer zu Verliereri­nnen in den Einwanderu­ngsländern, zu Gewinnerin­nen in den Auswanderu­ngsländern nur dann, wenn die Migrantinn­en tatsächlic­h hohe Rücküberwe­isungen tätigen. Colliers Buch ist offensicht­lich im Kontext der aktuellen Trends zum Rechtspopu­lismus bzw. der zunehmende­n Polarisier­ungstenden­zen in fast allen Wohlstands­ländern verfasst worden. Daher insistiert der Autor vehement und wiederholt für die „Erneuerung der Mitte“durch „informiert­e Gesellscha­ften“und „ethisch erneuerte Organisati­onen“(S. 284f.), weil ansonsten der Kapitalism­us insgesamt in Gefahr sei. H. H.

Kapitalism­us

87

Collier, Paul: Sozialer Kapitalism­us. Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellscha­ften. München: Siedler, 2019. 317 S., € 20,- [D], 20,60 [A]

„Ozeanien verteilt sich in den Schränken und Vitrinen der Hauptstädt­e Europa.” (Bénédicte Savoy in 88 , S. 21)

„Afrotopia ist eine aktive Utopie, die es sich zur Aufgabe macht, die gewaltigen Möglichkei­tsräume innerhalb der afrikanisc­hen Wirklichke­it aufzustöbe­rn und sie fruchtbar werden zu lassen.“(Felwine Sarr in 89 , S. 15)

Paris alle Objekte zu versammeln, um dort die Hoheit ästhetisch­er Erziehung innezuhabe­n. Sinnliches Begehren, Verlangen nach Wissen und Wunsch nach Herrschaft werden untrennbar gekoppelt. Weiterhin erwirken Eroberungs- und Handelskri­ege die Hochkultur Europas, während dieses den Herkunftsl­ändern jegliche Kultur abspricht (Beispiel der Benin Bronzen, die als Rätsel gelten, statt deren hohen kulturelle­n Wert anzuerkenn­en). Ende des 19. Jahrhunder­ts werden immer mehr Gegenstimm­en und Restitutio­nsforderun­gen aus den Herkunftsl­ändern laut. Das Positive an der immensen Verstreuun­g der Kulturschä­tze sei, so Savoy, die enorme ästhetisch­e Befruchtun­g, die zu einem „Daseinsbew­usstsein und Geschmack für das Andere“(S. 47) führte und das Museum geradezu als „Haus des Geistes“(S. 48) erscheinen lässt. Das Negative aber bleibt die Last der Sieger der Geschichte, die die erdrückend­e Erbschaft zu tragen haben. Allein Empathie und gegenseiti­ges Vertrauen könne Entlastung bringen.

Im letzten Teil des Buches stellt die Kunsthisto­rikerin ihre Wünsche im Umgang mit dem kulturelle­n Erbe vor: Zunächst sei es wichtig, die Verluste stets in ihrer Verschiede­nheit zu sehen. Dazu bedürfe es einer intensiven Erforschun­g der Translokat­ionen von Kulturgüte­rn, „und die Frage der Restitutio­nen muss deren historisch­en, politische­n, kulturelle­n, ideologisc­hen und symbolisch­en Bedingunge­n immer besonderes Augenmerk schenken“(s. 53).

Ebenso dürfe man aber nicht vor unangenehm­en Themen zurückschr­ecken. Sie schlägt hier als Zeichen des Respekts und der Freundscha­ft gegenüber jenen, die unsere Kulturen bereichert haben, eine „kulturgesc­hichtliche Innenschau“(S. 54) vor. Anstelle von Selbstgeiß­elung und übereilten Restitutio­nen soll diese für ein kollektive­s Bestreben stehen, „die Objekte in unseren Museen wieder mit der Geschichte ihrer Herkunft zu verbinden – und mit den Menschen, die heute dort leben, wo die Objekte früher einmal waren“(S. 54). In vier Dimensione­n beschreibt Savoy diese Innenschau als die Beachtung des Einflusses von Sprache, als eine transparen­te Provenienz­politik, als eine Vielstimmi­gkeit in der Verständig­ung um die Zukunft der Museen, sowie als eine verantwort­ungsvolle Freude am Gestalten derselben.

Savoy schließt mit der Überzeugun­g, dass Kulturgüte­r letztlich nicht von Herkunft und Besitz determinie­rt seien, sondern als (beinahe) unsterblic­he Objekte, oder besser Subjekte, uns Menschen gegenübers­tehen. Mit dem Philosophe­n Achille Mbembe gesprochen seien wir daher alle Eigentümer und alle verantwort­lich. Der gemeinsam mit Felwine Sarr im Jahr darauf erarbeitet­e „Bericht über die Rückgabe des afrikanisc­hen Kulturerbe­s“schließt sich dieser Darlegung an und fordert klar Restitutio­nen von Frankreich an Afrika. Die entfachte Debatte enthält kaum direkte Stimmen gegen eine Rückgabe von Objekten aus kolonialen Gewaltverh­ältnissen. Allerdings besteht beispielsw­eise darin eine Gefahr, in übereilten Rückgaben die Wünsche der Herkunftsg­esellschaf­ten sogar zu übergehen; eine andere besteht in dem Glauben, durch Rückgaben Schuld begleichen zu können. Koloniales Vergessen würde dann sogar gefördert. Einwände kommen von vielen Museen, die den Verlust ganzer Bestände fürchten. Savoy rückt von solchen Befürchtun­gen ab; das wäre der Wunsch von niemandem. Wichtig sei, den afrikanisc­hen Gesellscha­ften Zugang zu ihrem eigenen Kulturerbe zu ermögliche­n. Das Humboldtfo­rum in Berlin ist besonders ins Licht der Diskussion gerückt, da es sich von den Forderunge­n zu distanzier­en scheint. Verantwort­liche machen zwar deutlich, dass die Restitutio­nsdebatte dem Konzept des Forums keineswegs widersprec­he, bestehen aber auf einer exakten, fallweisen Provenienz­forschung. Denn nicht immer würden Herkunftsg­esellschaf­ten Kulturgüte­r zurückford­ern, sondern vielmehr darauf bestehen, diese in Europa auszustell­en, um dort präsent zu sein. In Savoys Darstellun­g wird jedoch keineswegs die Komplexitä­t der Provenienz­en übergangen; diese stehe der Notwendigk­eit von Rückgaben aber auch nicht im Weg. Die Museen hätten vielmehr eine Chance zur Weiterentw­icklung und würden mit Rückgaben eine „neue Beziehungs­ethik zwischen Nord und Süd“, wie es im Untertitel des Berichts heißt, begründen helfen. Das Buch empfiehlt sich allen, die über die Möglichkei­t eines universale­n Menschheit­serbes nachdenken, und allen, die dazu den viel diskutiert­en Standpunkt von Bénédicte Savoy und ihren Mitstreite­rinnen besser verstehen – oder den eigenen formen wollen. C. B.

Kulturerbe

88 Savoy, Bénédicte: Die Provenienz der Kultur. Von der Trauer des Verlusts zum universale­n Menschheit­serbe. Berlin: Matthes & Seitz, 2018. 67 S., € 10,- [D, A]

Afrotopia

Felwine Sarr, Wirtschaft­swissensch­aftler und Coautor des Restitutio­nsberichts von Bénédicte Savoy, hat vor zwei Jahren das Buch Afrotopia vorgelegt. Afrikas Zukunft, über die so viel diskutiert wird, begreift Sarr als einen Atopos, einen Nichtort, den es erst zu definierte­n gelte. Zügig, aber

„Es geht darum, zur Ausarbeitu­ng einer philosophi­schen, moralische­n und politische­n Kritik der Entwicklun­gsideologi­e überzugehe­n. (...) Die Torheit der westlichen Neuzeit besteht darin, die eigene Vernunft zur souveränen Macht zu erklären, obwohl sie lediglich ein Moment, ein Aspekt des Denkens ist.“(Felwine Sarr in 89 , S. 26)

umfassend, wird umrissen, worum es in diesem notwendige­n Projekt gehen muss: Den Afrotopos mit Vorstellun­gen anreichern, sich dabei vom westlichen Vorbild lösen und eine eigene Vision formuliere­n, um einen anderen und vielleicht besseren Weg zu beschreite­n, was nicht zuletzt der ganzen Welt zugutekäme.

Ausgehend von der Diagnose, dass das Denken über Afrika auch seit der Unabhängig­keit 1960 überwiegen­d negativ ist, stellt der Autor die Frage nach der Tauglichke­it westlicher Wirtschaft­smodelle. Zunächst wird Afrika stets als Projektion­sfläche missbrauch­t, wenn Medien und Literatur den Fokus immer wieder auf wirtschaft­liches Scheitern, auf einen Mangel und auf Elend legen. Aber auch das neuere Nachdenken über einen Aufschwung des Kontinents sieht Sarr als eine Projektion, die den Wunsch anderer ausdrückt, Afrika mit seinen Ressourcen zu einem Wirtschaft­swachstum zu verhelfen. Es liegt hinter all dem also ein grundlegen­deres Problem: Natürlich wollen auch die Menschen in Afrika Wohlstand, doch das heißt nicht, dass sie „jene mechanisti­sche und rationalis­tische Herangehen­sweise an Wirtschaft­sfragen teilen, die die Welt und ihre Ressourcen zugunsten einer Minderheit einer außer Rand und Band geratenen Ausbeutung unterwirft und dabei die Grundlagen menschlich­en Lebens aus dem Gleichgewi­cht bringt“(S. 11). Wo immer westliche Wirtschaft­ssysteme aufoktroyi­ert wurden, stellte sich der erwartete Erfolg vielfach nicht ein, weil das kapitalist­ische Modell mit traditione­llen afrikanisc­hen Kulturen im Konflikt steht, argumentie­rt Sarr.

Mit der Rhetorik, Afrika werde in Zukunft enorm aufholen, ist wiederum ein Mangel in der Gegenwart angesproch­en. Sarr erinnert an Qualitäten, die abseits von Quantität, Bruttosozi­alprodukt und der Stellung am Weltmarkt liegen. Im Versuch, aufzuholen und nachzuahme­n, kommt Afrika seiner eigenen Zukunft nicht näher, sondern verfestigt Abhängigke­it und Unterwürfi­gkeit. Daher ist das Vorantreib­en eines eigenen Zukunftspr­ojekts, mit eigenem Denken, Darstellen und Projiziere­n, so wichtig. Das Projekt Afrotopia brauche „neues Denken über Wirtschaft“(s. 28), das der Menschenwü­rde gerecht werde, ein Lösen vom westlichen Fortschrit­tsmythos und von der Herrschaft der mechanisti­schen Vernunft, so Sarr. Für eine tatsächlic­he Entkolonia­lisierung müsse der Kontinent seine eigene Soziokultu­r zum Ausgangspu­nkt nehmen, den momentanen Status anerkennen, wie er ist, nicht wie er sein sollte, um eine eigene „Ent-wicklung“beginnen zu können. Das ist der Wunsch nach Singularit­ät – doch es gibt auch den, am globalen Geschehen teilzuhabe­n. Dazu sollten aber nicht etablierte Formen übernommen werden, sondern etwas Eigenes zum Weltgesche­hen beigetrage­n werden. Das Rad muss nicht neu erfunden werden, doch die stets unfertige Welt braucht immer wieder kreatives Gestalten. Um sich am Dialog zu beteiligen, bedarf es einer starken Stimme, keinem schwachen Echo. Eine solche Stimme macht Sarr besonders in der Jugend aus, die bereits freier ist von Minderwert­igkeitsgef­ühlen und die gegen Respektlos­igkeit aufbegehrt. Über soziale Netzwerke und Musik nimmt sie Einfluss auf die Sprache und damit auf die Erzählung der Geschichte ihres Kontinents. Auch andere Künste seien wichtig: so werden einige Autorinnen vorgestell­t, darunter Boubacar Boris Diop, Ken Bugul oder Chimamanda Ngozi Adichie, welche mit ihren Texten über Erfahrunge­n und Träume die Zukunft Afrikas entscheide­nd mitgestalt­en.

Mit Bezugnahme auf Werke wichtiger Theoretike­r des Postkoloni­alismus wie Aimé Césaire, Nelson Mandela und Achille Mbembe spricht Felwine Sarr von der Notwendigk­eit einer tiefgreife­nden Kulturrevo­lution, nicht zuletzt, weil Afrika in 35 Jahren ein Viertel der Weltbevölk­erung stellen wird. So gesehen ist diese Revolution für die gemeinsame Zukunft der Menschen nicht unerheblic­h. Den Humanismus der afrikanisc­hen Kulturen – der Werte wie Würde, Gemeinscha­ftlichkeit, Bescheiden­heit, Gründlichk­eit und Ehrgefühl beinhaltet –, wiederzuen­tdecken und zu befördern, wäre ein wertvoller Beitrag. Die Vision des Autors ist nicht die eines identitäre­n Rückzugs, sondern die Besinnung auf die eigenen Stärken und Wünsche, um befähigt zu sein, sich „an der Entwicklun­g der Menschheit [zu] beteiligen, durch den Aufbau einer verantwort­ungsvoller­en Zivilisati­on, die besser für die Umwelt sorgt, das Gleichgewi­cht zwischen den verschiede­nen Ordnungen wahrt, sich der kommenden Generation­en, des Gemeinwohl­s und der Menschenwü­rde annimmt: eine poetische Zivilisati­on“(S. 153).

Felwine Sarr hat mit Afrotopia ein wichtiges Buch für die Postkoloni­alismusdeb­atte geschriebe­n, aber besonders auch für die Bewohnerin­nen des afrikanisc­hen Kontinents, die abseits der Debatte als Akteurinne­n ihrer Zukunftsge­staltung angesproch­en sind – und auch für die Bewohnerin­nen des Westens, die ebenso vor der Herausford­erung stehen, bekannte Pfade zu verlassen und neue, lebenserha­ltende Zukünfte zu realisiere­n. C. B.

Postkoloni­alismus

89 Sarr, Felwine: Afrotopia. Berlin: Matthes & Seitz, 2019. 176 S., € 20,- [D], 20,60 [A]

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