Menschenrechte Über Rechte und Pflichten
Mit Menschenrechten hat sich Birgit Bahtić-kunrath eingehend auseinandergesetzt. Fünf Publikationen widmen sich der Komplexität von Freiheit, der regionalen Menschenrechtspraxis in Österreich und Deutschland, der Dualität von Menschenrechten und Menschenpflichten, Grundgesetzen sowie der Aushebelung von grundlegenden Rechten im Anti-terrorkampf.
Eingehend hat sich Birgit Bahtić-kunrath mit Veröffentlichungen zum Thema Menschenrechte befasst. Fünf Publikationen widmen sich der Komplexität von Freiheit, der regionalen Menschenrechtspraxis in Österreich und Deutschland, der Dualität von Menschenrechten und Menschenpflichten, Grundgesetzen sowie der Aushebelung von grundlegenden Rechten im Anti-terrorkampf. Komplexe Freiheit
Der Soziologe Helmut Willke beschäftigt sich mit dem Menschenrecht der „Freiheit“aus der Perspektive der Systemtheorie: Freiheit wird als komplexes Konstrukt verstanden, welches untrennbar mit Demokratie verbunden ist. Zwei große Megatrends der Moderne bedrohen aktuell die Freiheit und damit die Demokratie: die Globalisierung und die Digitalisierung. Globalisierung schafft zunächst neue Freiheitsräume durch Entgrenzung, doch bedroht sie Freiheit, wo sie Demokratie unterminiert. Als „Semi-souveränität“bezeichnet Willke das Phänomen, welches Staaten zunehmend auf Grund kolportierter „Sachzwänge“in ihrer Steuerungsfähigkeit einschränkt. Als Beispiel nennt er das Wirken der Eutroika in Griechenland: „Wird nun das Parlament faktisch zu bestimmten Entscheidungen genötigt, wenn auch nur, um damit größeren Schaden abzuwenden, dann schwindet mit dem Souveränitätsanspruch des politischen Systems insgesamt auch das, was Souveränität als Raum freier kollektiver Entscheidung konstituiert – nämlich individuelle Freiheit als Kompetenz autonomer Entscheidungsfindung“(S. 30). Die mit der Globalisierung aber auch großer globaler Problemlagen einhergehende steigende Komplexität überfordert Nationalstaaten zunehmend, und hier vor allem Demokratien; der Umgang mit dem Klimawandel ist in diesem Zusammenhang etwa ein gutes Exempel. Die Stärkung von autonomen Subsystemen durch Subsidiarität und Föderalisierung könnte eine Lösung sein, freilich nur, wenn politische Steuerungskapazität dadurch nicht noch mehr eingeschränkt wird. Ambivalente Folgen für die Freiheit hat weiterhin die Digitalisierung: Diese mag im ersten Schritt neue Freiräume schaffen, doch: „Die Währung, in der die neuen Freiheiten bezahlt werden, ist tolerierte Unfreiheit“(S. 64). Willke kritisiert in diesem Kontext vor allem die großen Internetkonzerne: „Welche Akteurs- und Interessenkonstellationen stehen hinter dem Datenhunger der globalen Netze, und welche (Un-)freiheitskonzeptionen scheinen dahinter auf?“(S. 65). Das womöglich größte Problem für die Demokratie seien hier gezielte
Manipulationen, wie sie der Facebookskandal rund um die Aktivitäten von Cambridge Analytics und deren Eingreifen in den Us-präsidentschaftswahlkampf 2016 gezeigt hat – denn dort, wo manipuliert werde, werden zumindest Entscheidungs- und Handlungsfreiheit empfindlich eingeschränkt. (vgl. S. 67f.)
Willke schlussfolgert, dass die moderne Bedrohung der Freiheit die Manipulation sei. (vgl. S. 91) Deswegen plädiert er für eine neue „Grammatik der Freiheit“(vgl. S. 89), die der neuen Komplexität von Gesellschaft gewachsen ist. Dazu braucht es ein Zusammenspiel vieler verschiedener Arten von Freiheit – individuelle Freiheit, Zugang zu Wissen, gleichzeitig aber das Einsehen, dass in einer hochkomplexen Welt nicht mehr alles gewusst werden kann und Expertinnen eine immer wichtigere Rolle spielen. Auch der wirtschaftlichen Ungleichheit muss der Kampf angesagt werden: „Eine Freiheitstheorie muss sich mit der Ungleichheit der Einkommensverteilung beschäftigen, weil wirtschaftliche Ungleichheit zwar nicht zwingend, aber im Regelfall zu einer Kaskade sozialer Benachteiligungen führt, die am Ende bedeutet, dass der Freiheitsraum einer disprivilegierten Person sukzessive eingeschränkt und die Ungerechtigkeit der Verteilung zu einer generellen Bedrohung der Freiheit wird“(S. 110).
„Wird nun das Parlament faktisch zu bestimmten Entscheidungen genötigt, wenn auch nur, um damit größeren Schaden abzuwenden, dann schwindet mit dem Souveränitätsanspruch des politischen Systems insgesamt auch das, was Souveränität als Raum freier kollektiver Entscheidung konstituiert – nämlich individuelle Freiheit als Kompetenz autonomer Entscheidungsfindung.” (Helmut Willke in 90 , S. 30)
Überforderung als Problem
Ein großes Problem für die Freiheit ist die „Überforderung durch Komplexität“(vgl. S. 139), welcher durch Subsidiarität und Föderalität begegnet werden soll. Neben dem traditionellen vertikalen Machtgefüge einer Demokratie (Zentralregierung – Land – Region – Gemeinde) soll es eine horizontale Dezentralisierung von Steuerungsaufgaben geben: Alles, was in gesellschaftlichen Subsystemen (zum Beispiel Bildungssystem, Gesundheitssystem) selbst entschieden werden kann, soll die Politik nicht kümmern (vgl. S. 150). Willke beschließt seine Ausführungen mit der Feststellung, dass Freiheit immer von den Qualitäten der jeweiligen Gesellschaft abhängt. Der Nationalstaat, falls demokratisch, bleibt der wichtigste Garant von Freiheit – was durchaus nicht als Rückzug aufs Nationale gemeint ist. Vielmehr
sollten nationalstaatliche Steuerungssysteme in multilaterale Regelungen Einzug halten und eine Demokratisierung dieser ermöglichen – in Form eines Mehrebenensystems, welches von der lokalen bis zur globalen Ebene verschiedene Möglichkeiten zum freien Handeln bietet.
Bereits der Buchtitel „Komplexe Freiheit“weist darauf hin, dass sich diese Abhandlung eher an ein Fachpublikum richtet. Mitunter sehr dicht, legt Willke einen neuen Zugang zum Freiheitsbegriff offen, der über das politische System definiert wird. Ein wichtiger Beitrag zur Arbeit am Begriff „Freiheit“als eines der zentralsten Menschenrechte, der die Vielschichtigkeit des Begriffs intensiv aufarbeitet. B. B.-K. Freiheit
90 Willke, Helmut: Komplexe Freiheit. Konfigurationsprobleme eines Menschenrechts in der globalisierten Moderne. Bielefeld: transcript, 2019. 305 S., € 29,99 [D, A]
Menschenrechtspraxis
Der von Josef P. Mautner herausgegebene Sammelband stellt die aktuelle Arbeit, Herausforderungen und Perspektiven der regionalen Menschenrechtspraxis in Österreich und Deutschland ins Zentrum. Mehr als 20 Autorinnen erklären rechtliche Hintergründe, erläutern detailliert den aktuellen Zustand der Menschenrechte vor allem in Österreich, und zeigen anhand von Praxisbeispielen, wie man Menschenrechtsarbeit erfolgreich umsetzt.
Mautner veranschaulicht gleich zu Beginn erst einmal die Schwerpunkte regionaler Menschenrechtspraxis: „Diese Menschenrechtspraxis ist lebensund sozialraumorientiert und sie entsteht aus direkten Erfahrungen von unten: aus der direkten Betreuung von Flüchtlingen in einer Gemeinde, aus dem Konfrontiertsein mit obdachlosen Notreisenden, aus der interreligiösen Zusammenarbeit mit muslimischen Gemeinden im Stadtteil usf.“(S. 15). Es geht also darum, menschenrechtliche Probleme vor Ort konstruktiv anzugehen. In Österreich und Deutschland betrifft das vor allem vier Bereiche: Rassismus, Flucht und Asyl, Religionsund Weltanschauungsfreiheit sowie Armut. Die Publikation wird eben diesen großen Themenfeldern gewidmet.
Der erste große Bereich regionaler Menschenrechtsarbeit ist der Rassismus, der sich häufig subtil im Alltag äußert und somit oft bagatellisiert wird. Mark Terkessidis erklärt, warum ein scheinbar freundliches Interesse an der Herkunft zeigt, dass man doch nicht dazugehört, dass man „woanders“verortet wird und damit auch „anders“ist. Vor allem Migrantinnen der zweiten und dritten Generation leiden darunter; auch, weil es in der „Mehrheitsgesellschaft“kaum Problembewusstsein dafür gibt: „Ein Vertreter von rechtsextremen Ideologien ist zumeist leicht zu erkennen. Schwieriger wahrzunehmen sind Selbstverständlichkeiten, die völlig unabsichtlich zu unscheinbaren, aber immer wiederkehrenden Erlebnissen führen, die Menschen zu ‚Fremden‘ machen und dauerhaft einen Unterschied zwischen ‚uns‘ und ‚ihnen‘ etablieren“(S. 26).
Als weiteres Problem wird der Umgang mit dem Islam beziehungsweise mit Musliminnen diskutiert: Franz Gmainer-pranzl und Haliemah Mocevic zeigen, dass islamische Glaubenspraxis in Österreich einer zunehmenden Kriminalisierung unterliegt. Dazu kommt eine immer stärker werdende Kulturalisierung von Problemen, die Menschen aus schwachen sozialen und ökonomischen Verhältnissen häufig haben – diese werden nun dem Islam zugeschrieben: „Personen und Gruppen auf eine ‚Kultur‘ oder ‚Religion‘ festzulegen, verhindert eine differenzierte Auseinandersetzung mit jenen Faktoren und Lebensbedingungen, die für die konkrete Situation eines Menschen tatsächlich ausschlaggebend sind“(S. 44). Der Islam ist mittlerweile in der Politik ein „Kampfthema“geworden; Musliminnen müssen allerlei verallgemeinernde Zuschreibungen ertragen.
Ähnlich schwierig ist die Lage im Bereich Asyl: Ursula Liebig zeigt, wie sich in den letzten Jahren die rechtliche Situation von Asylwerberinnen in Österreich verschlechtert hat. Anstelle von Schutz für Verfolgte geht es nun um Abschreckung von Neuankömmlingen. Für Flüchtlinge ist es zudem schwer, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen – ohne professionelle Begleitung durch (meist ehrenamtliche) Helferinnen könnten viele ihre oft zu Unrecht negativen Bescheide nicht bekämpfen. Liebig zeigt, dass gerade in diesem Bereich regionale Menschenrechtsarbeit unverzichtbar ist.
Der letzte große Themenbereich ist die Armut. Diese betrifft in Österreich immer mehr Menschen, wird aber vorrangig nur an Bettlerinnen aus Osteuropa dargestellt, die lokal gerne mit Bettelverboten drangsaliert werden. Heinz Schoibl betont: „Bettelverbote in Österreich sind menschenrechtswidrig“(S. 89). Er verweist auf mehrere Entscheide des Verfassungsgerichtshofs, der etwa das totale Bettelverbot in Salzburg aufgehoben hat. Nichtsdestotrotz wird das Thema Betteln in Österreich vor allem medial skandalisiert. Anschließend bietet der Band eine Zusammenstellung von Beispielen gelebter Menschenrechtsarbeit, etwa Anti-rassismus-arbeit, der Umgang
„Ein Vertreter von rechtsextremen Ideologien ist zumeist leicht zu erkennen. Schwieriger wahrzunehmen sind Selbstverständlichkeiten, die völlig unabsichtlich zu unscheinbaren, aber immer wiederkehrenden Erlebnissen führen, die Menschen zu ‚Fremden‘ machen und dauerhaft einen Unterschied zwischen ‚uns‘ und ‚ihnen‘ etablieren.“(Mark Terkessidis in 91 , S. 26)
mit Extremismus vor allem bei jungen Menschen, lokale Gruppen die engagierte Flüchtlingsarbeit leisten.
Zuletzt werden Perspektiven regionaler Menschenrechtspraxis erörtert: Um weiterhin sichtbar und relevant zu bleiben, brauche Menschenrechtsarbeit vor allem die Dokumentation von Rechtsverletzungen vor Ort. Zudem wichtig sei Menschenrechtsbildung auf allen Ebenen, vor allem in Schulen. Und es braucht konkrete Umsetzungsprojekte, die nicht nur von engagierten Individuen, sondern auch von Politik und Verwaltung betrieben wird – wie es etwa die Menschenrechtsstädte tun. B. B.-K. Menschenrechtsarbeit
91 Regionale Menschenrechtspraxis. Herausforderungen – Antworten – Perspektiven. Hrsg. v. Josef P. Mautner. Wien: Mandelbaum Verl., 2018. 320 S., € 17,- [D, A]
Ohne Prozess
Den „Krieg gegen den Terror“und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen thematisiert der Jurist Josef Alkatout auf sehr eindringliche Weise, indem er die Geschichten der Opfer dieses Kampfes in den Vordergrund stellt. Der „Krieg gegen den Terror“hat seine Wurzeln in den Anschlägen des 11. Septembers 2001. Die daraufhin eingeführten präsidentiellen Vollmachten führten zu einer beispiellosen Entrechtung von Terrorverdächtigen – inklusive Inhaftierungen ohne Anklage und Rechtsbeistand sowie politisch gedeckter Folter. Dies hat laut Alkatout weitreichende Folgen: „Die fehlende Bestrafung der amerikanischen Täter, oder gar deren Beförderung, ist nicht nur den bereits existierenden Opfern gegenüber bedenklich. Sie setzt die Ausgangslage für künftige Generationen möglicher Betroffener, denen ein amerikanischer Cia-beamter begegnet, fest. Dieser wird sich seiner sicher sein, Folter anwenden zu können, ohne dafür bestraft zu werden“(S. 24). Ebenso schwer wiegt die Tatsache, dass der von den USA und deren Verbündeten begangene Rechtsbruch korrupte und diktatorische Regime geradezu ermutigt, ihre bislang zumindest versteckten Praktiken fortzuführen oder gar auszubauen.
Besonders bedrückend ist, dass die amerikanische Justiz den entrechteten Personen nicht beisteht: Zwar streichen namhafte Juristinnen immer wieder heraus, dass aktuelle Anti-terror-praktiken völlig im Gegensatz zum Rechtsstaat stehen, doch hat der Oberste Gerichtshof einschlägigen Beschwerden selten stattgegeben, vor allem wenn es um Guantánamo-insassen ging. Als sich herausstellte, dass ein Großteil der Insassen auf Grund fehlerhafter Ermittlungen, Verdächtigungen oder Denunziation unschuldig in Guantánamo einsitzt, konnte man sich dennoch nicht zu deren Freilassung durchringen: Zu groß war dann doch die Angst vor Rache. (vgl. S. 65)
Ein Blick auf das internationale Kriegsrecht und die Internationale Menschenrechtskonvention zeigt, wie weit sich die USA, aber auch ihre europäischen Verbündeten, von ihren einstigen Grundsätzen entfernt haben. Ein besonders großes Problem sind dabei die Tötungen von vermeintlichen Terroristinnen durch Drohnen, die oft unpräzise sind und viele zivile Opfer fordern. Vor allem stellen Drohnen alles in Frage, was die Verrechtlichung des Krieges durch die Genfer Konventionen geschaffen hat – und was seit Jahrtausenden in Kriegen als moralische Standards anerkannt wird: Militärische Notwendigkeit einer Operation, Verhältnismäßigkeit, die Unterscheidung von Kombattantinnen und Zivilistinnen, die Gnadenregel, das Ablehnen von Heimtücke. Die Argumente, dass man mit Drohnen auf neue Formen des Krieges mit vor allem irregulären Streitkräften reagieren könnte und dass sich größere Kriegsschäden vermeiden ließen, lassen sich weitergehend empirisch widerlegen: „Die Militärexperten der Washingtoner Publikation Foreign Policy kommen zu dem Schluss, dass Drohnenangriffe außerhalb von Kriegsgebieten 35 Mal mehr Zivilisten zum Opfer haben als Luftangriffe bemannter Flugzeuge in herkömmlichen bewaffneten Konflikten wie in Irak, Syrien oder Afghanistan. Auch eine vom Vereinigten Generalstab der Us-streitkräfte in Auftrag gegebene unabhängige Studie vom Juni 2013 bestätigt, dass Drohnen mindestens zehn Mal so viele zivile Opfer verursachen wie Kampfjets“(S. 122). Doch sind Drohnen billiger, zeiteffizient, die operativen Einsätze können ausgelagert werden, man riskiert nur das Leben der „Feinde“. Damit bleibt nur diese eine Bilanz: „Drohnenangriffe umgehen den Rechtsstaat. Ein Rechtsstaat, den unsere Vorfahren ihren Herrschern mühsam abgerungen haben und für dessen Verteidigung viel Blut geflossen ist“(S. 127). Außerdem lässt der Krieg gegen den Terror die Welt unsicherer werden. Anstelle Radikalismus zu bekämpfen, mobilisiert er junge Personen gegen den Westen.
Was die Zukunft anbelangt, bleibt Alkatout ambivalent: Einerseits weist nichts darauf hin, dass sich die Situation für die entrechteten „Feinde“des Westens bald verbessern könnte. Der Drohnenkrieg stößt im Westen kaum auf Kritik. Gleichzeitig gibt es die Staatsanwältinnen und Polizistin
„Die fehlende Bestrafung der amerikanischen Täter, oder gar deren Beförderung, ist nicht nur den bereits existierenden Opfern gegenüber bedenklich. Sie setzt die Ausgangslage für künftige Generationen möglicher Betroffener, denen ein amerikanischer Ciabeamter begegnet, fest. Dieser wird sich seiner sicher sein, Folter anwenden zu können, ohne dafür bestraft zu werden.” (Josef Alkatout in 92 , S. 24)
nen, die Terrorverdächtigten mit rechtsstaatlichen Mitteln entgegentreten und damit zeigen, dass man Terror legal bekämpfen kann. Und im Nahen Osten gibt es Bemühungen, beispielsweise die Verbrechen des IS in rechtsstaatlicher Manier aufzuarbeiten – so, wie es bei den Nürnberger Prozessen geschah, an die man sich im Westen offenbar nicht mehr erinnern will. Der Autor zeigt Verständnis für die muslimische Wut gegen den Westen angesichts all des Leids, ohne zugleich Terror zu verharmlosen. Terror muss bekämpft werden – und der liberale Rechtsstaat hat dazu alle Mittel. Man muss ihn nur gewähren lassen. B. B.-K.
Menschenrecht 92 Alkatout, Josef: Ohne Prozess. Die Entrechtung unserer Feinde im Kampf gegen den Terror. Wien: Promedia, 2018. 256 S., € 19,90 [D, A]
Rechte und Pflichten
Aleida Assmann, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2018, macht sich auf die Suche nach „Schlüsselbegriffen für eine humane Gesellschaft“. Kontext ist die aktuelle Krise der EU, welche die Autorin auch auf die Migrationsbewegungen seit 2015 zurückführt – diese haben globales Leid in die Mitte Europas gerückt und bedeuten einen „ultimativen Belastungstest“für Europa (S. 22). Europa brauche einen neuen Gesellschaftsvertrag, der die Demokratien neu festigen soll – und der die grundlegende Frage stellt, wie wir in einer multipluralen Gesellschaft miteinander umgehen sollen, bzw. welche Regeln das gute Zusammenleben braucht.
Dafür unternimmt die Autorin einen kurzen Streifzug durch die Kulturgeschichte, der zeigt, dass die Vorstellungen vom guten Zusammenleben in verschiedenen Kulturen einander stark ähneln. Die in allen Kulturen bekannte Goldene Regel („Alles nun, das ihr wollet, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen“– Mt. 7,12, S. 59) ist das beste Beispiel dafür. Diese alten Werte sind heute vor allem wieder durch den Begriff „Menschenpflichten“ins Gespräch gekommen.
Den Menschenpflichten gegenüber stehen die Menschenrechte – eine historisch wesentlich jüngere Idee der Aufklärung, die erst nach dem Holocaust internationale Anerkennung erfuhr bzw. als „letzte Utopie“auftrat: „An die Stelle einer Mobilisierungsrhetorik, die auf Gewalt setzte, um mit dem Mittel des Klassenkampfs eine bessere Zukunft zu verwirklichen, trat eine Rhetorik der Menschenwürde, die für die Opfer der Gewaltgeschichte eintrat und das verletzliche und bedürftige Individuum unter Schutz stellte.“(S. 68) Das alte Konzept der Menschenpflichten mag gegenüber den Menschenrechten zunächst wenig attraktiv wirken. Doch Menschenpflichten sollen Menschenrechte nicht aushöhlen, sie sollen diese ergänzen – und vor allem: „Damit zukünftige Generationen überhaupt noch Rechte wahrnehmen können, müssen sich ihre Vorgänger Schranken auferlegen und Selbstverpflichtungen eingehen. In diesem Punkt sind Rechte und Pflichten immer schon miteinander verkoppelt“(S. 76). Von Bedeutung ist auch, dass Menschenpflichten niemals eine rechtliche Verpflichtung gegenüber dem Staat oder einem Gott gegenüber sein können, sondern nur gegenüber den Mitmenschen. Tatsächlich hat es auch immer wieder Versuche gegeben, Menschenpflichten zu katalogisieren (vgl. S. 98ff.). Assmann verweist jedoch darauf, dass einhergehend mit den Menschenpflichten neue „Schlüsselbegriffe für eine humane Gesellschaft“ausgearbeitet und umgesetzt werden müssen: Höflichkeit als Praxis von Zivilität und Sozialität, sowie Anerkennung und Respekt. Vor allem Anerkennung ist ein Begriff, der mit dem Aufstieg der Identitätspolitik neue Aufmerksamkeit erhalten hat, wo Minderheiten um soziale Anerkennung kämpfen: „Akte der Anerkennung sind wichtige Voraussetzungen individueller Identität, sie schließen aber auch Fragen der Zugehörigkeit zu Geschlecht, Klasse, Nation, Religion und ethnischen Herkunftswelten ein“(S. 134f.). Der Gegenpart der Anerkennung ist die Aberkennung: Diese sei nicht nur ein Mangel an Respekt sondern führe den Opfern schwere Wunden zu und könne bis zum Völkermord gehen (vgl. S. 142f.).
Eine zentrale Rolle spielt Respekt. Erst durch Respekt wird ein Miteinander von unterschiedlichen Menschen überhaupt möglich. Wobei traditionelle Formen von Respekt durchaus das Potenzial zur Unterdrückung haben – etwa Statusrespekt, der sich auf „natürliche“Hierarchien beruft, oder Leistungsrespekt, wo Individuen auf Grund ihrer Erfolge Respekt genießen. Erst sozialer Respekt sucht danach, Ungleichheit zu überwinden und Ausgegrenzte einzubinden, ebenso wie der relativ junge kulturelle Respekt, der im Gegensatz zum sozialen Respekt Trennendes wieder in den Vordergrund rückt – unter der Prämisse, dass Differenz und Fremdes genauso viel Respekt wie das Eigene verdienen. Diese Form findet sich im Konzept des Multikulturalismus wieder, dessen große Gefahr die Relativierung von Werten ist. Die Autorin plädiert hier für „Zivilisation“: Während Kultur durchaus trennen darf, muss es eine globale Zivilisation geben – universalisierbare Grundwerte, wie etwa die Goldene Regel.
„Drohnenangriffe umgehen den Rechtsstaat. Ein Rechtsstaat, den unsere Vorfahren ihren Herrschern mühsam abgerungen haben und für dessen Verteidigung viel Blut geflossen ist.“(Josef Alkatout in 92 , S. 127)
„Damit zukünftige Generationen überhaupt noch Rechte wahrnehmen können, müssen sich ihre Vorgänger Schranken auferlegen und Selbstverpflichtungen eingehen. In diesem Punkt sind Rechte und Pflichten immer schon miteinander verkoppelt.“(Aleida Assmann in 93 , S. 76)
Assmanns Begriffsarbeit für eine humane Gesellschaft trägt zu vielen Debatten bei, vor allem in Bezug auf die allgegenwärtige Integrationsdebatte: Wenn wir uns darauf einigen, ein limitiertes Set an Menschenpflichten zu akzeptieren, welches auf Höflichkeit, Anerkennung und Respekt aufbaut, wird ein gutes Zusammenleben trotz kultureller Unterschiede eine greifbare Möglichkeit – die zentrale Botschaft dieses Buches. B. B.-K.
Humanität 93 Assmann, Aleida: Menschenrechte und Menschenpflichten. Schlüsselbegriffe für eine humane Gesellschaft. Wien: Picus, 2018. 189 S., € 22,- [D, A]
Unsere Grundrechte
In seinem kompakten Buch zu den Grundrechten geht der deutsche Rechtsanwalt und Autor Georg M. Oswald Schritt für Schritt die ersten 19 Artikel des deutschen Grundgesetzes durch und erläutert leicht verständlich, was es mit jedem Recht im Detail auf sich hat – aus welchem historischen Kontext es entstanden ist, wie es in der Praxis umgesetzt wurde und welche Bedeutung es in der Gegenwart hat. Oswalds Verdienst ist es, dass er keinen trockenen Rechtstext vorlegt, sondern eine unterhaltsame Lektüre für all jene anbietet, die keinerlei juristisches Vorwissen mitbringen.
Die Tatsache, dass es um das deutsche Grundgesetz geht, macht das Buch nicht weniger interessant für Leserinnen aus anderen Ländern: Denn die grundsätzliche Essenz von Menschenwürde, Freiheitsrechten in ihren verschiedenen Ausprägungen oder das Bekenntnis zum Sozialstaat sind ja ohne Frage auch jenseits nationalstaatlicher Grenzen relevant.
Oswald setzt in seiner Übersicht auf Differenzierung und betont, dass viele Grundrechtsfragen schwierige Abwägungsmomente beinhalten: Ab wann ist ein Grundrecht verletzt? Wie verändert sich die Auslegung durch die Geschichte – wie „modern“muss ein Grundrecht sein?
Am Anfang der Grundrechte steht der schwierige Begriff der Menschenwürde. Diese ist nicht verhandelbar, denn: „Das Menschsein darf einem Menschen nicht abgesprochen werden, ohne Ausnahme, nie“(S. 27). Was die verschiedensten Freiheitsrechte anbelangt, gilt – wie auch bei anderen Grundrechten – das Prinzip der Verhältnismäßigkeit: „Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit endet dort, wo es Rechte anderer verletzt, gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen das Sittengesetz verstößt“(S. 36). Gleichzeitig ist vor allem die Intimsphäre eines Menschen besonders geschützt; denn ein absolut geschützter Raum ist zentral für die Autonomie. Hier konstatiert Oswald einen aktuellen Trend, sich der eigenen Autonomie zunehmend leichtfertig zu entledigen: Nicht der Staat, sondern große private Internetkonzerne werden zunehmend zur Gefahr für die individuelle Freiheit.
Auch die Meinungsfreiheit wird aktuell besonders diskutiert, im Kontext von Political Correctness und Fake News. Grundsätzlich ist es Ausdruck individueller Freiheit, eine eigene Meinung zu haben, und diese muss auch nicht wahr oder fundiert sein – doch darf damit nicht zum Hass aufgestachelt werden. Dem Vorwurf, Political Correctness beschneide die Meinung, kann Oswald wenig abgewinnen: „Wer sich von Political Correctness und Tugendterror verfolgt fühlt, erträgt möglicherweise nur nicht, dass man es wagt, seinen Ansichten zu widersprechen“(S. 63).
Wie sehr sich der „Geist“der Grundrechte über die Jahrzehnte ändern kann, zeigt das Beispiel des besonderen Schutzes von Ehe und Familie im Grundgesetz. Niemand hätte sich wohl während der Entstehungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg vorstellen können, dass Homosexuelle Ehen schließen können und Patchworkfamilien zur Normalität werden. Diese gesellschaftlichen Änderungen zeigen, dass die Auslegung der Grundrechte so dynamisch wie die Gesellschaft selbst sein muss. Das gilt auch für das antiquiert wirkende Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, welches tatsächlich mit der Datensammelwut großer Internetkonzerne neue Relevanz erhalten hat: Es wird nun zu einem Grundrecht „informationeller Selbstbestimmung“(vgl. S. 110) und muss endlich an die neuen Realitäten angepasst werden. Dem Asylrecht widmet Oswald besonderes Augenmerk – kein anderes Recht ist in den letzten Jahren so heftig hinterfragt worden. Das Asylrecht ist vor allem mit Generosität verbunden: Man gewährt Schutz, nicht weil man es sich leisten kann, sondern aus humanitären Gründen. Damit sind auch die oft gehörten Argumente des „vollen Bootes“obsolet.
Am Ende plädiert der Autor für das Zulassen von Komplexität – sei es jene, die von einer parlamentarischen Demokratie hervorgebracht wird, oder jene, die ein ausdifferenzierter Rechtsstaat mit sich bringt. Eine Vereinfachung politischer und rechtlicher Prozesse darf niemals die Grundrechte in Frage stellen – damit würde das Ende der Demokratie eingeleitet. B. B.-K.
„Das Menschsein darf einem Menschen nicht abgesprochen werden, ohne Ausnahme, nie.” (Georg M. Oswald in 94 , S. 27)
„Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit endet dort, wo es Rechte anderer verletzt, gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen das Sittengesetz verstößt.” (Georg M. Oswald in 94 , S. 36)
Grundrecht
94 Oswald, Georg M.: Unsere Grundrechte. Welche wir haben, was sie bedeuten und wie wir sie schützen. München: Piper, 2018. 200 S., € 20,- [D], 20,60 [A]